Otto Dov Kulka - Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft/Landscapes of the Metropolis of Death: Reflections on Memory and Imagination

  • Original der ersten Buchveröfentlichung in dieser Zusmmenstellung : Landscapes of the Metropolis of Death: Reflections on Memory and Imagination (2013)


    Original für verschiedene einzelne Teile des Buches : Hebräisch, 1984, 2009, 2013


    Übersetzung ins Deutsche : Inka Arroyo Antezana, Anne Birkenhauer, Noa Mkayton

    INHALT :

    Die einzigartigen Betrachtungen eines Mannes über die wiederkehrenden Erinnerungen an seine Kindheit in Auschwitz


    Die Metropole des Todes, das ist Auschwitz-Birkenau. Als Kind wird Otto Dov Kulka zusammen mit seiner Mutter erst in das Ghetto Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert. Er überlebt die zweimalige Liquidierung des sogenannten Familienlagers und verlässt Auschwitz schließlich im Januar 1945 auf einem Todesmarsch. Lange Zeit hat er über seine Erlebnisse geschwiegen, sich als Historiker allein streng wissenschaftlich mit dem Mord an den Juden befasst. In diesem außergewöhnlichen Text erkundet Kulka nun die Fragmente seiner Erinnerung an Auschwitz, die wiederkehrenden Träume und Bilder, die sein Leben begleiten und unauslöschlich prägen. Eine beeindruckende literarische Reflexion, die unsere Wahrnehmung der Vergangenheit verändert.
    (Quelle : Kurzbeschreibung bei amazon.de)


    GLIEDERUNG :
    Im Groben gibt es drei Einheiten relativ kurzer Texte (unglaublich, dass dieses Buch gerade mal 175 Seiten ohne die Anmerkungen und Photonachweise ausmacht und so nachhaltig aussagekräftig ist) :
    I Landschaften der Metropole des Todes – verschriftlichte Tonbandaufnahmen zwischen 1991 und 2001
    II Drei Kapitel aus den Tagebüchern
    III Aufsatz über das « Ghetto im Vernichtungslager – Jüdische Sozialgeschichte zur Zeit des Holocaust und ihre Grenzen »


    BEMERKUNGEN :
    Der Titel und Untertitel des Buches ist schon sehr aussagestark und gibt einen Eindruck vom Inhalt. Es handelt sich weder um ein reines Erinnerungsbuch als um einen chronologischen Bericht, es ist weder Autobiographie und natürlich erst recht nicht ein Roman. Jedwede Klassifizierung scheint mir unangebracht oder zumindest schwer. Es sind « Betrachtungen, Überlegungen zu Erinnerung und Vorstellung » angesichts einer persönlichen Erfahrung als Kind in Auschwitz.


    Im Rahmen eines Besuches in Polen, 1978, kehrt Dov Kulka bei einem Freiraum nach Auschwitz-Birkenau zurück, wo er als Kind gewesen war. Einem Ort, wo er « damals und bis zum heutigen Tag gleichsam wohnte und immer geblieben (war) », wie ein lebenslänglich Gefangener, in Ketten geschlagen, die sich nicht lösen lassen. Bilder, Erinnerungen, Assoziationen, Träume verselbständigen sich und werden hier offen ausgesprochen.


    Und wie und was er beschreibt ähnelt in nichts Vergleichbarem, was ich über die KZ und Lagererfahrung gelesen habe. Bezeichnend, dass er, der Historiker der « Judenfrage in Deutschland », nie selber die einschlägige Lagerliteratur gelesen, die bekannten großen filmischen Dokumentare angesehen hat. So schreibt er gleichzeitig als Betroffener und doch ganz unberührt von irgendwelchen Vorgaben (wie mir scheint).


    So ist er fähig, fast Unhörbares auszusprechen, erzählt von einer Zeit, in der es mitten in den besonderen Umständen des Familienlagers und der umgebenden Schrecken improvisierte Schulen, kulturelle Verantsaltungen gab, von denen er sagt, dass er nie etwas ähnlich Kreatives im weiteren Leben erfahren hat.


