Der Autor:
John Irving, 1942 in Exeter, New Hampshire, geboren, lebt im südlichen Vermont. Seine bisher zwölf Romane wurden alle Weltbestseller und in 35 Sprachen übersetzt, vier davon wurden verfilmt. 1992 wurde Irving in die National Wrestling Hall of Fame in Stillwater, Oklahoma, aufgenommen, 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für seinen von Lasse Hallström verfilmten Roman ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹. (Quelle: Verlagswebsite)
Kurzbeschreibung:
Auf der Laienbühne seines Großvaters in Vermont lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer sich nicht in Gefahr begibt, wird niemals erfahren, wer er ist. (kopiert von amazon.de)
Inhalt:
“Thus play I in one person many people, and none contented.” – Dieses Zitat aus William Shakespeares “Richard II” hat Irving seinem Roman vorangestellt, und es passt gut zu Billy, dem Ich-Erzähler dieser Geschichte, der auf sein Leben zurückblickt und erzählt, wie er von einem Jungen, der sich scheinbar immer in die falschen Leute verliebt, zu einem Erwachsenen wird, der sich keinen Stempel aufdrücken lassen will.
Im kleinen Ort First Sister in Vermont wächst Billy recht behütet bei seiner Mutter und deren Familie auf. Um seinen Vater wird ein großes Geheimnis gemacht, das der Junge nicht lüften kann, doch zum Glück hat er Richard Abbott, den neuen Freund seiner Mutter, der ihm ein Vater ist. Richard, der die Theatergruppe des Ortes und der hiesigen Jungenschule leitet, bringt Billy Einiges über Literatur bei und über die großen Dramen und Romane vergangener Zeiten. Billy, der schon als Teenager merkt, dass er anders ist als die anderen Jungen an seiner Schule, weil er sich nicht nur für nicht für Mädchen, sondern eher für ältere Frauen, vor allem aber für einen ganz bestimmten Jungen seiner Schule interessiert, hat es in seiner Familie gerade durch seine Neigungen nicht leicht: zwar ist Billys Großvater Harry dafür bekannt, dass er in jeder Theaterinszenierung Frauenrollen spielt und darin ziemlich brilliert; die Frauen in Billys Familie aber sind entsetzt, als sie zu vermuten beginnen, Billy könnte “sexuell anders” sein als Andere.
Und so ist es für Billy nicht einfach, seinen Weg und vor allem sich selbst zu finden. Es sind die späten fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und Toleranz gegenüber Homo-, Bi- oder Transsexuellen ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Und doch merkt Billy, dass er gegen seine Gefühle, so beängstigend sie manchmal auch für ihn sein mögen, nicht ankämpfen kann und will, und er begegnet immer wieder Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiten und die ihn so lieben und wertschätzen, wie er ist.
Billy seinerseits erkennt, dass bei weitem nicht so viele Menschen “normal” sind, wie man denken könnte, und sein Weg führt ihn immer wieder mit Menschen zusammen, die wie er einfach nur sein wollen, wer sie sind, und die sich zum Teil ganz anders als er durchs Leben schlagen und ganz anders mit Vorurteilen umgehen. Wir dürfen Billy bis zu seiner Arbeit mit der Abschlussklasse 2011 begleiten und erleben, wie sich nicht nur er selbst, sondern auch die Welt um ihn herum in den gut fünfzig Jahren verändert hat.
Meine Meinung:
Es gibt sie, diese Romane, die etwas mit dir machen, wenn du sie liest, und “In One Person” ist einer davon. Es ist – für mich – der beste Roman, den ich von John Irving gelesen habe – nicht der erste Irving, bei dem ich gelacht habe, aber der erste, der mich zum Weinen gebracht hat.
Billys Geschichte wird sehr poetisch und einfühlsam, dann wieder schonungslos und lustig, zum Teil auch – wie man es von Irving kennt – etwas skurril erzählt. Für jede Situation scheint Irving genau den richtigen Ton zu treffen, und viele der Kapitel klingen nach dem Lesen noch eine ganze Weile nach. Nicht nur Billy, auch viele andere Charaktere des Romans, die sich in keine Schublade stecken lassen, die einfach nur auf ihre Art und Weise leben möchten, werden von Irving einzigartig und klar herausgestellt, ohne dass das Ganze übertrieben oder pathetisch wirken würde. Dennoch gibt es in diesem Roman auch viele ernste Töne, wenn es um Diskriminierung, Vorurteile, Gewalt und letzten Endes auch um AIDS geht, Themen, mit denen sich Billy und die Menschen in seinem Umfeld täglich beschäftigen müssen.
Sehr glaubwürdig schildert Irving Billys Lebensgeschichte vom zurückhaltenden, sensiblen Teenager, der nicht weiß, wie er mit seinen “wrong crushes” umgehen soll, zu einem selbstbewussten Mann, der frei zugibt, bisexuell zu sein, Transsexuelle attraktiv zu finden, die noch nicht operiert sind und somit männliche und weibliche Attribute haben. Billy geht seinen Weg auf eine solch natürliche Weise, dass man ihn von Anfang an einfach mögen muss und das Gefühl hat, in eine authentische und sehr schön erzählte Geschichte eintauchen zu können.
Nicht nur aufgrund von Irvings eigener Erzählweise, die auch in diesem Roman sehr dicht ist, erweist sich Irving hier einfach als ein Autor für Leser. Gut, wer nicht gern liest, wird vermutlich auch eher im Zweifelsfall nicht zu Irving greifen, aber bei “In One Person” verlangt Irving seinen Lesern literarisch schon auch ein bisschen was ab. Ich war beeindruckt von den vielen Anspielungen auf große Romane wie “Great Expectations” und “Madame Bovary” (es gibt noch weitere), und es hat auch Spaß gemacht, sich parallel zu “In One Person” mit Shakespeare, seinen Dramen und auch den gesellschaftlichen Vorstellungen des elisabethanischen und des viktorianischen Zeitalters auseinanderzusetzen, weil man manche Passagen dieses großen Romans dann meiner Meinung nach anders lesen und vielleicht so verstehen wird, wie Irving sie gemeint hat.
Billy selbst liest als Jugendlicher gern Romane aus dem England des 19. Jahrhunderts, die den Werdegang eines jungen Mannes in der Gesellschaft und aller Widrigkeiten zum Trotz erzählen, bis er sein Glück gefunden hat. An diese Tradition knüpft Irving mit “In One Person” an und macht aus Billy einen “David Copperfield” oder Pip Pirrip (“Great Expectations”), der nunmehr seinen Werdegang erzählt, bis er in unserer Zeit angekommen ist. Ein Roman, der einerseits ganz eigen ist, andererseits in gewisser Hinsicht an die Tradition der Bildungsromane anknüpft – und der hoffentlich eines Tages einer der großen Klassiker der Weltliteratur sein wird.
Ich würde zehn Sterne geben, wenn ich könnte.