Paul Léautaud - Der kleine Freund Oder: Leichtfertige Erinnerungen

  • Original: Le petit ami (Französisch, 1903)
    Übersetzer ins Deutsche: Alexander Bergengruen, Mario Hindermann


    ZUM BUCH:
    Der Ich-Erzähler und Autor erinnert sich im Jahre 1902 in acht Kapiteln (jeweils übertitelt mit einem Zitat) an Episoden aus seinem Leben, die miteinander verwoben sind. Er wuchs im Pariser Rotlichtviertel auf, zwischen dem Boulevard de Clichy und der Rue Rouchechouart. Seine Mutter, eine von vielen Mätressen des Vaters, wird ihn kurz nach der Geburt verlassen. Der Vater, Schauspieler, vernachlässigt den Sohn und, insbesondere um abends ungestörter Frauenbesuche empfangen zu können, übergibt ihn eher einer Pflegemutter, Marie, die ihm wichtigste Person wird. Von früh auf verkehrt er als „kleiner Freund“ wie selbstverständlich zwischen den Prostituierten des Viertels, wenn auch ohne lange Zeit das Spiel zu durchschauen. Für ihn werden und bleiben diese Frauen „charmante Freundinnen“, mit denen er seine freie Zeit verbringt, ob im Olympia, den Folies Bergères und anderen Vergnügungsstätten...


    Seine Mutter wird er in der Kindheit nur zwei-, dreimal sehen. Entsteht ein Mythos um diese Frau herum, die sich kokett und anziehend erweist? Erst zwanzig Jahre später, zur Sterbebegleitung einer Tante, wird er sie wiedersehen (und sie ihn zunächst nicht erkennen). Erneut keimt in ihm ein Interesse, das die pure Liebe zu einer Mutter schon übersteigt und fast Besitz ergreifend und unkontrollierter wird. Doch nach diesen zwei, drei Tagen verlieren sie nach leidenschaftlichem Briefaustausch wieder den Kontakt zueinander.


    ANMERKUNGEN:
    Und wie komme ich zu einem Buch, indem sich die Hauptperson in der Gesellschaft von Prostituierten gefällt, seine Mutter in eben diesem Kreise ansiedelt, und von einem dementsprechenden Leben, wenn auch diskret, erzählt? Tja, Alexander Schmemann (siehe: Alexander Schmemann - Aufzeichnungen 1973-1983 ), ein unkonventioneller orthodoxer Priester, hatte einst seinen Respekt vor diesem Mann ausgedrückt, der als Misanthrop und Skeptiker doch etwas Geradliniges und durchwegs Ehrliches hätte. Das zog mich an, ohne allerdings diese Einzelheiten zu wissen.


    Und es stimmt: dieser Mann versteckt sich nicht, und bekennt offen seine Suche nach Zuneigung und Liebe, einem „Verlangen nach Zuneigung ohne Berechnung“, selbst wenn er sie anscheinend etwas unkonventionell sucht. Es ist in den Erinnerungen an die frühe Kindheit und Aussagen über sich selbst interessant, dass er dazu Bestandsaufnahmen von einer Zeit nimmt, die noch nicht so lange zurück liegt beim Festhalten dieser Kapitel. Dabei stellt er fest, wie nahe er auch heute noch dem kleinen Jungen gegenüber sich fühlt, der er einst war. „Im Grunde meiner Selbst habe ich mich so wenig geändert“, sagt er. Diese Gedanken und Beobachtungen gehörten für mich zum Besten im Buche.


    Dass er selbst seine Vorlieben zu den leichten Damen andeutet als die Erinnerung an seine eigene Mutter mag skandalös klingen. Wer weiß, ob Freud an seinen Bemerkungen nicht seine Freude gehabt hätte?! Da ist die Sehnsucht nach der Mutter, die aber gleichzeitig so enorm weit weg war und ist. Wie könnte man da nicht eine komplett irrationale und, ja, ungesunde Beziehung aufbauen?


