Leonie Ossowski - Herrn Rudolfs Vermächtnis

  • Kurzbeschreibung von Amazon:
    Leonie Ossowski erzählt eine Geschichte, die auf einem authentischen Fall beruht, die Geschichte eines "Kinderkreuzzugs", eines Flüchtlingsdramas im ostpreußischen Kriegswinter 1944. Sechs Waisenkinder sind unterwegs durch das verwüstete Land, begraben ihre Toten, kämpfen - auch gegeneinander - um jeden Kanten Brot, führen einen regelrechten Kinderkrieg. Wird er versöhnlich enden, wenn die Schrecken der Flucht vorbei sind? Werden die Beteiligten die Ängste ihrer Kindheit, den Haß und die Schuldzuweisungen je im Leben vergessen können?


    Leonie Ossowski wurde 1925 in Niederschlesien geboren. Als Dreißjährige begann sie ihre schriftstellerische Karriere mit zwei Filmdrehbüchern. Seitdem hat sie eine große Anzahl von Drehbüchern für Film und Fernsehen, Theaterstücke und Romane geschrieben. Sie engagierte sich als ehrenamtliche Bewährungshelferin, betreute eine Jugendgruppe im Gefängnis und war Mitbegründerin einer Wohngemeinschaft für strafentlassene Jugendliche. Ihre Arbeit wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet: u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis, dem Buxtehuder Bullen und dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. seit 1980 lebt Leonie Ossowski in Berlin.



    Ich finde der Klappentext fasst den Inhalt des Buches nicht wirklich treffend zusammen, es geht nämlich weniger um die Zeit des Krieges als vielmehr darum, wie die verschiedenen Geschwister heute in der Gegenwart leben, wie sie die damaligen schrecklichen Ereignisse verarbeitet haben und mit welchen Schuldzuweisungen jeder einzelne die anderen Geschwister von sich abgrenzt...bis sie durch das Testament des Herrn Rudolf zu einer widerwilligen Zusammenkunft gezwungen werden...


    Fand ich sehr gut geschrieben, ziemlich schonungslos aber stets realistisch und objektiv, und auch nicht unnötig brutal, wie einige andere Kriegserzählungen.



    LG schnakchen

  • Da ich, wie schnakchen, ebenfalls der Meinung bin, dass die Kurzbeschreibung bei Amazon dem Buch nicht gerecht wird, von daher, hier nochmals eine Zusammenfassung, die ich dem Klappentext entnommen habe.


    Dieser auf einem authentischen Fall beruhende Roman ist die Geschichte des >Kinderkreuzzugs<, wie es ihn vielfach gegeben hat, damals im Kriegswinter 1944 in Ostpreussen, ein Flüchtlingsdrama.
    Sechs Waisenkinder hungern sich allein durch das verwüstete Land am Haff, begraben ihre Toten, frieren und ängstigen sich. Und sie kämpfen, jeder um einen Kanten Brot, die vier Geschwister Lotte, Ute, Kurt und Stefan, und die beiden Vettern Thomas und Karli, Waisenkinder, die von der Mutter in die hungernde Familie aufgenommen wurden, bevor sie selbst am Hunger starb. Vor allem gegen diese Eindringlinge, zwei Esser mehr, richtet sich der Überlebenskampf der Geschwister. Ein Kinderkrieg beginnt.
    Wird er versöhnlich enden, nachdem die Schrecken vorbei und die fünf Geschwister bei Verwandten im Westen gut aufgehoben sind?
    Werden sie Ängste und Not ihrer Kindheit, die Schuldzuweisungen und den Hass vergessen?
    Diese Lebensläufe vor allem interessieren Leonie Ossowski, die in ihren Romanen stets das menschliche Schicksal hinter dem realen Geschehen zu ergründen sucht. Und so erzählt sie das Fluchtdrama mosaikartig im Rückblick der Erwachsenen aus der Sicht ihrer subjektiven Erlebniswelt. Abgründe tun sich auf, Schweigen und Abschottung.
    Und immer noch ist da der Hass auf Thomas, den Bastard, den Unglücklichsten von allen, der ausgerechnet vom reichen Onkel Rudolf adoptiert wurde. Als Rudolf ans Sterben geht, beschäftigt ihn nicht mehr der Tod, sondern das Leben.
    Sein Testament ist ein Versöhnungsangebot. Ob seine Rechnung aufgehen wird, nach fünfzig Jahren mit seinen Millionen Frieden zu stiften, den niemand will?
    Nicht unbedingt ein Roman zum Lachen, auch wenn die Phantasie der Autorin immer wieder komische und skurrile Szenen einzustreuen weiss, aber einer zum Niederlassen in der reichen Erzähllandschaft von fünf Lebensgeschichten, die auf unterschiedliche Weise geprägt sind vom Grauen der gemeinsamen Kindheit.
    Ein Hauch von Verlorenheit liegt über diesem Roman von Leonie Ossowski, der grossen Geschichtenerzählerin, aber auch von Sehnsucht und Vergessen.


