Olga Flor - Kollateralschaden

  • Wieder ein Buch aus Österreich - diesmal ist es Olga Flor. Sie schildert auf über zweihundert Seiten die Ereignisse einer einzigen Stunde in und vor einem ganz gewöhnlichen Supermarkt. Aus der Perspektive verschiedener Beteiligter beschreibt sie den Schauplatz einer Attacke. Der schnelle Wechsel zwischen einer Vielzahl von Personen und Einzelschicksalen wirkt am Anfang etwas unübersichtlich.

    Die Liste der Personen ist also lang. Eigentlich haben diese Menschen nichts gemeinsam - und doch verknüpft die Autorin ihr Schicksal miteinander, webt ein Netz durch die Gedanken der Einzelnen, die sich gegenseitig mal mehr mal weniger beim Einkaufen wahrnehmen. Es liegt eine Spannung in der Luft, viele Andeutungen werden gemacht,und als schließlich etwas geschieht und die Situation eskaliert, ist der Leser selbst zum Zuschauer geworden, der hier und da ein Stückchen Leben der anderen aufgeschnappt hat, der selbst nicht alles kennt und nicht alles versteht. Wie ein großes Puzzle setzt sich schließlich die Geschichte zusammen - und man bleibt letztlich atemlos zurück und fragt sich, wie aus dem ganz normalen Alltag eine Katastrophe werden konnte.


    Dieses Buch ist beeindruckend, auch wenn es nicht gerade einfach ist. Stückchenweise sollte man es besser nicht lesen, da man sonst schwer die Schicksale der einzelnen Personen auseinander halten kann. Gerade weil er so viele Personen sind (es gibt kein Personenregister, das geht auch gar nicht, weil es entweder nur eine Auflistung von Namen wäre oder schon zuviel verraten würde), bietet es sich an, wenn man als Leser Notizen anfertigt um die kleinen Schnipsel von verschienden Leben, die die Autorin einem nach und nach serviert, zusammensetzten zu können.

    Die Handlung selbst lässt sich kaum wiedergeben, sie steht auch nicht im Mittelpunkt - sondern das Bild, das entworfen wird: die Beziehungen der Menschen untereinander, Selbstbild, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung - das sind die eigenltlichen Themen dieses kleinen Kunstwerks.

  • Wow, Anriel, deine Rezi hört sich total interessant an, das Buch scheint toll zu sein und ich hab es direkt auf meine Wunschliste gesetzt!


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Danke, mich hat das Buch auch sehr beeindruckt. Auch wenn es etwas 'speziell' ist - oder vielleicht gerad deswegen? :roll:
    Viele Rezensionen hat das Buch bei dem einschlägigen Internetanbieter ja auch noch nicht (zwei?) und die eine war ja auch ziemlich negativ. Hätte ich das Buch nicht geschenkt bekommen, hätte ich es vermutlich nicht gekauft (zumal es bei österreichische Autoren ja auch immer etwas länger dauert, bis man sie in Norddeutschland in den Buchhandlungen findet - wenn überhaupt jemals!). Ich glaube, das ist ein Buch, das einem entweder zusagt oder eben nicht.


    (Meine Güte habe ich mich da oben oft vertippt, wieso kann ich das nicht editieren?)

  • Danke für die schöne Rezi :flower:
    Ich habe das Buch als Leserundenbuch gelesen und es hat mir gut gefallen!
    Die Vereinzelung der Protagonisten kam gut rüber - die Wahl des Supermarktes als Schauplatz eines Romans mit dem Thema "Anonymität" ist gut gewählt.
    Das Buch ist durchaus lesenswert und hat es ja auf die longlist des Deutschen Buchpreises 2008 geschafft. :wink:

  • Ich habe dieses Buch vergangenes Wochenende gelesen und bin ebenfalls restlos begeistert. Anriels Rezension kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen!
    Das Buch zeichnet sich durch scharfe Beobachtung der Gesellschaft aus, gezielte Kritik an derselben. Unheimlich gut getroffen fand ich die Stereotype die die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts prägen, ohne klischeehaft zu wirken. Allen voran die ambitionierte Rechts-außen-Politikerin, immer bestrebt, sich nur von der besten Seite in der Öffentlichkeit zu zeigen , der unter Pensionsschock leidende Rentner, der mit der Krebserkrankung seiner Frau nicht zurecht kommt, die ausgebildete Logopädin, die sich ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdienen muss, .... Menschen, wie aus dem Leben gegriffen, die doch mehr miteinander zu tun haben, als vorerst angenommen.