    So sehr Léautaud aber von den Eltern vernachlässigt und verlassen worden ist, wird er doch nie in Jammern ausbrechen, sondern einen manchmal schon zu souverän klingenden Ton anschlagen. Nur sein Leben hat wohl gezeigt, dass man auch so mit meinem Erachten schweren Vorbedingungen umgehen kann. Und es wäre sicherlich nicht in seinem Sinne, mit diesen Erinnerungen irgendein Mitleid hervorrufen zu wollen. Im Gegenteil: er schriebe zu unserer Unterhaltung!?


    Ich verstehe nicht, wie Luchterhand in der unten verlinkten deutschen Ausgabe auf seinem Titelbild einen „Roman“ ankündigen konnte..., es handelt sich doch eher um Erinnerungen?! Sicher ist dieses Buch nicht für jedes Publikum geeignet...


    ZUM AUTOR:
    Paul Léautaud (* 18. Januar 1872 in Paris; † 22. Februar 1956 in Le Plessis-Robinson) war ein französischer Schriftsteller, der oft unter dem Pseudonym Maurice Boissard schrieb. In der Kindheit wurde er kurz nach der Geburt von der Mutter verlassen, die die „Folies bergères“ vorzog, und vom Vater vernachlässigt. Zunächst arbeitete er als Handlungsgehilfe und Advokatsschreiber. Von 1908 bis 1941 war er Sekretär des Mercure de France (französische Revue und dann Verlagshaus), für den er seit 1895 Theaterkritiken schrieb, ebenso für La Nouvelle Revue Française (Literaturzeitschrift, aus der später auch ein Verlagshaus wurde). Besonders bekannt wurde sein umfangreiches Tagebuch über mehrere Jahrzehnte, von dem oben vorgestelltes Buch quasi das erste bildet.
    Er lebte seit 1912 isoliert als Misanthrop, umgeben von zahllosen Hunden und Katzen, in einem Häuschen in dem Pariser Vorort Fontenay-aux-Roses. Durch Rundfunkansprachen wurde er 1950/51 auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Er kannte viele literarische Größen seiner Zeit. Ernst Jünger und er trafen sich im besetzten Paris schätzten einander.
    (Quelle: wikipedia.de und siehe auch ausführlichen Artikel unter wikipedia.fr http://fr.wikipedia.org/wiki/Paul_L%C3%A9autaud )


    Ich selber habe diese französische Ausgabe gelesen: http://www.amazon.fr/petit-ami…TF8&qid=1306438602&sr=8-1


    Taschenbuch: 231 Seiten

  • Nu, wenn sich jetzt aber einer von den "Bedanker(inne)n" wirklich für das Lesen des Buches entscheidet, soll er/sie nicht sagen, dass ich nicht gewarnt hätte... :wink:
    Der Inhalt kann schockieren...Doch zur selben Zeit hält sich der Autor zurück und läßt es meistens bei Andeutungen. Insofern ist es eben kein "erotischer" oder gar perverser Bericht...

  • Mein "Danke" bezieht sich mehr auf Deine Rezension,Deine Gedanken, die Mühe, die Du Dir gemacht hast und weniger auf das Vorhaben, das Buch auch selber zu lesen ...

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ich reiche noch einen Link zu einer französischen Ausgabe nach...:


    Quatrième de couverture:
    «J'ignore si le lecteur s'amusera beaucoup des souvenirs d'enfance que je vais raconter. Il y a bien cinq ans que je me demande si je dois les écrire, moi, et je viens seulement de m'y décider ! Qui sait aussi si cet enfant que j'ai été et que je revois en ce moment avec une netteté qui touche au prodige ne me reprochera pas, quand j'aurai achevé, d'avoir été, à son sujet, si loin dans ce livre. Pauvre chéri ! comme disent si tendrement mes amies, quand je leur en parle. Enfin, ça fera peut-être quelques bonnes pages.»