    Vorab, mir hat dieses Buch ausnehmend gut gefallen! :thumleft:
    Der gründlich recherchierte Roman geht auf Erzählungen von fünf Menschen zurück, die die Flucht aus Ostpreussen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren erlebt haben.
    Aus Sicht der Kinder von damals, als auch aus der Sicht der heutigen Erwachsenen erzählt Leonie Ossowski diese fesselnde, authentische Geschichte. Gekonnt wechselt sie die Perspektiven, alle fünf haben die schrecklichen Geschehnisse nicht vergessen können, alle fünf kommen zu Wort, und erzählen die unterschiedlichen Sichtweisen eines gemeinsamen Lebensabschnitts.
    Eine beklemmende Geschichte, die aber warmherzig erzählt wird, und mir wieder einmal vor Augen geführt hat, was der Krieg, auch heute noch, mit Kindern anrichtet, dass es Wunden gibt, die nie verheilen.
    Ein, trotz des traurigen Themas, sehr schönes Buch, dem ich gerne *****Sterne gebe.


    Gruss Bonprix ;)


    Informationen zur Autorin findet ihr *HIER*...

  • Historischer Hintergrund

    Wolfskinder wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs Kinder genannt, die sich auf der Flucht aus Ostpreußen allein durchschlagen mussten, nachdem ihre Mütter gestorben oder von ihnen getrennt worden waren. Über die Ereignisse während des Vormarschs der Roten Armee auf dem Weg nach Westen wurde jahrzentelang geschwiegen. Die Überlebenden fühlten sich verpflichtet, erleichtert zu sein, dass sie selbst wenigstens überlebt hatten. Erst nach der Jahrtausenwende gelangte in Deutschland durch eine Reihe von Büchern aus der Feder der Kinder dieser bis dahin vergessenen Generation ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, dass die Überlebenden die schrecklichen Ereignisse, die sie als Kinder auf der Flucht erleben mussten, im Alter nicht mehr länger verdrängen konnten.


    Inhalt

    Schon ehe das Thema Wolfskinder im Mittelpunkt von Fernsehdokumentationen stand, erzählte Leonie Ossowski bereits vom betagten Herrn Rudolf, der fünfzig Jahre nach der Flucht aus dem Osten durch ein raffiniert formuliertes Testament fünf dieser vergessenen Kinder wieder zusammen an einen Tisch bringen will. Es sind vier Geschwister und deren Cousin Thomas, Rudolfs Adoptivsohn. Während andere sich nicht scheuten, unter elternlosen Kinder gezielt nach einem kräftigen Jungen zu fragen, der im Betrieb mit anpackt, entschied sich Rudolf damals für den sensiblen Thomas, wohl weil er spürte, dass der Junge eine Familie nötiger brauchte als andere. Als Rudolf in den folgenden Jahren das Unternehmen seines Schwiegervaters aufbaute, wird er im Geheimen doch damit gehadert haben, dass Thomas keine Qualitäten als Nachfolger in der väterlichen Firma entwickelte. Nach Rudolfs Tod lässt sich nun nicht mehr verbergen, dass Thomas die traumatischen Erlebnisse im Winter 1944 nicht ohne therapeutische Hilfe verarbeiten kann. Jeder der vier in Deutschland gebliebenen Geschwister sieht sich als Opfer und hadert unversöhnlich mit der vermeintlichen Schuld der anderen am Tod der Mutter. Wären die anderen nicht dagewesen, wäre die Mutter sicher nicht verhungert. Die Älteren hatten sich bisher darauf versteift, dass Stefan, der als Fünfjähriger von einem Onkel in Kanada adoptiert wurde, es von ihnen allen am besten getroffen hätte. Stefan dagegen, der sich an seine ersten Lebensjahre nicht mehr erinnern kann, fühlt sich um seine Kindheit betrogen. Das gestehen sich die vier anderen nur widerwillig ein. Ute, Lotte und Kurt sind mit ihren fast 60 Jahren noch immer so stark von Ängsten und Zwängen gesteuert, dass selbst der gutwilligste Ehepartner mit ihnen an die Grenzen seiner Geduld gerät. Was damals auf der Flucht genau passierte, können die Geschwister nur gemeinsam aus ihren Erinnerungen wie ein Puzzle zusammenfügen.


    Fazit

    Leonie Ossowskis Romane sind so lebendig erzählt und bei aller Tragik voller skurriler Anekdoten, als hätte sie ihre Geschichten selbst erlebt oder sie zumindest von den Beteiligten erzählt bekommen. Die Geschichte des Herrn Rudolf soll auf realen Ereignissen beruhen. Der unversöhnliche Tunnelblick von Ossowksis Figuren, allein auf das konzentriert, was ihnen selbst widerfahren ist, verursacht beim Lesen eine Gänsehaut. Gewaltsame Todesfälle und Vergewaltigungen werden in "Herrn Rudolfs Vermächtnis" klar und drastisch geschildert. Die Autorin ordnet jeder ihrer Figuren eine klar abgegrenzte psychische Störung zu. Diese Zuschreibung von Krankheitsbildern behindert m. A. nach eigene Schlüsse der Leser aus dem Verlauf der Handlung. Dass eine Traumatisierung in der Kindheit im späteren Leben die Partnerschaft und das Übernehmen der Elternrolle belasten wird, wäre Ossowskis Lesern auch ohne die Übererklärung deutlich geworden. Leonie Ossowksi bearbeitet als eine von wenigen Autorinnen das Schicksal der Wolfskinder im Roman. Das ist ihr - mit der genannten Einschränkung - eindrucksvoll gelungen.


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