    Diese seine « Erforschung des Gedächtnisses » ist keine Niederschrift von Erinnerungen (allein) von Gewalt, Grausamkeit, Folter, individuellem Mord, sondern Betrachtungen. Ein jeder baut sich wohl eine Welt der Assoziationen auf, er nennt es die « persönliche Mythologie ». So verbindet er immer wieder Auschwitz mit diesem kreiselnden Begriff des « unabänderlichen Gesetzes des Todes » : man lebte unter der Gewissheit der Unmöglichkeit eines Entrinnens, unter dem Konstrukt einer selbst diesem Ort innewohnenden « Gerechtigkeit » (die sich wohl der Geist erschafft um eine Überlegungsstrategie zu entwickeln?!). Jene erinnerte dann an die absurde Form der Gerechtigkeit, wie sie Kafka in seiner Erzählung von der « Strafkolonie » schildert. Es ist ein absurdes, autonomes System, völlig entfremdet von jeglichem Gefühl des Mitleids, der Abscheu oder Grausamkeit.


    Eine ungeheuerliche Mischung zwischen absoluter Entfremdung UND gleichzeitig absurdester Beheimatung sogar inmitten dieses Grauens. Ideen von Rache und Vergeltung. Den Atem hält man an, wenn er nach all diesen konzentrierten, teils auch Themen wiederaufnehmenden, kreisenden Betrachtungen dann eine Erfahrung vom Rande der Gaskammer und Verbrennungsöfen schildert. Man mag es kaum wiedergeben und hält den Atem an, wenn er, der Jude und Betroffene, etwas zur Frage der Anwesenheit (oder Abwesenheit) Gottes sagt.


    Über dieses kurze und doch unendlich lange, konzentrierte Büchlein könnte man stundenlang schreiben (ich las es trotz seiner Kürze wohl über drei Monate hinweg...). Wie gesagt habe ich nichts Vergleichbares gelesen (trotz so mancher Bücher zu diesem Thema). Ich kann die Reflexionen und Betrachtungen von Otto Dov Kulka nur jedem nahelegen, der sich im Gedenken, in der Betrachtung und einer Erinnerungsarbeit der Schrecken der Vernichtungslager annähern will.


    Es scheint mir unangebracht, diesem Buch « Sternchen » zuzuordnen.


    AUTOR :
    Otto Dov Kulka, Ôṭô Dov Qûlqā, (* 16. April 1933 in Nový Hrozenkov, Tschechoslowakei) ist ein israelischer, ursprünglich deutschsprachiger Historiker.


    Der Sohn von Erich Kulka wurde mit seiner Mutter in das deutsche Ghetto Theresienstadt und im September 1943 von dort weiter ins Theresienstädter Familienlager des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er im Kinderblock von Fredy Hirsch betreut wurde. Seine zu diesem Zeitpunkt schwangere Mutter wurde dort von ihm getrennt. Sie gebar im KZ Stutthof einen Säugling, der dort umgebracht wurde. Sie konnte fliehen und starb im Versteck. Kulka, wie auch sein Vater, überstanden Selektionen, die Zwangsarbeit und auch den Todesmarsch aus Auschwitz im Januar 1945.


    Seit 1949 lebt Kulka in Israel. 1964 sagte er im ersten Frankfurter Auschwitzprozess als jüngster Zeuge aus. Zu seinem Überleben gab er dort am 30. Juli 1964 zu Protokoll: „Ich war damals nur 11 Jahre und 3 Monate alt. Trotzdem habe ich mich in die Reihe der Arbeitsfähigen mit eingeschlichen. Es wurden damals Selektionen durchgeführt; wir wußten ja, was es bedeutet.“ Er begegnete am Frankfurter Flughafen noch einmal dem KZ-Arzt Franz Lucas.


    Nach einem Geschichtsstudium in Jerusalem und Frankfurt wurde er 1976 mit einer Arbeit über die so genannte Judenfrage im Nazideutschland an der Universität Jerusalem promoviert.


