Lilly Lindner - Winterwassertief

  • Inhalt (Amazon):


    Mit sechs wiederholt vergewaltigt, mit 13 an Magersucht erkrankt, mit 21 ausgerechnet in einem Bordell Zuflucht gesucht: Lilly Lindners wortgewaltige Autobiographie "Splitterfasernackt" nahm unzähligen Menschen den Atem. In "Winterwassertief" erzählt sie, was danach kam: Von der Schwierigkeit, mit ihrer nackten Geschichte plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen, von der Ambivalenz ihrer eigenen Gefühle – aber auch von den berührenden Begegnungen, die sie seit dem Erscheinen von "Splitterfasernackt" hatte: mit Menschen, die ähnliche Schicksale haben wie sie, die sich ihr anvertrauen und denen sie mit ihren Worten helfen konnte. Für Lilly Lindner wurde der Schritt in die Öffentlichkeit zur Zerreißprobe. Am Ende ist sie daran gewachsen und schöpft heute Kraft daraus, für andere da zu sein, zuzuhören und Mut zu machen.


    Die Autorin:


    Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. Viel Zeit verbringt sie heute mit der Arbeit mit Kindern. (Amazon)


    Lilly Lindner hat keine Ahnung von Teilchenphysik und bipolaren Zwischenströmungen. Sie weiß auch nicht, wie viel Wasser man in einen Teich kippen muss, um einen See zu erhalten; aber wie man Bücher schreibt - das weiß sie. (Facebook)


    Meine Meinung:


    Zitat

    Die zweite Frage, und ganz nebenbei bemerkt, die Lieblingsfrage aller Verleger, Wortvertreter und Pressewesen, lautete natürlich: "Warum hast du dieses Buch geschrieben?" (...)
    Und während all diese Verlagswesen mich angestarrt haben, als wüssten sie nicht, dass ich unsichtbar bin, habe ich gesagt:
    "Ich wollte ausdrücken, wie es sich anfühlt, abseits von seinem Körper in fremden Vorgärten zu stehen und zu beobachten, wie die Zeit davonrennt. Ich wollte von Schönheit schreiben, von Glück, von der lautesten Stille, von der hässlichsten Berührung. Ich wollte meine sanftmütigen Gefühle direkt neben meine eiskalte Ausdruckslosigkeit stellen, und erzählen, von einem Schmerz, der so groß ist, dass man ihn sich in die Haut schneiden muss, um zu begreifen, wie real er ist. Ich wollte erklären, was es bedeutet, sich Ana zu nennen, obwohl man ganz genau weiß, dass Magersucht kein passender Name für ein Dasein ist, eher für ein Wegsein. Ich wollte, dass jemand meine Worte liest und einen Moment lang verharrt, in diesem Bild, das ich von mir gezeichnet habe, auch wenn ich mich nicht sehen kann."
    Dann habe ich gar nichts mehr gesagt und mich stattdessen gefragt.
    Wie viel Liter Worte man braucht.
    Für fließende Literatur. (S. 20)


    Lillys Schreibstil ist ohnegleichen. Entweder man liebt ihn, oder man hasst ihn. Ich liebe ihn, schon seit ihrer allerersten Zeile. Deshalb habe ich alle ihre bisherigen Bücher gelesen. Und für mich war deshalb auch sofort klar, dass ich mir auch "Winterwassertief" kaufen würde.


    Lillys Autobiografie "Splitterfasernackt" ist vor über 3 Jahren erschienen. Dies ist eine Fortsetzung. Daher würde ich jedem empfehlen, der "Splitterfasernackt" noch nicht gelesen hat, dies nachzuholen, bevor man "Winterwassertief" liest, denn ansonsten wird man wohl vieles nicht verstehen.


    In "Winterwassertief" erzählt Lilly, wie sie ihren Verleger kennengelernt und einen Verlag gefunden hat. Sie beschreibt den langen Weg, bis ihre Autobiografie endlich erschien, wie verzweifelt sie manchmal war, wie schlecht es ihr ging, aber auch was ihr Hoffnung gab. Doch sie erzählt noch viel mehr. Zwischen den Kapiteln, die sich in der "Gegenwart" (also 2010 bis 2014) abspielen, finden sich immer wieder Kapitel, in denen sie Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend beschreibt. Manche handeln von ihrer Entführung mit 17, manche von ihrer Zeit im Bordell, und manche von irgendwo davor und dazwischen. Diese Szenen ergänzen die Geschehnisse, von denen man in "Splitterfasernackt" gelesen hat, auf eine sehr schmerzvolle Weise. Nach und nach ist mir vieles, was ich damals gelesen habe, klarer geworden - wie viel Gewalt, Schrecken und Schmerz sie wirklich erdulden musste. Sie beschreibt, wie sie sich selbst verletzt, wie sie sich bis zur Bewusstlosigkeit hungert, und ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen, weil ich durch ihre Worte ihren Schmerz und ihre Gründe verstehen konnte, und doch konnte ich nichts tun, als weiter zu lesen.


    Eine Stelle hat mich besonders mitgenommen. Sie beschreibt dort eine Szene von dem Wochenende, an dem sie mit 17 entführt wurde. Ich war auf dem Weg nach Hause und fing mitten in der überfüllten S-Bahn an zu weinen. Und das, was Lilly da beschreibt, ist so schrecklich, dass es mir nicht mal peinlich war.


    Trotz dieser so unglaublich traurigen Geschichte schafft es Lilly zwischendurch immer wieder, mich durch ihre Sprache zum Lächeln zu bringen:


    Zitat

    Und wenn sie dein Leben zusammenfassen, mit den Worten vergewaltigt, verwahrlost, verkauft, dann schreib zurück: "Vergewaltigt, verwahrlost, verkauft - dabei gibt es doch so viele andere schöne Worte mit V. Zum Beispiel Volkswagen oder Volvo. Ist ja schließlich eine Autobiografie." (S. 269)


    Zum Ende des Buches gibt es noch einige Kapitel, in denen sie von ihren Begegnungen mit Lesern und Leserinnen erzählt. Da ich selbst schon auf einigen ihrer Lesungen war, haben mir diese Kapitel ganz besonders gefallen. Es hat mich so berührt, als sie von den Menschen erzählt hat, die nach ihren Lesungen auf sie zugekommen sind und sich ihr anvertraut haben - wie viele schmerzende Seelen es da draußen gibt, von denen wir gar nichts ahnen. Das Buch hat mit viel Hoffnung geendet und in mir ein gutes Gefühl hinterlassen.


    Lilly steht in meinem Regal, genau wie in meinem Herzen. :love:


    Fazit:


    "Winterwassertief" ist eine Autobiografie. Man kann ein Leben nicht mit Sternen, Punkten oder sonst was bewerten. Daher möchte ich betonen, dass ich hier nicht Lillys Geschichte bewerte, sondern lediglich ihr Buch. Die Fragen, die ich mir gestellt habe, waren: Gefällt mir ihr Schreibstil? Kann ich dem Aufbau folgen? Kann mich ihr Buch fesseln? Kann es mich bewegen? Kommt das, was sie mir erzählen will, bei mir an? Werde ich mich an dieses Buch erinnern? Hat es sich gelohnt, dieses Buch zu lesen, auch wenn ich "Splitterfasernackt" schon kannte? Und kann ich auch, wenn die allerletzte Seite umgeblättert wurde, noch immer nicht genug bekommen?


    Auf all diese Fragen gibt es für mich nur eine Antwort.


    Volle :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: Sterne.

    Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen. Kurt Tucholsky :wink: