Der erste Satz - Erfolgversprechend?

  • Vor kurzem erreichte mich die Mail des Autors Ralf Kurz, dessen Krimireihe um Kommissar Bussard ich sehr schätze, mit folgendem Inhalt:

    Zitat von Ralf Kurz

    Seit drei Wochen arbeite ich nebenbei als Dozent an der Volkshochschule in Freiburg. Mein Kurs heißt "Gewusst wie - Das Einmaleins des Romanschreibens". Nach den ersten Unterrichtseinheiten, die sich um die vorbereitenden Arbeiten für einen Roman drehten, folgte gestern das Kapitel "Der erste Satz - und was danach kommt". Im Rahmen dieser Unterrichtseinheit habe ich den Teilnehmern eine Liste mit 20 ersten Sätzen präsentiert, entlehnt aus 20 Romanen. Ich rief die Teilnehmer auf, sich auf der Grundlage der ersten Sätze für drei Romane, deren Autoren und Titel sie nicht kannten, zu entscheiden und abzustimmen. Nachdem das Ergebnis feststand, habe ich die Auflösung präsentiert. Unter den Top 5 war auch der Satz "Schon immer war mir roter Heringssalat ein Gräuel". Damit hat "Folgen einer Reifenpanne" Werke wie "Amerika" (Franz Kafka), "Ronja Räubertochter" (Astrid Lindgren), "Die Säulen der Erde" (Ken Follet) oder "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (Heinrich Böll) deutlich hinter sich gelassen. Herzlichen Glückwunsch!

    Diese Mail hat mir den Advent definitiv versüßt, schließlich handelt es sich dabei um meinen Roman :cheers:
    Als ich den Satz damals geschrieben habe, hätte ich nie gedacht, dass er so gut ankommt. Zwar hab ich schon häufiger in Rezensionen gelesen, dass der erste Satz zitiert wird, dennoch war ich mir der Wichtigkeit nie wirklich bewusst. Für mich stellen sie lediglich einen Einstieg in die Geschichte dar.
    Wie wichtig sind für euch die ersten Sätze?

    "deine beschreiebung alleine lässt vermuten, dass es sich um schmöckerroman einzigartiger klasse handelt, nämlich übertriebenem bullshid, der mit der wirklichkeit keinene hinreichenden effekt auf die wirklichkeit erstreckt." (Simon Stiegler)

    Stimmt! Ich schreibe spannende Unterhaltungsliteratur, die den Leser aus der Wirklichkeit entführt, bis zum Ende gelesen wird und bei der der Leser am Ende fragt: Wann erscheint der nächste Band? Schreiben will halt gelernt sein

  • Für mich als Leser ist der erste Satz jetzt nicht entscheidend für Lesen oder Nichtlesen eines Buches, aber ausßergewöhnliche Sätze bleiben einfach hängen und somit auch das Buch selbst. Klassische Beispiele sind für mich die ersten Sätze aus der "Turm-Saga" von King und aus "Eragon" von Paolini. Dein erster Satz hätte mich auf jeden Fall auch neugierig gemacht.

    Gelesen in 2024: 9 - Gehört in 2024: 6 - SUB: 626


    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Das glaub ich Dir gern, dass Dir diese Mail den Advent versüßt hat, @Divina :)


    Ich selbst gehöre allerdings auch zu den Lesern, die sich vom ersten Satz nicht leiten lassen. Ich lese im Buchladen mehr an als nur einen Satz, blättere durch mehrere Seiten und kann mich auch bewusst nicht erinnern, je ein Buch nur wegen dieses ersten Satzes gelesen zu haben. Aber ich kenn viele Rezensenten, die diesen Satz posten und hier gibt es ja auch den dazu passenden Thread - also scheint der erste Satz für viele andere Leser durchaus sehr wichtig zu sein.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Wenn ich einen mir unbekannten Roman anlese, um festzustellen, ob er mir an sich zusagt oder momentan als Lektüre gut wäre, gehöre ich auch zu denen, die sich eher Seite 99 vornehmen. Allerdings schaue ich mir erste Sätze schon gerne an: Ob mir hier ein Autor etwa nur imponieren will mit seinem ach so besonderen Anfang, oder ob sich vielleicht schon quasi in kondensierter Form ein erstes Herantasten ablesen lässt, eine erste Einführung in Figuren oder gar Handlung passiert. Der erste Satz ist schon was besonderes, wie ein erster Schatten der kommenden Ereignisse. Und ggf. kann man erste Rückschlüsse auf die Haltung und den Stil des Autoren ziehen.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Wie wichtig sind für euch die ersten Sätze?

    Zunächst: Gratuliere zu diesem tollen Ergebnis. :friends:


    Zu deiner Frage: Mir ist der erste Satz sehr wichtig. Er ist unter anderem der erste Faktor eines Buches, der darüber entscheidet, ob es mich "abholt" oder nicht. Dein erster Satz ist ungewöhnlich, aber ausgesprochen persönlich, was den Charakter angeht, der diesen Gedanken äußert. Er ist detailiert, was mich annehmen lässt, dass sich da jemand stark mit seinen Figuren auseinandergesetzt hat, was ich immer sehr an einer guten Geschichte schätze. Außerdem vermittelt mir der Satz den Eindruck, dass die Autorin Sinn für Humor hat. Dein Einstieg löste bei mir den Gedanken aus: "Das könnte witzig/unterhaltsam werden." Und positiv an eine Geschichte bzw. an ein Buch heranzugehen, kann ja nicht schaden. :loool:


    Lange Rede, kurzer Sinn: Der erste Satz spielt für mich schon eine sehr große Rolle.


