Andrzej Stasiuk – Die Mauern von Hebron/Mury Hebronu

  • Original : Mury Hebronu (Polnisch, 1992)
    Deutsche Übersetzung : Olaf Kühl, 2003


    INHALT :
    "Aus Langeweile kaufte ich mir ein Heft und einen Kugelschreiber, setzte mich eines Abends hin und schrieb, wie mir Opa Jarema geraten hatte, ein Buch über das Gefängnis. Zwei Wochen habe ich gebraucht. So lange wie die Arbeit in der Zuckerfabrik. Ich hatte keine Ahnung, daß es so leicht ist, ein Buch zu schreiben."


    Stasiuks legendäres Debüt, seit 1992 in Polen immer wieder aufgelegt, verstört und fasziniert die Leser bis heute. Die gewalttätige Realität des Gefängnisalltags verlangt dem Autor jene Kraft zur poetischen Überschreitung ab, für die sein späteres Werk bewundert wird. In keinem anderen Text Stasiuks ist der Blick auf die Wirklichkeit so schamlos und gnadenlos. Dem Untergrundverleger war das "Buch eine Spur zu knastig für diese Zeiten". Heute bildet es das Fundament seines Werkes. Denn die rauschhafte Schönheit des Lichts und der Landschaft in der Welt hinter Dukla hätte sich ohne die existentielle Schwärze der Mauern von Hebron womöglich nie gezeigt.
    (Quelle : Suhrkamp)


    GLIEDERUNG :
    Man könnte die zwölf Kapitel in vier Einheiten untergliedern :
    Zwei Rahmentexte von 6 – 10 Seiten am Anfang und Ende von, so wohl die naheliegendste Erklärung, der unmittelbaren Erfahrung von Einzelhaft des Autors selber. Davon ist der eingehende Text in der Ich-Form geschrieben, der ausgehende in der Er-Form, dennoch ziemlich klar von derselben Person sprechend (Stasiuk) : Was « hat/ist » der Gefangene in dieser absoluten Einschränkung noch ? Was bleibt ? Wie könnte man in irgendeiner Hinsicht eine rettende Ordnung sich einrichten, eine « Mauer von Hebron », Schutzschild ? Wie driftet man von der Realität in die Phantasien und Unkontrollierbarkeit ab ?...
    Neun zweiseitige « Kapitelchen » eines auktorialen Erzählers mit Einblicken in das Leben eher von gemeinsam Inhaftierten : Gewalt von Mithäftlingen und Wächtern, Mißbrauch, Dreck, Selbstbefriedigung, Boxkämpfe... prägen das Bild
    Eine sehr lange, die Nacht über gehaltene, Erzählung von 115 (von 160!) Seiten in der Ich-Form eines erfahrenen Knastbruders an den « Alten » (Stasiuk?) : Lebenslauf und Erfahrungen eines Lebens zwischen Freiheit und Knast, die immer mehr ineinander überlaufen. Nach dem Motto : Wie ich hier landete, was mich prägte... Oben erwähnte Elemente von Gewalt, Maßlosigkeit, Sex etc... stehen auch hier stark im Vordergrund.


    BEMERKUNGEN :
    Hier und da findet man ganz leicht auseinandergehende Angaben über den genauen Zeitpunkt und die genauen Gründe, doch es ist klar – auch beim Lesen des Buches – dass Stasiuk selber also inhaftiert gewesen ist: Er wurde, so eine Version, 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte eine anderthalbjährige Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen.


    Wer nun hier eine in irgendeiner Weise beschönigende, versöhnende oder gar romantische Beschreibung von Hafterfahrung erwartet sei sofort gewarnt. Es handelt sich um einen knallharten Text, der bis ans Äußerste des Erträglichen geht, oder für viele gar sicherlich darüber hinaus. Und ich kann ihn nicht gemeinhin empfehlen, vor allem nicht für sensible Herzen.


    Die Sprache ist direkt, gibt, insbesondere in der längeren Erzählung, den Knastslang wieder. Was bei irgendwelchen Berichten über unmenschliche Haftbedingungen oder Härteerfahrungen bei amnesty oder sonstwo in einigen neutralen Worten, eventuell Fremdwörtern, erklärt wird und eigentlich vielen für manche Gefängnisse klar sein sollte oder ist, findet hier einen teils obszönen Ausdruck, der vor keinerlei Beschreibungen zurückschreckt. Allerdings : so drastisch diese Sprache ist, muss man Stasiuk eingestehen, dass er sie aus dem eff-eff kennt und beherrscht, da gibt es keinerlei Artefakt. Die Rahmenkapitel sind in gewisser Hinsicht viel reflektierender.


    Auch für den sehr aufmerksamen Leser gibt es kaum Lichtblicke am Horizont. Ich entdeckte zwei Personenbeschreibungen, die vom Knastbruder als echte Lichtfiguren beschrieben werden. Wie aber aushalten, wie nicht zerbrechen ? Sticht Stasiuk nicht doch irgendwie selber heraus aus den beschriebenen Personen ? Ja und nein. Er macht es sich und uns nicht einfach ; und darin liegt wohl auch nicht das Ziel. Welchen inneren Widerstreit beschreibt er wohl, wenn er in den ihn selbst betreffenden Rahmentexten einerseits erzählt, alles zu haben und sich zu verweigern anzuklagen, dass man ihm alles genommen hätte ? Und, andererseits, auch seine unendliche Armut einzugestehen ? Was bleibt ?


