Stefan Selke - Schamland

  • Die Armut mitten unter uns.


    ISBN: 9783430201520
    Erschienen bei: Ullstein
    Seitenzahl: 279


    Autorenportrait:
    (Quelle: Buchcover/Verlag)
    Stefan Selke, 1967 geboren, ist Professor an der Hochschule Furtwangen mit dem Lehrgebiet "Gesellschaftlicher Wandel". Im Rahmen seiner Feldforschungen beschäftigt er sich seit 2006 mit der modernen Armenspeisungen in Suppenküchen und bei Tafeln. Er ist Mitgründer des "Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln" und als Tafelforscher und öffentlicher Soziologe ein begehrter Gesprächspartner in den Medien.


    Kurzbeschreibung:
    (Quelle: Buchcover/Verlag)
    Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Trotzdem muss jeder Siebte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen. Der Soziologe Stefan Selke reiste jahrelang durchs Land, um mit Betroffenen zu sprechen. Er traf ehemals erfolgreiche Geschäftsleute, die beschämt bei einer Lebensmittelausgabe im Nachbarort Schlange stehen, damit sie nicht erkannt werden. Verarmte Witwen, die beim Arzt um Medikamente betteln oder fürchten, geborgte 3 Euro nicht zurückzahlen zu können. Menschen, die mit über 50 nicht mal eine Stelle zum Putzen bekommen und vereinsamen, weil kein Euro übrig ist für Hobbies oder ein Treffen mit Freunden.


    Selke kritisiert, dass die Politik den Sozialstaat immer mehr beschneidet und dessen im Grundgesetz verankerte Aufgaben an ehrenamtliche und private Organisationen delegiert. Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Co. wurden so zum Motor einer neuen Armutsökonomie. Während die Mildtätigen sich selbst feiern, werden die Empfänger zu Menschen zweiter Klasse degradiert.
    Im Herzstück des Buches verdichtet Selke die in vielen Interviews gesammelte Aussagen zu einer kritischen Bestandsaufnahme des Lebens im Schamland. In unter die Haut gehenden Szenen berichten die Betroffenen, was das Leben in Armut und als Bittsteller mit ihnen macht Zum ersten Mal bekommen diejenigen, die sich sonst schamhaft verstecken, eine kraftvolle und nicht mehr zu überhörende Stimme.


    Meine Meinung:


    Das Buch von Stefan Selke lässt sich gut lesen: obwohl es auf wissenschaftlichen Ergebnissen seiner jahrelanger Forschung auf dem Gebiet "Gesellschaftlicher Wandel", speziell - die soziale Entwicklung eines der reichsten Ländern der Welt in der letzten Jahren in Bezug auf das Leben der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben müssen, basiert, ist das Buch keine trockene Kost. Es ist leicht verständlich und für jeden gut nachvollziehbar.


    Am besten bringt der Autor selbst auf den Punk, um was es sich bei diesem Bericht handelt. Er sagt, dass "Armut und Reichtum ebenso emotionale Zustände sind, die auf subjektiven Wahrnehmungen basieren" und nicht nur auf Zahlen, die das reale Lebensgefühl und Existenzformen nur unzureichend sichtbar machen. "Gerade die subjektiven Komponente der Armut sind das Thema dieses Buches."


    Ganz speziell das Scham Gefühl, dass alle Betroffene verbindet.
    "Scham - die Angst vor der Geringschätzung durch andere - ist eine sehr grundlegende und starke Emotion."... Dieses Grundgefühl, "nicht mehr mithalten zu können" löst Scham aus. Verstärkt durch den allgegenwärtigen Erfolgs- und Leistungsdruck....Menschen, die trotz zahlreicher Bemühungen keine Arbeit mehr finden, fragen sich beinahe zwangsläufig: Wie konnte es so weit kommen? Die Antwort, die immer öfter auch von außen suggeriert wird, lautet: Jeder ist selbst schuld an seiner Situation. Jeder, der Hilfeleistungen benötigt und in Anspruch nimmt, "bezahlt" dies mit seiner persönlichen Scham und einer an sich selbst gerichteten Schuldzuweisung."


    Zu dem Leben an der Grenze des Existenzminimums konnten unterschiedliche Gründe geführt haben: Menschen, die alles verloren haben, und den Einstieg ins Berufsleben nicht mehr finden konnten, Menschen, die durch eine Erkrankung aus dem gesellschaftlichen Leben herausgerissen wurden, Menschen, die älter sind (und dazu zählen auf dem heutigen Arbeitsmarkt schon diejenigen, die erst 50 sind), Rentner und viele andere. In den meisten Fällen steckt wohl kaum eigenes Verschulden dahinter.


    Anhand der zahlreichen Beispielen lässt der Autor den Leser in die Welt dieser Menschen blicken. Bewegende, resignierte, schamvolle und sehr emotionale Geschichten wurden ihm auf seinen Reisen durch das Land mit dem Ziel die Betroffenen kennenzulernen, erzählt.


    Das Buch bietet scharfsinnige Beobachtungen, anschauliche Fakten und sozialkritischen Gedanken zu dem Thema. Zum Beispiel betrachtet Stefan Selke die Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Co., die einen gewissen Ansehen in unserer Gesellschaft genießen, und eher als positiv, hilfreich und notwendig erscheinen, aus einem eher weniger geläufigen Blickwinkel und lässt die Leser nachdenklich zurück.


    Kalt lässt das Buch von Stefan Selke auf jeden Fall nicht. Er spricht einige Aspekte unserer Gesellschaft an, die man vielleicht so noch nicht gesehen hat und somit denke ich, hat er auch eins der Ziele seines Vorhaben sicher erreicht. Das "Schamland" stimmt nachdenklich. Es wäre wünschenswert, dass das Buch viele Leser erreicht, für Diskussionen sorgt, nicht nur in Fachkreisen. So dass es vielleicht auch die Unterhaltung über die Lösungsmöglichkeiten entsteht und nicht nur über die Missstände, die gegenwärtig in dem Land herrschen.
    Das Buch ist in überschaubare Kapitel eingeteilt und verfügt über einen ausführlichen Anhang mit Anmerkungen zu den zahlreichen Fußnoten.

    2024: Bücher: 100/Seiten: 43 976

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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  • Wer an die 'Tafeln' denkt, dem fällt zumeist eines ein: Gemeinnützig! Ehrenamtliche verteilen stark verbilligt Lebensmittel an Arme, die der Tafel zuvor gespendet wurden. Eine gute und sinnvolle Idee - wer würde etwas Schlechtes dagegen sagen oder schreiben wollen? Stefan Selke zum Beispiel, Soziologieprofessor und Autor dieses Buches, der schon früher die These aufstellte, dass Angebote wie die Tafeln Armut nicht versuchen zu beseitigen, sondern statt dessen festschreiben. Auch in seinem neuen Werk ist dies das Hauptthema. Er besucht Nutzerinnen und Nutzer dieser Wohlfahrtsangebote, fragt nach, wie es dazu kam und wie es ihnen dabei geht. Es sind ganz unterschiedliche Personen, die er da trifft: eine studentische Kleinfamilie, eine chronisch kranke Frau die noch nicht aufgegeben hat aus diesem System auszubrechen, ein chronisch krankes Rentnerehepaar, die sich in diesem Dasein jetzt mehr schlecht als recht eingerichtet haben. Alle eint sie, dass sie diese Angebote eigentlich nicht wollen, aber aufgrund ihrer Verhältnisse müssen, weil es keinen anderen Weg gibt.
    Selke beschreibt nicht nur Zustände, er schildert auch detailliert wie sich der Umgang mit Armen im Laufe der Geschichte verändert hat: von der Entwicklung der reinen Almosenempfänger im alten Griechenland wie auch im Mittelalter, die sich glücklich schätzen durften zu den 'guten' Bedürftigen gezählt zu werden und somit die Gnade von Zuwendungen zu erfahren bis hin zu gleich- UND anspruchsberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in der Gegenwart durch das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip (Art. 20, Abs. 1). Doch diese Entwicklung scheint sich wieder in ihr Gegenteil umzukehren: Ansprüche werden auf ein solches Mindestmaß reduziert, dass Berechtigte gezwungen sind, Angebote von Almosen (und nichts anderes sind Tafeln und weitere Institutionen der Armutsökonomie ja) anzunehmen. Statt Betroffenen zu helfen aus diesen Problemsituationen wieder herauszukommen, wird selbst vom Staat Armut als akzeptabler Dauerzustand dargestellt, der ja durch die vielfältigen (und immer wieder lobend erwähnten wie auch kräftig unterstützten) Freiwilligenangebote durchaus erträglich ist. Was jedoch passiert, wenn (aus welchen Motiven auch immer) sich die Anbieter solcher freiwilligen Dienstleistungen irgendwann zurückziehen, wird aus naheliegenden Gründen nicht thematisiert. Für die Empfangenden, die sich dieser Problematik durchaus bewusst sind, ist dies ein schrecklicher Zustand: nicht nur die Verhältnisse an sich sondern auch die Tatsache, abhängig zu sein vom Wohlwollen einiger Weniger.
    Selke vergisst auch nicht aufzuzeigen, dass Armut neben den direkten Kosten (die konkrete finanzielle Unterstützung) auch eine Reihe weiterer Kosten entstehen lässt, die sich nicht nur in Zahlen darstellen lassen. Berufliche Kompetenzen gehen verloren, größere Aufwendungen durch Krankheit, Demokratiedefizite entstehen...
    Wer sich konkrete Lösungsvorschläge erhofft, um eine Besserung dieser Situation herbeizuführen, findet diese nur indirekt. Diejenigen, die noch arbeiten können, möchten eine Beschäftigung von der sie auch leben können - eine klare Absage an PolitikerInnen, die gegen Mindestlöhne sind und weiterhin eine Förderung von Mini-, 1-Euro-Jobs, befristeten Beschäftigungen und dergleichen unterstützen. Andere wie Kranke, Rentner, Alleinerziehende eint der Wunsch, nicht als BittstellerInnen auftreten zu müssen - das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Frühjahr 2010 war ein Schritt in diese Richtung, dem jedoch weitere bisher nicht folgten.
    Selkes Verdienst ist es, einer großen Gruppe der Gesellschaft eine Stimme gegeben zu haben, die bisher aus Scham lieber schwieg und sich versteckte. Und trotz seines Status als Soziologieprofessor ist sein Buch gut lesbar und ebenso verständlich - und ganz und gar nicht 'sehr fachlich und wissenschaftlich' wie in einer Rezension vermerkt. Es bleibt zu hoffen, dass viele viele Menschen dieses Buch lesen - und sich etwas bewegt!

