Rosemarie Marschner, Das Jagdhaus

  • Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat 2005 in seiner wunderbaren Reihe dtv premium zeitgleich zwei Bücher von österreichischen Autorinnen veröffentlicht, die sich mit der Zeit der Nazi-Diktatur in Österreich befassen.
    Die Begeisterung und Kollaboration der Bevölkerung einerseits und der stille oder auch manifeste Widerstand von einzelnen Menschen andererseits, die Frage, wie man überleben kann in einer Diktatur und wie man weiterleben nach einer totalen Zerstörung und Desillusionierung, das sind die Themen dieser beiden Bücher.



    Das erste, Renate Welshs „Die schöne Aussicht“ , reflektiert diese Themen mit einer Hauptfigur aus dem Arbeitermilieu, der ungeliebten und ungewollten Wirtstochter Rosa, die in dieser schrecklichen Zeit alle Wesen und Menschen verliert, die sie liebt, und die dennoch auf ihre Art bis zum Ort ihrer Grabstätte eine Hoffnung lebt, die Mut machen kann.


    Das zweite, hier zu besprechende Buch ist Rosemarie Marschners „Das Jagdhaus“. Schon mit ihrem 2004 auch bei DTV erschienenen Buch „Das Bücherzimmer“ hat sie eine breite Leserschar positiv auf sich aufmerksam gemacht. Auch in ihrem neuen Roman spielt eine Frau die Hauptrolle. Antonia Bellago hat im September 1939 ihrem Mann Ferdinand, einem angesehenen Rechtsanwalt, zum zweiten Mal eine Tochter geschenkt. Bei der Taufe des Kindes, mit deren Schilderung das Buch beginnt, sagt der Pfarrer: „ Dieses Kind ist so alt wie der Krieg.“
    Sechs Jahre später, als die Bomben auf Linz fallen, wird sie sich voller Angst und Hoffnung an diesen Satz erinnern.


    Doch zunächst ist die Tauffeier fröhlich und ausgelassen. Im bürgerlichen Hause Bellago hält man sich raus aus der Politik. Die Nationalsozialisten, ihr Ton und ihr Auftreten widern die Familie an, sie ziehen sich, seit dem „Anschluß“ schon, immer mehr aus dem Linzer Gesellschaftsleben zurück, in dem sie jahrzehntelang eine führende Rolle spielten. Aber sie schweigen und rechnen im Stillen damit, dass dieser unzivilisierte Spuk in einigen Monaten vorüber ist und man an sein früheres Leben wieder anknüpfen kann.


    Ganz im Unterschied zu Johann Bethany, Antonias Vater, einem Wiener Hochschullehrer für Alte Geschichte und Frühe Demokratien, der sich entsprechende Bemerkungen politischer Art in seinen Vorlesungen nicht verkneifen kann und nun wirklich ernsthaft bedroht ist. Während der Feierlichkeiten zur Taufe seines zweiten Enkelkindes lässt Johann Bethany im Haus von Franz Josef Bellago, Antonias Schwiegervater, die Katze aus dem Sack. Er werde mit seiner Familie emigrieren nach Italien, dem Heimatland seiner Frau. Da sein jüngster Sohn Peter (11) nicht mitwolle, bitte er, ihn im Hause Bellago aufzunehmen, es handele sich sicher nur um eine kurze Zeit.


    Kurze Zeit später, die Bethanys sind schon Italien, Antonia grollt ihren Eltern über diese Flucht, Peter gewöhnt sich langsam in die neue Familie ein, der Angriffskrieg der Nazis meldet immer neue Eroberungen, da begegnet Antonia zum ersten Mal Marie. Es wird sich im Verlauf des Buches herausstellen, dass sie eine Tochter ihres Mannes Ferdinand ist.


    Bis diese wahre Identität geklärt ist und die beiden Frauen Frieden miteinander gemacht haben, reflektiert Rosemarie Marschner über ihre Hauptfiguren die Geschichte zwischen 1939 und 1945. Der Leser erfährt Details über politische Vorgänge und Entscheidungen, auch speziell aus österreichischer Sicht, immer gekoppelt mit kritischen Reflexionen der Hauptfiguren.


    So wie Rosemarie Marschner in einem spannend zu lesenden Familienroman die politischen und geschichtlichen Daten und Fakten und die Gefühle der Menschen, die davon betroffen sind, zusammenbringt, ist meisterhaft. Ihr Buch ist ein Liebesroman, ein Familienroman, ein Geschichtsbuch und ein Buch der Hoffnung.


    Rosa in Welshs „ Die schöne Aussicht“ verliert alles und behält doch die Hoffnung ins Leben. Antonia Bellagos Mann, ihr Bruder Peter, ihre Schwiegereltern, alle bleiben am Leben, nicht unversehrt, aber fähig, neu zu beginnen.


    Am Schluss dieser natürlich fiktiven Geschichte habe ich versucht, sie weiterzuspinnen und darüber nachgedacht, was diese allesamt privilegierten Menschen mit diesem Geschenk des Überlebens wohl angefangen haben. Ob sie weiterhin ihre streng konservativ und katholisch geprägte politische Zurückhaltung gepflegt haben, angeblich neutral und doch immer mit den Mächtigen im Bund, oder ob sie gelernt haben und ihr Wissen, ihre Kompetenz und ihren Reichtum für ein anderes, ein demokratisches, nicht fremdenfeindliches Österreich eingesetzt haben.
    „Sie hatte das Gefühl, sie könnte fliegen.“ So endet das Buch. Was einmal befreite, gerettete Menschen mit einem solchen Zustand wohl anfangen?


    Rosemarie Marschner hat ein wunderbares Buch geschrieben, das man besonders den nach 1950 Geborenen ans Herz legen möchte. Ich habe, wie gesagt, selten einen anspruchsvollen Unterhaltungsroman gelesen, der so gut und dennoch leicht als wirklich kritisches Geschichtsbuch daherkommt wie „Das Jagdhaus“.


    „Die schöne Aussicht“ von Renate Welsh und „Das Jagdhaus“ von Rosemarie Marschner gehören zusammen. Die parallele Lektüre ist sehr zu empfehlen.