Andrea Camilleri - Die Pension Eva / La pensione Eva

  • Klappentext:
    «Pension Eva» - so heißt das Bordell in der sizilianischen Stadt Vigàta. Hier hat der junge Nenè schon viele Stunden verbracht. Aber nicht, um mit den Frauen zu schlafen, sondern um sich ihre Geschichten erzählen zu lassen. Denn sie lehren ihn, das Leben zu verstehen. Und es gibt viel zu lernen für einen Jungen Mann im kriegsgeplagten Sizilien der vierziger Jahre. (von der rororo-Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich inzwischen auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Im Kindler Verlag sind etliche seiner Werke erschienen, zuletzt „Mein Ein und Alles“ (2014). Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und lebt in Rom. (von der rororo-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: La Pensione Eva
    Erstmals erschienen 2008 bei Arnoldo Mondadori Editore SpA, Mailand
    Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn
    Anfangs aus der personalen Perspektive Nenès erzählt, später eher aus der eines unsichtbaren Beobachters mit einigen auktorialen Zügen
    174 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Ein halbwüchsiger Junge und seine erwachende Sexualität – das kann tragisch sein, komisch sein, am besten tragikomisch. So halt wie bei Camilleri.
    Von Nenès ersten Doktorspielen mit der Kusine bis zum ersten Geschlechtsverkehr erzählt Camilleri die Entwicklung des Jungen aus dessen Augen. Die Angst, kein richtiger Mann zu werden, weil der Bart erst spät sprießt. Oder dass „er“ zu klein ist. Oder dass das Hantieren an sich selbst (im katholischen Sizilien vor 60 Jahren) eine Todsünde ist. All die Ängste und die Zweifel, die immer noch Heranwachsende prägen, schildert Camilleri stets lächelnd und mit viel Situationskomik, aber nie verletzend und immer mit Verständnis.


    Doch leider verlässt er den Protagonisten. Nenè zieht wegen seines Schulbesuches nach Montelusa um, taucht erst wieder im letzten Kapitel auf. Warum greift ein routinierter Autor wie Camilleri zu dieser Wendung? Er weiß doch, dass ein Leser mit dem Abzug eines lieb gewonnenen Protagonisten in einem Roman den Halt verliert.
    Tatsächlich bricht der Spannungsbogen ab. Was folgt, sind kleine Anekdoten aus dem Bordell rund um die Figuren, die man bereits kennt, und eine Aneinanderreihung von Kriegshandlungen und Bombenabwürfen über Sizilien. Schlimm, das weiß man als Leser, aber leider liefert der Autor nicht die Person, an deren Seite man die Angst um Leben, Besitz und Familie mitempfindet.
    Es wirkt so, als hätte Camilleri eigentlich zwei Bücher entworfen und irgendwie zusammengebastelt.


    Ein Roman, dessen Ton nach „guter alter Zeit“ klingt. Wo ein Bordell eine rundherum fröhliche Angelegenheit war, und wo zu arbeiten sich jedes Mädchen wünschen würde. Die Schrullen der Madame sind erträglich, man kann Geld beiseite legen, hat wundersame, liebevolle und erotische Begegnungen mit tollen Männern, die das Vergnügen suchen und bekommen, das ihnen zusteht.


    Der Autor schreibt wunderbare Märchen (z.B. „Die Frau aus dem Meer“), originelle Krimis (Montalbano-Reihe), spritzige Geschichten aus Siziliens Historie (z.B. „Die Revolution des Mondes“), aber dieses Buch wirkt, als hätte er nicht gewusst, welches Genre er bedienen, wie er es aufbauen und was er dem Leser tatsächlich nahe bringen wollte. Zumindest weiß er dies, denn am Ende des Buches, in seinen Anmerkungen, sagt er selbst, sein Roman ließe sich nicht einordnen.


