Fabrizio Gatti - Bilal / Bilal. Viaggiare, lavorare, morire da clandestini

  • Klappentext:
    Ein Reisebericht aus der Hölle Bilal ist ein Illegaler, unterwegs auf der berüchtigten Transitroute vom Senegal nach Libyen und weiter zur Insel Lampedusa. Bilal ist der renommierte Journalist Fabrizio Gatti, der sich als Migrant unter die anderen gemischt hat, um zu erleben, was sie erleben. Auf klapprigen Lastwagen durchqueren sie zu Hunderten die Sahara, unter unvorstellbaren Entbehrungen begeben sie sich auf einen Schreckensweg, der in Europa meist in einer Art von Sklaverei endet. (von der rororo-Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Fabrizio Gatti, Journalist beim "Corriere della Sera", inzwischen Chefreporter des "Espresso", hat unter falschem Namen bereits als illegaler Erntehelfer, in Obdachlosenquartieren, einer Strafanstalt sowie im Mafia- und Drogenmilieu gelebt und recherchiert. Dreimal wurde er während seiner Reportagen inhaftiert. 2007 erhielt Gatti den Europäischen Journalistenpreis; für "Bilal" wurde er mit dem Premio Terzani ausgezeichnet. (von der rororo-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Bilal. Viaggiare, lavorare, morire da clandestini
    Aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann und Rita Seuß
    Erstmals erschienen 2007 bei RCS Libri S. p. A. Milano
    Ich-Erzählung
    11 Kapitel auf 537 Seiten



    Statt einer Rezension nur ein paar persönliche Leseeindrücke:


    Der Klappentext erweckt den Eindruck, Gatti mache die ganze Route vom Südrand der Sahara bis nach Lampedusa in einer Tour. Das stimmt nicht. Er macht jeweils eine Teilstrecke, ein paar Monate / Jahre später die nächste.


    Ein nigerianischer Freund erzählte mir, in seinem Heimatland rechne man, dass nur etwa ein Drittel aller Flüchtling, die das Land verlassen, Europa erreicht. Zuerst konnte ich es nicht glauben; nachdem ich das Buch gelesen habe, halte ich die Zahl für zu hoch.


    Um sich die unendliche Größe der Sahara vorzustellen (Kilometerzahlen sind nur begrenzt im Hirn zu realisieren), muss man folgendes wissen: Der Flugstrecke von Frankfurt bis zu den nördlichen Ausläufern der Sahara dauert nicht so lang wie der Überflug über die Wüste.


    Würde nicht jemand, der beispielsweise eine Autofahrt vom Nordkap nach Neapel plant, sein Auto einem genauen Check unterziehen? Durch die Sahara fahren LKWs, die schrottreif sind mit 200, 300 Menschen auf der Ladenfläche inklusive Wasser- und Nahrungsvorräten, Koffern, Taschen, Hausrat, … Wer vom LKW fällt, wird in der Wüste zurückgelassen.


    Viele Flüchtlinge stranden an Orten in den südlichen Gefilden der Sahara, weil ihnen Geld, Ausweise und / oder Gepäck von Soldaten, Polizisten und korrupten Beamten abgenommen wurden. Sie bleiben oft dort, die „Glücklichen“ werden von den Reichen, die meist als Schleuser oder Schmuggler ihr Geld verdienen, als Sklaven gehalten. Die Anderen leben ohne Arbeit, Geld oder Unterkunft von einem Tag auf den anderen. Die meisten sterben nach kurzer Zeit.


    Man kann die Flüchtlinge in drei Gruppen aufteilen: Diejenigen, die es nach Europa schaffen, diejenigen, die irgendwo stranden und diejenigen, die in ihr Heimatland abgeschoben werden. Bei der letzten Gruppe kommt es mitunter wegen fehlender Papiere zu Verwechslungen, so dass sich ein Flüchtling in irgendeinem fremden Land wiederfindet ohne die Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen.


    Die Unterbringung in Lampedusa ist menschenunwürdig. (Über andere Auffanglager kann ich keine Angaben machen, weil Gatti nur in Lampedusa recherchierte.) Abgeschottet, ohne Chance, ihr Recht einzuklagen (bspw. auf einen Anruf, einen Anwalt, Kontakt zur Familie,…), grauenhafte hygienische Zustände, aggressive Carabinieri, … Fernsehen, Journalisten, Menschenrechtler und Politiker werden nur nach Terminabsprache ins Lager gelassen, wo Teilbereiche gesäubert und hergerichtet werden, um einen positiven Eindruck auf den Rest der Welt zu machen.


    Auf jeder Station drohen Folter, Gewalt und Tod. Jeder, vom kleinen Milizangehörigen an irgendeinem gottverlassenen Posten am Wüstenrand bis zu den Schleusern im großen Stil, versucht, sich an den Flüchtlingen zu bereichern. Obwohl Familien in Schwarzafrika oft alles zusammen legen, was sie besitzen und sich verschulden, damit einer von ihnen die gefährliche Reise antreten kann, ist das Risiko, dass dieses Geld ihm von irgendjemandem geraubt wird, größer als die Chance, damit sein Leben zu fristen.


    Männer, die verstümmelt werden, Frauen, die vergewaltigt werden, schwangere Frauen, die geprügelt werden, Babys, die man vom LKW wirft – es scheint keine Gewalt, keine Boshaftigkeit, keine Niedertracht zu geben, vor der man als Flüchtling gefeit ist.


    Ich würde das Buch gern jedem Politiker in die Hand drücken und ihn verpflichten, es zu lesen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Vielen Dank für deine Eindrücke, @Marie. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingssituation finde ich es besonders wichtig, so viele Eindrücke in die wahren Gegebenheiten wie möglich zu erhalten. Das Buch wandert sofort auf meine Wunschliste.

    „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.”
    Heinrich Heine
    "Nichts ist unmöglich, allein unserem beschränkten Geist erscheinen manche Dinge unbegreiflich."
    Marc Levy


    :study: in 2015: 18 Bücher, 6868 Seiten
    :study: in 2014: 2 Bücher, 771 Seiten 8-[
    :study: in 2013: 13 Bücher, 5079 Seiten
    :study: in 2012: 39 Bücher, 14318 Seiten
    :study: in 2011: 25 Bücher, 9255 Seiten

  • Herzlichen Dank @Marie für die Vorstellung dieses Buches. Fabrizio Gatti ist wohlbekannt in Italien und schreibt in seinem Blog "Undercover" regelmässig für die Zeitschrift L'Espresso, ein politisches, kulturelles Magazin welches sehr geschätzt wird für seine Veröffentlichungen.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter