Ich kenne Sent nicht, aber nach der Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen von Angelika Overath ist dieses Neunhundert-Seelen-Dorf im Unterengadin für mich zum Inbegriff eines global village geworden, und zwar nicht in dem Sinn, wie dieser Ausdruck in der öffentlichen Diskussion gewöhnlich verwendet wird, sondern als ein Ort, in dem die große Welt auf die kleine, Weltläufigkeit auf Traditionsverbundenheit und neugierige Aufgeschlossenheit auf stille Besinnlichkeit treffen.
Das Buch besteht aus den Tagebuchaufzeichnungen des ersten Jahres in Sent.
Nachdem die älteren Kinder ausgezogen sind, beschließt die Autorin Angelika Overath, mit ihrem Mann und ihrem jüngsten Sohn die Wohnung in Stuttgart aufzugeben und dort hinzuziehen, wo sie bisher nur ihre Urlaube verbracht haben. Eine Entscheidung, für die nicht alle Freunde Verständnis haben.
Sie trifft in diesem Ort auf eine Gemeinschaft von Menschen, die sie freundlich aufnehmen, sie in das gesellige und kulturelle Leben integrieren, das stark von dem Bemühen um den Erhalt der rätoromanischen Sprache geprägt ist, einer Sprache, die man eigentlich hören sollte, um sich von ihrem melodischen Klang verzaubern zu lassen. Ihr Sohn eignet sie sich nahezu spielerisch an, während sie selbst um deren Beherrschung regelrecht ringen muss. Sie wünscht sich, die Sprache möge sie infizieren, sich in ihr festsetzen, und beginnt sprachspielerische Gedichte in ihr zu schreiben:
Mailinajer
Eu'n ha scrit ün mail a Rut
-Fos?
Eu'n ha scrit ün emagl a Rut
-Fos!
Eu'n ha scrit a Rut
Per far üna bratschadella da maila
cun ella
Sie meint, auf Deutsch gehe das nicht und fügt doch eine Übersetzung an:
Apfel/Mail in der Luft
Ich habe eine Mail an Rut geschrieben
-Falsch?
Ich habe eine Emaille an Rut geschrieben
-Falsch!
Ich habe an Rut geschrieben,
um einen Apfelkuchen mit ihr zu machen.
Sie nimmt Klavierunterricht, singt im Chor, hält Vortragsreisen, besucht Vorträge und andere kulturelle Veranstaltungen und ...
wird besucht...von Menschen, die die ganze Welt bereisen, wie z.B. Not, der für seine Reportagen zwischen Peking , Marrakesch und New York pendelt, oder Freunden aus Tübingen. Sie lernt in Ida, ihrer Klavierlehrerin, die Spezies der Randulins, der Schwalben kennen, die aus Not oder Abenteuerlust nach Italien gegangen sind, um dort ihr Glück zu machen und dann doch wieder zurückgefunden haben.
Ein Rückzug? Nein, ein lebendiges Leben, in dem sich nah und fern, Natur und Kultur in überraschender Harmonie verbinden.
Angelika Overath studierte in Tübingen Germanistik, Geschichte, Italianistik und Empirische Kulturwissenschaft und promovierte 1986 mit einer Arbeit im Bereich der modernen Lyrik, arbeitete anschließend als Autorin in Griechenland und
lebt inzwischen in Sent.