    Der seit 1999 emeritierte Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem hat zeitlebens über die NS-Geschichte und den Völkermord an den Juden geforscht und publiziert. Er ist wissenschaftlicher Berater des „The Felix Posen Bibliographic Project on Antisemitism” in Jerusalem. Er gibt mit anderen die Reihe Yad Vashem Studies heraus und ist seit 1997 Mitglied im Executive Board von Yad Vashem und seit 1998 in gleicher Funktion im Leo Baeck Institut.


    Für sein autobiographisches Werk Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft erhielt Kulka 2013 den Geschwister-Scholl-Preis.


    Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
    Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt; Auflage: 2 (11. März 2013)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3421045933
    ISBN-13: 978-3421045935

  • Originaltitel: Landscapes of the Metropolis of Death: Reflections on Memory and Imagination für DIESE Buchzusammenstellung. Siehe: http://www.amazon.co.uk/Landsc…/ref=pd_rhf_gw_p_t_1_QJ6R


    Paperback: 144 pages
    Publisher: Penguin (27 Feb 2014)
    Language: English
    ISBN-10: 071819702X
    ISBN-13: 978-0718197025

  • Ich kann mich tom leos guter Rezension nur noch anschließen und mag meinen Eindruck dazu ergänzen.


    Ich habe mittlerweile schon sehr viele Bücher über diese Zeit gelesen, aber noch nie etwas wirklich vergleichbares auch in meinen Augen. Im Gegensatz zu tom leo habe ich das Buch an einem Stück gelesen und ich kann sagen, es ging mir richtig unter die Haut. Was heißt schon viele Bücher über eine Zeit lesen. Viele Details gehen einem verloren, manches verdrängt man einfach, weil es so unglaublich ist, dass der menschliche Geist es einfach nicht (er)fassen kann.
    Unfassbar, dass es ein Familienlager in Ausschwitz gab und der Grund war einfach, dass man dem Internationalen Roten Kreuzes eine dicke Lüge aufgetischt hatte, die auch noch geschluckt wurde und damit das Todesturteil für ein ganzes Lager, bis auf die noch arbeitsfähigen bewirkte. Einfach nur grausam, unfassbar. Ehrlich, mir fehlen die Worte um das auszudrücken, was mir bei dem Buch von Kulka klar wurde, was mir durch den Kopf ging.


    Ich kann noch nicht mal Kulkas Schreibweise beschreiben. Es wirkt zum einen distanziert (durch den Historiker in ihm?) und zum anderen wird einem schlagartig klar, dass das nur die äußere Hülle ist. Das es viel tiefer geht. Er lässt einem durch diese Landschaften der Metropole des Todes gehen, lässt einem durch seine Augen sehen. Keine leichte Lektüre, mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal wo ich das Buch gelesen habe, denn das ist ein Buch, das man mehrmals lesen muss um halbwegs zu erfassen. Alleine schon bedingt durch die intelligente, ja ich mag fast sagen poetische (mir fällt es schwer poetisch mit dem Inhalt des Buches in einen Topf zu werfen, aber es ist wirklich so) Schreibweise Kulkas.


    Jene erinnerte dann an die absurde Form der Gerechtigkeit, wie sie Kafka in seiner Erzählung von der « Strafkolonie » schildert.


    Nach der Lektüre von "Landschaften der Metropole des Todes" habe ich zu meiner Gesamtausgabe von Kafka gegriffen und die Erzählung "Strafkolonie" gelesen. Ziemlich verstörend im Gesamteindruck.


