Nikolai Karamsin - Die arme Lisa

  • Der Inhalt dieser Erzählung ist recht einfach. Lisa, eine Bauerntochter, verliebt sich in den Adligen Erast. Nachdem sie sich ihm hingibt, werden ihre Treffen seltener, dann trennt er sich von ihr und Lisa setzt ihrem Leben ein Ende.


    Aus heutiger Sicht wirkt diese tragische Erzählung äußerst banal. Man sollte sich jedoch die Mühe machen, diese im zeitgeschichtlichen Kontext und unter Beachtung der russischen Gesellschaftsstrukturen zu betrachten. Dann wird deutlich, warum Nikolai Karamsin damit eine neue Epoche in der russischen Literatur einläutete. Erstmals brachte ein russischer Schriftsteller die Umgangssprache in die Literatur ein. Er rückt den Menschen mit seinen Gefühlen und seiner Widersprüchlichkeit in den Mittelpunkt und wirft gleichzeitig einen Blick auf das natürliche Umfeld seiner Personen.
    Sehr deutlich werden in dieser Erzählung die Unterschiede in der gesellschaftlichen Stellung zwischen Erast und Lisa. Der junge Adlige hat aufgrund seiner Herkunft alle Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. Dies ist dem Bauernmädchen Lisa nicht möglich. Als ihr dies schmerzlich bewusst wird, wählt sie den Freitod.
    Der Ich-Erzähler ermöglicht es dem Leser, einen Blick von außen auf die Handlung zu werfen, sich aber parallel dazu mit den Protagonisten zu identifizieren. Nie zuvor bekamen in der russischen Literatur Bauern, die gesellschaftlich weder Rang noch Namen hatten, es herrscht noch die Leibeigenschaft vor, eine Stimme. Allerdings ist Karamsin noch weit von Sozialkritik entfernt, er skizziert lediglich den gesellschaftlichen Ist-Zustand und zeigt auf, dass alle Menschen, egal ob von Adel oder einfache Bauern, die gleichen Gefühle haben. Damit ist er ein typischer Vertreter des Sentimentalismus und öffnet die Tür für die russische Literatur der Empfindsamkeit.



    Über den Autor (Quelle: Wikipedia.org(Auszüge))
    Am 12. Dezember 1766 wurde Karamsin als Sohn eines Gutsbesitzers in der Nähe von Simbirsk (Uljanowsk) geboren.
    1780-83 erlernte er im Moskauer Pensionat des Professors Schaden moderne Sprachen und Literaturen.
    Nach einem kurzen Zwischenspiel im Petersburger Garderegiment und der Rückkehr nach Simbirsk siedelte Karamsin nach Moskau über, wo er sich 1784-89 dem Kreis um den großen Aufklärer, Verleger und Schriftsteller Nikolai Iwanowitsch Nowikow anschloss. In der von Nowikow gegründeten Zeitschrift veröffentlichte er Übersetzungen, kleinere Gedichte und Erzählungen.
    1789-90 reiste Karamsin durch Europa. 1791-92 gab Karamsin die literarische Zeitschrift Moskovskii zhurnal heraus und veröffentlichte dort die auf der Europareise entstandenen Briefe und Tagebuchnotizen, bevor sie 1797-1801 in einer sechsbändigen Buchfassung als Briefe eines russischen Reisenden herauskamen. Im Moskauer Journal veröffentlichte Karamsin auch seine bekanntesten sentimentalistischen Erzählungen wie Die arme Lisa und Frol Silin.
    1793-1801 publizierte er eine Reihe literarischer Sammelbände eigener und fremder Werke: Aglaja, Meine Bagatellen, Die Äoniden, ein Pantheon russischer Autoren und ein Pantheon der ausländischen Literatur.
    1802-1803 leitete Karamsin die Redaktion des Westnik Jewropy (Bote Europas), der das erste Muster für die dicken russischen Literaturjournale wurde.
    Als Alexander I. ihn 1803 zum Reichshistoriographen ernannte, beendete Karamsin seine literarische Tätigkeit und widmete sich ganz der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte Russlands. Er starb am 3. Juni 1826 in Sankt Petersburg.

  • Vielen Dank, Karthause, für diese Vorstellung!


    Wie es sich so trifft lese ich gerade eine hervorragende Antholgie der russischen Poesie des XIX. Jahrhunderts, allerdings auf Französisch. Der Herausgeber, Einleitende etc ist Nikita Struve, unermüdlicher Handlanger russischer Kultur. Und gerade vor ein paar Tagen las ich erste Dinge von Karamsin. Erfuhr - Deine Äußerungen ergänzend - dass er wirklich unter die ersten Generationen richtiger Schriftsteller und Poeten befand. Das nahm ja erst relativ spät seinen Anfang. Karamsin hätte sich eben auch besonders als Poet hervorgetan, und auch als Übersetzer ausländischer Werke.

  • Tom


    Durch die Übersetzungsarbeiten und seine Europareise bekam er ja erst Kontakt zu westlichen Denkweise und Literatur. Dies schlug sich dann in seiner Arbeit nieder und somit bereitete er den Boden für die russische Literatur. Seinen sogenannten "neuen Stil" brachte später Puschkin zur vollen Blüte.