    Ich kann Anriel nur beipflichten, das Buch sollte möglichst in einem gelesen werden, denn sonst könnte es leicht unübersichtlich werden!


    Ein großartiges Buch, das ich jeden ans Herz legen möchte!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Dann will ich diesen Fred nach circa zwei Jahren auch noch mal hochholen, denn es lohnt sich wohl, dieses Buch zu entdecken.


    Anriel und Rosalita haben schon Wesentliches gesagt. Was verspüre ich?


    Der Anfang wirkt wirklich etwas durcheinander, mit beständigem Wechsel der betrachteten Person. Es könnte zunächst schlicht um einen äußeren Rahmen, einen Ort und dann einen Handlungsverlauf gehen, der anscheinend wildfremde Menschen miteinander in Verbindung bringt: zeitweise, flüchtig. Das erinnerte mich von ferne an einen Film wie Short Cuts von Altmann...


    Doch sehe ich, zumindest in den hier beschriebenen Figuren, auch teils ähnliche innere Fragen und Zustände, die wir ja oft genug verbergen.



    Menschen, wie aus dem Leben gegriffen, die doch mehr miteinander zu tun haben, als vorerst angenommen.


    Die allwissende Ich-Erzählerin führt sie uns aber vor Augen:
    Wenn es einerseits z.B. eine populistische Politikerin gibt, so sind bei mehreren Gestalten des Romans doch ebenfalls Missfallen, Misstrauen zum anderen (bis hin zur Fremdenfeindlichkeit) spürbar: Terrain für weitergehenden Hass und einen möglichen Ausbruch?
    Fraglich ist natürlich, ob dieses sozusagen innerliche Aneinanderrücken verschiedener Personen gerechtfertigt ist oder nicht etwas verallgemeinert? Sind sie (wir?) alle von einem „Problem“, einem Kreisen um sich selbst in ihrem Innenleben beschäftigt?


    Mag sein, dass die österreichische Autorin damit, wie manch andere ihrer Kollegen, den Dämonen ihres Landes (und nicht nur ihres) nachgeht?


    Sprachlich (mal kurze, prägnante Sätze; mal lange Wortgebilde) und erzähltechnisch (in diesen abschnittsweise Einblicken in das Leben verschiedener Beteiligter) ist das Buch schon was Besonderes.
    Inhaltlich hate ich es für doch recht dunkel, will sagen: nicht gerade ermutigend. Vielleicht wirklich eine sehr kritische Sicht auf Zustände in unserer Gesellschaft?


    (Oder suche ich nun auch krampfhaft nach der vereinheitlichenden Formel hinter dem Gelesenen?)

  • Danke, für Deinen Kommentar und für das "In Erinnerung Rufen" des Buches.
    Ich weiß jetzt nicht ganz, worauf Du speziell hinaus willst .... ich habe die Personen schon aus sehr aus dem Leben gegriffen empfunden. Würde man eine Handvoll Menschen aus der Warteschlange im Supermarkt herausfassen, wäre wohl die Mischung eine ähnliche. Oder meinst Du, dass es vielleicht nicht allzu repräsentativ ist, was die Autorin hier auftischt? Fehlen die fröhlichen Leute, die unbeschwert in den Tag leben? Möglich, denn diese wären wohl auch Teil dieser Warteschlange! Aber es gäbe über diese möglicherweise nicht allzuviel erzählen :-) .
    Ja, das Buch ist nicht ermutigend, sehr problembehaftet. Aber es hinterließ zumindest bei mir das Gefühl, ein bisschen hinter die Kulissen zu sehen, und dass halt fast jeder in irgendeiner Weise sein "Päckchen" zu tragen hat, der eine leichter, der andere schwerer.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ja, vielleicht hat eben jeder sein Päckchen zu tragen? Ich sah allerdings in einer gewissen "Dunkelheit", die über den Personen liegt, eine etwas pessimistische Schau. Aber ich wollte nicht speziell auf was raus; das sage ich so aus dem Bauch. Und frage mich, ob es denn so etwas wie was wie "leichtere" Charaktere gibt. Als Oswald auftauchte dachte ich: Hoppla! Doch dann entpuppt er sich ebenso als Problemfällchen.
    Eigentlich reagieren die Personen beim Moment X (den wir hier nicht verraten wollen) alle etwas enttäuschend, eigensüchtig. Aber ist klar, da habe ich wohl eine Sehnsucht nach etwas mehr Licht?