    Und doch gibt es so ein Hauch von Hoffnung von Menschlichkeit. Eines der Zerstreuungen im Krankenbau war es Ideen zu sammeln für "die Lösung der deutschen Frage". Die vorgeschlagenen Lösungen waren vielfältig. Aber keine war im Grunde so grausam, wie die der "Frage der Endlösung der Juden". In diesem Zusammenhang stellt der Autor drei Gedichte einer namenlosen jungen Frau vor, die sie -kurz bevor sie in die Gaskammern eintreten musste - einem Kapo in die Hand drückte, der sie am nächsten Tag dem Vater des Autors übergab. Alle drei Gedichte werden in dem Buch im Kapitel "Drei Gedichte an der Schwelle der Gaskammer" vorgestellt. Warum ich dieses Kapitel erwähne? Weil es mir den Atem genommen hatte. Im ersten Gedicht "Wir, die Toten klagen an!" evoziert eine endlose Kolonne der Toten und ihren Wunsch nach Gerechtigkeit, die buchstäblich auf die gesamte Menschheit geschleudert wird. Das zweite Gedicht "Elegie" enthält die Totenklage um ein ganzes Zeitalter, um das sinnlose Massentöten zweier Weltkriege.
    Und das dritte Gedicht "Lieber sterb ich" hat mich umgehauen. Die Dichterin hätte alles Recht der Welt dazu um Rache zu schreien, aber sie entscheidet sich für etwas anderes. Ihr geht es nicht darum gleiches mit gleichem zu vergelten, sondern den Weg der Gewalt zurückzuweisen. Ich weiß nicht ob ich es richtig sehe, für mich ist es ein Aufruf zur Zivilcourage. Ein Aufruf für uns alle. Um meinen Gedanken zu den Gedichten wenigstens halbwegs ausdrücken zu können, habe ich mir streckenweise Kulka zu Hilfe genommen.


    Eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass ich noch so viel mehr schreiben könnte und man kann fast nicht aufhören und ich verstehe jetzt nach meiner Lektüre tom leos Worte, wenn er schreibt, dass sich noch so vieles dazu sagen ließe.


    Ich möchte mich tom leos Entscheidung, nach langem Überlegen, anschließen diesem Buch keine Sterne zuzuordnen, weil es wirklich einfach nur unangebracht wäre.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024


  • Aus dem Hebräischen übersetzt von Inka Arroyo Antezana sowie Anne Birkenhauer und Noa Mkayton


    1978, während eines internationalen Kongresses in Polen, fuhr Otto Dov Kulka nach Auschwitz. Er flog nach Krakau und von dort weiter mit einem Taxi. Und während der Taxifahrer erzählt und erzählt, reagiert er nicht mehr auf seine Worte und beginnt sich zu erinnern:


    "Ich nehme nicht mehr auf, was er sagt. Ich nehme vielmehr diesen Weg auf. Spüre plötzlich, dass ich an diesen Orten schon einmal gewesen bin. Ich kenne die Schilder, diese Häuser.
    Obwohl es eine andere Landschaft gewesen war, eine nächtliche Winterlandschaft, vor allem in der ersten Nacht, aber dann auch eine Landschaft bei Tag, und ich verstand etwas, worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: dass ich in der Gegenrichtung auf jener Straße fuhr, auf der man uns am 18. Januar 1945 und in darauffolgenden Tagen hinausgeführt hatte, hinaus aus diesem unheimlichen Getriebe, aus dem, da war ich mir sicher, da waren wir uns alle sicher, es kein Entrinnen gab."

    Auf diese Straße hinaus führte der, wie man es später nannte, Todesmarsch. Am eindrücklichsten bleibt ihm die nächtliche Farbe in Erinnerung, dann schwarze Flecken, die im blendenden Weiß des Schnees liegen. Bis er begreift, dass es menschliche Leichen waren, die seinen Weg säumten.

    Wir erfahren bruchstückhaft, wie es in Auschwitz zuging. Eine Stelle blieb mir besonders im Gedächtnis: Das Hervorheben der Ängste, die die Menschen erlitten haben, die auf die Gasbaracken zugehen mussten und die genau wussten, was sie dort erwartet.


    Es ist kein Erinnerungsbuch. Der Autor hat Jahrzehnte keines der Art, wie wir sie kennen, geschrieben. Es sind vielmehr die Empfindungen eines zehnjährigen Jungen, der er damals war. Der es geschafft hat, zu überleben. Er schrieb es in einer fast poetischen Sprache.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 84 von 80 - geschafft :)