    Endet der Weg VOR der alle Übeltäter schützenden Zuflucht von Hebron, die den Titel des Buches ausmacht ? Siehe dazu : http://bibel-online.net/buch/elberfelder_1905/josua/20/#1 oder bleibt dies am Horizont als Ziel und Hoffnung ?


    Mit Einschränkungen an eine sehr vorgewarnte Leserschaft !


    AUTOR :
    Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband "Mury Hebronu" (Die Mauer von Hebron), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt, denn1980 wurde er zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden. Stasiuk schreibt seit Jahren Kritiken und Essays für die größten polnischen Tageszeitungen Gazeta Wyborcza und Rzeczpospolita, aber auch für den L'espresso und die deutschen Blätter Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung. Er gründete den Verlag Czarne. (Quelle und mehr Infos: http://de.wikipedia.org/wiki/Stasiuk )


    Taschenbuch: 160 Seiten
    Verlag: Suhrkamp; Auflage: 1. (2003)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3518123025
    ISBN-13: 978-3518123027

  • Originale:


    bei amazon.uk ( http://www.amazon.co.uk/Mury-H…zej-Stasiuk/dp/8375362611 ) :
    Mury Hebronu
    Broché: 152 pages
    Editeur : Czarne; Édition : 7 (janvier 2011)
    Langue : Polonais
    ISBN-10: 8375362611
    ISBN-13: 978-8375362619


    oder :
    Mury Hebronu. (Opowiadania).
    Wydawnictwo Głodnych Duchów,
    Warszawa 1992,
    ISBN 83-85244-09-3

  • Danke für die Rezension,

    Endet der Weg VOR der alle Übeltäter schützenden Zuflucht von Hebron, die den Titel des Buches ausmacht ? Siehe dazu : http://bibel-online.net/buch/elberfelder_1905/josua/20/#1 oder bleibt dies am Horizont als Ziel und Hoffnung ?


    bei einem solchen Titel hätte ich, nach dem, was Du oben beschreibst, an reinen Zynismus gedacht, als puren Hohn auf das System, mit dem geheuchelten Interesse am Wohlergehen der Bevölkerung, der man in Wirklichkeit weder Schutz noch Zuflucht bot - aber Du hast das Buch gelesen und ich nicht, und "Hebron" klingt nach Deinen Worten wieder ganz anders als andere Bücher Stasiuks - was ja auch wieder etwas sehr Schönes an diesem Autor ist, denn seine Bücher scheinen doch immer wieder etwas Neues zu bieten.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • bei einem solchen Titel hätte ich, nach dem, was Du oben beschreibst, an reinen Zynismus gedacht, als puren Hohn auf das System, mit dem geheuchelten Interesse am Wohlergehen der Bevölkerung, der man in Wirklichkeit weder Schutz noch Zuflucht bot....


    Das Buch ist zweifelsohne "schwarz", dunkel und könnte meines Erachtens aus dieser Erfahrungswelt erklären, warum wohl auch die späteren Werke Stasiuks von einer Spur "Verfall" gekennzeichnet, wenn auch immer poetisch durchdringt(er). Hier steht alles irgendwie recht roh vor uns. Also schwarz und dunkel, doch Stasiuk - wie meines Erachtens erst recht nicht in den späteren Werken - würde ich nicht als zynisch beschreiben, obwohl es schwerfallen würde, den genauen Unterschied zu definieren. Innerhalb der sehr rohen Welt des Gefängnisses gibt es immer noch so etwas wie eine sehr rauhe Freundschaft, eine andere Art von gemeinsamer Zugehörigkeit, die Verbundenheit schafft.


    Was aber das System und der Mangel an Schutz (in den Gefängnissen) anbetrifft hast Du sicherlich Recht, dass dieses Buch, vor allem Anfang der 90iger Jahre für so manche ein rechter Tiefschlag gewesen sein musste. Das war doch sicherlich Tabuthema (und ist es ja heute noch an so vielen Orten). Vielleicht ist Stasiuk dabei noch ein wenig provozierender als notwendig?


    "Die Mauern von Hebron" sind Buchtitel aber auch die Überschrift des letzten Kapitels. Die Bibelquelle aus dem Buch Josua wird dabei angegeben, womit der Bezug klar ist. Was Stasiuk damit sagen oder nicht sagen will, erschliesst sich mir nicht ganz, doch ich spekuliere - nach dreimaligem Lesen der Schlüsselstellen - dass es um eine Art Zufluchtsort, bzw HALTUNG geht, in der der Häftling sich dem puren Ausgesetztsein der Gewalt entzieht. Es entstehen Widerstände, Gleichgültigkeiten, Träume, die ihn abschneiden, manches nicht mehr verspüren lassen. Sieht, empfindet solch ein Einsitzender eine Schutzzone? Dieses Thema taucht in verschiedener Form in den Texten auf.


    ... und "Hebron" klingt nach Deinen Worten wieder ganz anders als andere Bücher Stasiuks - was ja auch wieder etwas sehr Schönes an diesem Autor ist, denn seine Bücher scheinen doch immer wieder etwas Neues zu bieten.


    Es war sein erstes Buch, das ihn also bekannt machte. In dieser Art wohl ein alleine dastehender Text in seinem Werk, aber wohl mit einem Einfluß auf alles, was kommt - so ein kurzer Einführungstext. Eine "Initiationserfahrung".