    Camilleri ist einfach ein Routinier der leicht ernsthaften Unterhaltung. Doch dieses Buch ist nicht sein größter Wurf, und der größte Fehler ist es, Nenè verschwinden zu lassen.
    Dennoch: In den ersten Kapiteln, in denen der Junge der Protagonist ist, habe ich mich erstklassig unterhalten, daher eine gute Bewertung.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Den Ort Vigata kennen wir aus den zahlreichen Kriminalromanen Andrea Camilleris mit seinem sympathischen und im ganzen Genre wohl einzigartigen Commissario Salvo Montalbano. Nun entführt uns Andrea Camilleri in diesem Roman "Die Pension Eva" zurück in die Zeit seiner eigenen Kindheit im faschistischen Sizilien. "Die Pension Eva ist nicht autobiographisch", schreibt er in einer kurzen Anmerkung am Ende des Buches, "auch wenn die Hauptfigur den Namen trägt, den ich früher bei meiner Familie und meinen Freunden hatte. Der historische Kontext ist authentisch, und die Pension Eva hat es wirklich gegeben."


    Nene ist ein etwa zehnjähriger Junge. Sein Vater arbeitet im Hafen von Vigata, und immer, wenn Nene ihn dort besucht, kommt er an einer dreistöckigen Villa vorbei, die über lange Zweit sein Interesse weckt. Niemals ist dort jemand genauer zu sehen, doch er hört oft kräftige und helle Frauenstimmen aus den Fenstern klingen. Immer wieder kommt Nene, neugierig geworden, an diesen faszinierenden Ort zurück und findet mit Hilfe seiner älteren Schulkameraden auch heraus, was sich hinter dem Haus verbirgt: ein Bordell.


    Camilleri beschreibt in diesem ersten Teil des Romans sehr feinfühlig und genau die erwachende Sexualität eines Jungen, sein beginnendes Interesse am weiblichen Körper und seinem eigenen Geschlechtsteil, er beschreibt genau, wie es in dieser Zeit, damals jedenfalls, unter den Jungen zuging, wenn sie darüber sprachen. Ich selbst kann mich gut daran erinnern, wie ich, etwa Mitte der sechziger Jahre, völlig unaufgeklärt, so wie Nene auf dem großelterlichen Speicher zu suchen begann und in einem dunklen Arztbuch mit den ersten Zeichnungen nackter Frauenkörper konfrontiert war. Ich kann auch noch nachspüren, mit welchen Gefühlen, die dort erwachten, diese Suche verbunden war.


    Camilleri kann es auch; und er erinnert sich auf eine Weise, die ich solidarisch nennen möchte, der erfahrene, alte Mann beschreibt mit viel Liebe und Nachsicht die erwachende Sexualität eines Jungen, der er selbst gewesen sein könnte.


    Etwas älter geworden, macht Nene bei seinem Klassenkameraden Matteo Mathematikhausaufgaben, und wird dort eines Tages von dessen Mutter, Signora Bianca verführt. Später stellt sich heraus, dass sie das früher oder später mit allen ansehnlichen jungen Burschen im Ort getan hat und dass sie es offenbar auf eine Weise tat, die ihnen nicht geschadet hat.


    Als irgendwann der Vater eines Freundes von Nene die Leitung der Pension Eva" übernimmt, dürfen die Jungen, die sich im übrigen prächtig verstehen, jeden Montag, dem Ruhetag des Bordells , dorthin kommen, und dürfen mit den Prostituierten essen, trinken und sich Geschichten erzählen lassen.


    Die Mädchen wechseln alle paar Wochen, die Jungen werden älter und bleiben. Der Krieg draußen schreitet voran, die ersten Bomben der gegen das faschistische Italien kämpfenden Alliierten fallen auf Sizilien, doch während all dieser von Camilleri detailliert geschilderten Zeit wird die Pension Eva besonders montags zu einem Ort voll lebendiger Phantasie, spannender Geschichten und bewegenden Lebensschicksalen. Als einer der Freunde sich in eines der Mädchen verliebt, will er sie unbedingt auslösen, und ein dramatischer Wettlauf beginnt ...


    Camilleri hat in diesem Buch in einem "erzählerischen Ausflug" gemacht, wie er das nennt, eine wunderbare Geschichte erzählt einer Jugend und der mit ihr erwachenden Sexualität. Er hat es eingebunden in einen historischen Abschnitt seiner Heimat, den er schon in anderen Büchern oft zum Thema gemacht hat.


    Ein sehr empfehlenswertes Buch.