    Edit: Mir fällt gerade auch ein, dass es sogar hier im BT einen Thread gibt, in dem die ersten Sätze eines Buches gern mal gepostet werden. :)


    ~ Was mich im Alltag auffängt, ist die Möglichkeit, mich einfach mal fallen lassen zu können. ~

  • mir ist der erste Satz auch nicht so furchtbar wichtig, ich mag es nur nicht so gerne wenn er richtig lang ist. Es gibt nur eine Ausnahme bei der ich auf den ersten Satz achte, wenn ich ein Moby Dick Buch in der Hand habe erwarte ich den Satz "Nennt mich Ismael", sonst schaue ich mir das gar nicht weiter an. [-(

    Auf Veränderung zu hoffen, ohne selbst etwas dafür zu tun, ist wie am Bahnhof zu stehen und auf ein Schiff zu warten. (Albert Einstein)

  • Meine Kaufentscheidung mache ich nicht vom Lesen des ersten Satzes abhängig, und vom dem scheinbar weit verbreiteten "Test" mit Seite 99 halte ich ebenfalls nicht viel. Mich muss der Klappentext / die Inhaltsangabe packen. Beim ersten Satz kann ich nicht das Gefühl haben, abgeholt zu werden, wie @Missy1988 so schön gesagt hat. Dass jemand dieses Gefühl haben kann, ist toll, nur für mich selbst reicht der erste Satz nicht. Vielleicht ist es ähnlich wie beim Kennenlernen von Menschen - Bruchstücke können mir einen ersten Eindruck verschaffen, aber genauso gut (ent-)täuschen und überraschen.


    Ich finde, man kann Bücher nicht auf die Formel eines ersten Satzes herunterbrechen - ich zumindest kann es nicht. Da würde ich dem Inhalt nicht gerecht werden, glaube ich, und mir würden wohl viele schöne Geschichten entgehen.

  • Beim ersten Satz kann ich nicht das Gefühl haben, abgeholt zu werden, wie @Missy1988 so schön gesagt hat.

    Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich sage nicht, dass er der einzige Faktor ist, sondern einer von mehreren. :wink: Offenbar ist das bei dir etwas anders angekommen, als ich es gemeint habe. Es wird garantiert auch Bücher mit einem wundervollen ersten Satz geben, die dann im Laufe der Zeit eher nicht mehr so prickelnd zu lesen sind. Genauso wird es den umgekehrten Fall geben. Ich habe nicht gesagt, dass ein toller erster Satz (was ja nun auch immer Geschmackssache ist) auch direkt eine super Geschichte nach sich ziehen muss. Ich schrieb lediglich, dass ein guter erster Satz mitunter dazu führt, dass ich positiv an ein Buch herangehe.


    ~ Was mich im Alltag auffängt, ist die Möglichkeit, mich einfach mal fallen lassen zu können. ~

  • Mir geht es um den Inhalt des Buches also ist der Klappentext oder der Text der Inhaltsangabe an der Seite des Buchumschlags wichtig, den man so um den Buchdeckel klappt (Ich hoffe, ihr wisst was ich meine.). Wenn das Thema mich interessiert, nehme ich mir dann das Buch vor. Natürlich muss mir der Schreibstil des Autors passen. Ich blättere und lese per Zufallsprinzip einzelne Abschnitte, Absätze. Danach entscheide ich.

  • Diese Mail hat mir den Advent definitiv versüßt, schließlich handelt es sich dabei um meinen Roman

    Glückwunsch. Obwohl ich roten Heringssalat liebe und mir der Einstieg daher schwer gefallen wäre.

    Wie wichtig sind für euch die ersten Sätze?

    Der erste Satz (oder besser gesagt: die ersten Sätze) sind für mich nicht kaufentscheidend. Sie verraten auch allein noch nicht, ob ein Buch lesenswert ist.
    Sie sind dennoch exorbitant wichtig. Sie entscheiden ob man sofort in das Buch eintauchen kann, vermitteln Stimmungen, können Spannung aufbauen, Protagonisten vorstellen usw. Ein erster (Ab)satz, der nichts davon tut, ist ein verschwendeter (Ab)satz. Der Satz mit dem Heringssalat mag seinem Gehalt nach banal sein, erfüllt aber gleich mehrere Funktionen (etwas sehr Spezifisches aufgreifen-Heringssalat; ein Gefühl transportieren - Abneigung; etwas über einen Protagonisten verraten - Futtervorlieben; in der Kombination kann man zusätzlich Humor vermuten) . Deswegen ist er ein guter erster Satz. "Der Himmel war blau" wäre ungewöhnlich schlecht, weil er etwas extrem Banales ausdrückt und sonst für nichts gut ist. "Das Blut war bis zur Dachrinne gespritzt, Kommissar X musste sich abwenden" funktioniert im richtigen Genre ebenfalls (Spannung, Charakterinfo, Gefühl ...). Es gibt für mich keinen perfekten ersten (Ab)satz. Entscheidend dabei ist nur, dass schon hier etwas geboten wird (und gähnende Langeweile taugt nicht als dieses etwas). Dass ich in meiner Antwort aus dem ersten Satz den ersten Absatz gemacht habe, hat natürlich seine Gründe. Auch "Er kniete." kann ein genialer Anfang sein, kann aber als erster Satz für sich allein nichts rausreißen und es wäre daher ungerecht, ihn isoliert bewerten zu wollen.