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Der Soziologe Stefan Selke beschreibt die Armut in Deutschland und warum aus einem reichen Land fortschreitend ein Schamland wird. Er geht dabei vor allem auf die Rolle der Tafel und ähnliche Einrichtungen ein.
    Das Buch ist gut gegliedert und zeigt verschiedene Aspekte der Armut auf. Sehr berührend und gelungen sind die Beispiele von Armen, welche durch verschiedene Schicksalschläge in diese Lage geraten sind. Dies lässt einen als Leser nachdenklich werden, weil jeder in diese Situation gelangen kann. Berührend und emotional ist das Kapitel "Der Chor der Tafelnutzer". Hier formt Selke aus allen einzelnen Meinungen ein kollektives "wir". Dies ist sher beeindruckend.
    Nicht so gut gelungen sind jedoch die vielen Wiederholungen. Viele Wörter, Thesen und Meinungen werden öfters wiederholt, auch wenn dies einprägsamer ist, wäre weniger mehr. Auch der Schreibstil ist sehr hochgegriffen und anspruchsvoll, dadurch wird das flüssige Lesen erschwert.
    Grundsätzlich ist das Buch für alle zu empfehlen, die zum Nachdenken über Armut und die Rolle der Tafel angeregt werden wollen und die auch keine schwere Kost scheuen.

  • Ein wertvolles Buch - ein wichtiges Buch.


    Inhalt:
    In dem Sachbuch setzt sich der Autor mit dem Thema der Armutsökonomie auseinander.
    Er schildert das Thema konsequent aus der Sicht der Armen. Also derjenigen in unserem Land, die auf die Tafeln, Armenküchen und Kleiderkammern angewiesen sind.
    Er berichtet, was es für die Betroffenen bedeutet zu den Tafeln zu gehen: Wie beschämend dies ist. Und wie sich diese Scham anfühlt.


    Hier spricht der Autor Tacheles.


    Ich finde es außerordentlich wichtig, dass der Autor darauf hinweist, dass die Politik gar kein Interesse daran hat, an den derzeitigen Zuständen überhaupt etwas zu ändern.
    Denn warum sollte die Politik Geld in die Hand nehmen, um etwas zu verbessern, wenn dies von den karitativen Einrichtungen geleistet wird. Diese Leistungen, die nicht der Staat, sondern karitative Einrichtungen erbringen, sind also in der Politik bereits einkalkuliert.
    Deshalb wird von Politiker-Seite lieber alles schön-geredet und keine Änderungen am Status-Quo initiiert. Denn es ist doch viel einfacher die Symptombehandlung der Armut an Tafeln und Kleiderkammern zu delegieren.


    Und: Für die Spenderfirmen sind die Tafeln von Vorteil, weil sie damit ihr soziales Image aufpolieren können.


    Gut, dass diese Diskussion nun angestoßen wurde (sie war längst überfällig) und dieses Thema in die Öffentlichkeit getragen wird!


    Kritikpunkte am Buch:
    Der Autor bietet keine direkten Lösungsvorschläge an.
    Der Autor fühlt sich sehr den Armen verpflichtet; d.h. er stellt das Thema konsequent aus ihrer Sicht dar (was natürlich legitim ist); was aber dafür andere Gesichtspunkte (wie die der ehrenamtlichen Helfer) außen vor lässt.
    Mich hätte auch interessiert, wie sich die Tafeln finanzieren. Denn er beschreibt ja, dass die Tafeln im Grunde nur Logistiker sind, die Lebensmittel von A nach B transportieren. Aber können die ganzen Kosten (wie Fuhrpark und Benzin) von dem obligatorischen Euro der "Kunden" gedeckt werden?!


    Fazit: Aber ein wertvolles und wichtiges Buch.


    Hoffentlich lesen die Organisatoren der Tafeln sowie deren Unterstützer dieses Buch.


    5 Sterne (von max. 5 Sternen)