John Ajvide Lindquist - Im Verborgenen / Pappersväggar

  • Inhalt/Aufbau:
    Im Verborgenen enthält zehn Kurzgeschichten. Die Kürzeste füllt gerade einmal drei Seiten, die Längste ist mit über 120 Seiten schon so lang wie ein Roman von Andrea Maria Schenkel. Allen gemeinsam ist das unheimliche, das fantastische Element, mal eher zurückgenommen wie in Maijken, mal ganz explizit wie in Die Entsorgung oder Das Dorf auf der Anhöhe.


    Über den Autor:
    John Ajvide Lindquist, geboren 1968, ist aufgewachsen in Blackeberg, einem Vorort von Stockholm. Dort leben auch die Helden seines weltweit erfolgreichen Romansdebüts, So finster die Nacht, das für das internationale Kino verfilmt wurde. John Ajvide Lindquist begann seine Karriere als TV-Standup-Comedian und widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben von Thrillern mit Horrorelementen. Mit großem Erfolg. Er zählt zu den größten Talenten der schwedischen Literaturszene und wurde 2008 mit dem Selma-Lagerlöf-Preis ausgezeichnet.
    (Verlagsinfo)


    Meine Meinung:
    Eventuell ist dies nicht ganz die richtige Kategorie für diese zehn Kurzgeschichten. Unter Fantasy passen sie aber noch weniger und einfache Erzählungen sind es eben auch nicht, das unheimliche Element ist durchaus vorhanden. Es ist ein ruhiger, unterschwelliger Horror, der hier in den Alltag einbricht, nicht mit dem Holzhammer, sondern eher wie ein sanfter Nebel, einlullend manchmal, dafür am Ende umso heftiger.


    Als ich Im Verborgenen gelesen habe, musste ich an etwas denken, was jemand anderes in der Rezension zu Justin Cronins Der Übergang geschrieben hat, sinngemäß: Man merkt, dass der Autor seine Charaktere wirklich liebt. Diese Liebe spürt der Leser auch bei Lindquist. Er hat seine Charaktere wahrhaftig gern und lässt sie mit großer Freude lebendig werden. Das führt in einigen Fällen – Die Entsorgung, Majken – dazu, dass die Kurzgeschichten etwas ausufern und eher zu Kurzromanen werden. Doch die genauen Charakterisierungen, die ganzen kleinen Details, langweilen nicht eine Sekunde lang, sondern machen beim Lesen ungefähr so viel Spaß, wie Lindquist beim Schreiben gehabt haben muss.


    Inhaltlich und sprachlich unterscheiden sich die Geschichten stark. Ich werde nicht auf jede Einzelne eingehen, nur einige Beispiele: Das kurze, fast schon lyrische Dich zu Musik umarmen zu dürfen lässt zweifelsohne die meisten Interpretationen zu; wie Lindquist im Nachwort schreibt, scheint diese „Geschichte“, wenn man sie so nennen mag, außer ihm niemand wirklich zu mögen. Ich schließe mich da der Meinung der übrigen Leser an – lesenswert sind die paar Zeilen sicherlich, allein, was sie mir sagen sollen, hab ich noch nicht herausgefunden.


    Grenze ist die vielleicht schwedischste der Geschichten, erzählt im melancholischen Tonfall von Menschen, die sich fremd fühlen unter anderen; und dazu auch allen Grund haben. Trotz des eher versöhnlichen Endes empfand ich die Geschichte als zutiefst traurig und zu Tränen rührend. Bewegend ist auch Majken, eine Geschichte, die ein bekanntes filmisches Motiv so clever wie charmant variiert (mehr zu sagen wäre gespoilert) und sich mit einem würdigen Abschied aus dem Leben beschäftigt. Die Vertretung ist eine klassische, kleine Horrorstory, die Geschichte, die am meisten an Stephen King erinnert; ein Schüleralptraum zum Soundtrack von "The Wall".


    Die Entsorgung ist ein kleines sprachliches Juwel. Ich habe schon einige Stellen im Zitate-Thread herausgeschrieben und hätte noch viel mehr schreiben können. Die ganze Story ist voll von charmanten sprachlichen Manierismen und nimmt den Satz „Die Interpunktion folgt dem Atemrhythmus“ teilweise wörtlich. Überhaupt: Der Leser merkt, dass Lindquist aus der Standup-Comedy kommt, dass er Erfahrung mit gesprochenen Texten hat. Die Sprache in Die Entsorgung folgt einem zwingenden Rhythmus; Rhythmus ist zudem ein wesentliches Motiv der Geschichte. Leitmotiv und Sprache greifen perfekt ineinander – so etwas gefällt mir, so etwas möchte ich lesen. Auf inhaltlicher Ebene bin ich nicht ganz sicher, ob man zuvor Lindquists Roman So ruhet in Frieden gelesen haben muss, zu dem Die Entsorgung eine Art alternatives Ende darstellen soll; ich habe ihn nicht gelesen und ein wenig das Gefühl, dass mir ein paar Puzzlestücke fehlten. Noch dazu ist mir das Ende zu abgehoben, das kann ich nicht mehr glauben. Wenn ich es nicht glauben kann, grusel ich mich nicht.


    Meine Lieblingsgeschichte ist Äquinoktium (das heißt Tag-und-Nacht-Gleiche und hat [fast] nichts mit dem Inhalt zu tun). Die Geschichte beginnt so absurd wie witzig und wird dann, ganz langsam und schleichend, so richtig böse. Keine Monster, nichts allzu Übersinnliches, durch und durch weltlich – Horror, wie ich ihn mag.

    Fazit
    :
    Kein Hau-drauf-Horror mit großen Schockeffekten, mehr Melancholie als handfester Grusel, teilweise sehr konventionell, teilweise aber auch ganz außergewöhnlich. Da mich Majken, Grenze und Äquinoktium inhaltlich und Die Entsorgung sprachlich so begeistert haben, gibt es ganze :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Sterne.