Virginia Woolf - Die Fahrt hinaus / The Voyage out

  • Die Originalausgabe erschien 1915 unter dem Titel „The Voyage Out“ im Verlag Duckworth, London


    Die mutterlose Rachel Vinrace wächst behütet bei ihren stillen Tanten in Richmond auf. Als sie mit vierundzwanzig Jahren auf dem Schiff „Euphrosyne“ zu einer großen Reise nach Südamerika aufbricht, soll es für sie auch ein Aufbruch ins Leben werden. Ebenfalls auf dem Schiff befindet sich ihre Tante mütterlicherseits, die kluge und lebenserfahrene Helen. Entsetzt über die Naivität ihrer Nichte, besonders was die Beziehung zwischen den Geschlechtern angeht, lädt sie das Mädchen ein, den Winter bei ihr und ihrem Mann auf der südamerikanischen Insel „Santa Marina“ zu verbringen. Dort schließen sie sich bald der feinen englischen Gesellschaft aus dem nahe liegenden Hotel an. Man spielt Tennis, veranstaltet Ausflüge oder Tanzabende, trinkt Tee und bleibt selbstverständlich unter sich. Einer der Gäste ist der junge Schriftsteller Terence Hewett. Rachel und er verlieben sich ineinander. Doch während das Paar noch seine gemeinsame Zukunft plant, erkrankt Rachel an einem tropischen Fieber und stirbt.


    Das ist die knappe Handlung des ersten Romans von Virginia Woolf. „Die Fahrt hinaus“, vordergründig eine Liebes- und Reiseerzählung, beschreibt in Wirklichkeit eine Fahrt nach innen, die Suche einer jungen Frau nach ihrer Identität in einer konventionellen, rückständigen Gesellschaft, die vor allem den Frauen noch keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung lässt. Virginia Woolf begann mit der Arbeit an dem Buch bereits vor 1908, erschienen ist es 1915. Dazwischen lagen besonders turbulente und schwierige Jahre für sie. Sie machte mehrere Seereisen, heiratete den Verleger Leonard Woolf, litt wiederholt an Krankheiten und Depressionen und unternahm einen Selbstmordversuch. Insgesamt sechsmal schrieb sie den Roman um und versuchte dabei mehr und mehr, die autobiographischen Spuren verwischen.


    Die junge Rachel wächst auf, wie es für ein Mädchen der besseren Kreise damals üblich war: abgeschottet von der Welt, ohne nennenswerte Bildung, sexuell unaufgeklärt. Als sie nach Südamerika reist, ist sie ein unbeschriebenes Blatt ohne eigenständigen Charakter und ohne eigene Meinung, auf ihre Umgebung wirkt sie farblos und beschränkt. Erst allmählich erwacht in ihr das Bewusstsein ihrer selbst als unverwechselbare Persönlichkeit mit individuellen Wahrnehmungen, Wünschen und Vorstellungen. Gleichzeitig beginnt sie eine immer stärkere Abneigung gegen die Menschen um sich herum zu verspüren, gegen ihre Trivialität, Unaufrichtigkeit und ihr fruchtloses Verharren in vorgegebenen Denkweisen. Ihr wird bewusst, dass keiner – auch sie nicht - über seine wahren Gedanken und Gefühle sprechen kann, dass niemand den anderen wirklich kennt. In ihrer negativen Weltsicht fühlt sie sich einig mit dem jungen Schriftsteller Terence Hewett, der sie heiraten will. Doch trotz ihrer Verliebtheit erfüllt die Vorstellung von der Intimität und Endgültigkeit der Ehe sie mit Angst. In diesem Gefühlschaos befangen, erkrankt sie…


    Virginia Woolfs Romandebüt enthält schon viele der Themen, die auch in ihren späteren Werken eine Rolle spielen, darunter solche, die zu dieser Zeit noch als heiße Eisen galten wie ihre Kritik an der Selbstzufriedenheit und geistigen Enge der englischen Upper Class, die Mädchen wie Rachel in Unwissenheit belässt und den Frauen nicht genug Verstand zutraut, um im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen. Auch die existentiellen Probleme, die sie ihr Leben lang beschäftigt haben, sind schon spürbar: die Vereinzelung des Individuums, die Angst vor Nähe, die Schwierigkeit, sich mitzuteilen. Sensibel und genau zeichnet sie die Gefühls- und Seelenprozesse einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst nach. Obwohl noch in traditioneller Form geschrieben, lässt die Geschichte schon den eigentümlichen Stil Woolfs deutlich erkennen, diesen Wechsel von präzise beobachteten Sinneseindrücken, Reflexionen, Träumereien und Empfindungen. Der Roman ist zum Teil aber auch sehr amüsant und witzig. Mit britischem Humor, scharfsichtig und scharfzüngig, ohne boshaft zu sein, beschreibt Woolf die verschiedenen Charaktere einer typisch englischen Gesellschaft, die sich selbst auf einer tropischen Insel verhält, als befände sie sich zur Teatime auf gepflegtem englischem Rasen.


    Auch wenn die Hauptfiguren noch nicht sehr deutlich ausgeformt sind und Rachels Tod ein wenig idealistisch erscheint, ist diese einfühlsame und ironische Erzählung überaus fesselnd und lesenswert.


    mofre


    Übrigens begegnet uns gleich am Anfang des Romans das Ehepaar Dalloway, das kurzzeitig auf dem Schiff mitreist. Mrs Clarissa Dalloway gibt sich ganz als reizende, elegante Dame der obersten Gesellschaft, Richard Dalloway – ja, was er tut, lest selbst (ich hätte es nicht von ihm gedacht).

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Da ist sie ja, die ersehnte Rezi! Danke Mofre.
    Klingt ja nach einem sehr vielversprechenden Buch, und schon alleine wegen Deines letzten Satzes muss ich es wohl lesen :scratch: ;)
    Ich habe bisher nur "Mrs. Dalloway" gelesen und aus deiner Rezension schließe ich, dass dieses hier "einfacher" (in Stil, Sprache und Satzkonstruktion) ist?

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ja, Rosalita, der Roman ist sogar sehr gut lesbar. Die Handlung umfasst mehrere Monate, und Virginia Woolf verwendet hier noch keine modernen Stilmittel wie den Bewusstseinsstrom usw. Das Buch hat noch viel vom viktorianischen Roman an sich, denn das Tun und Treiben der englischen Gesellschaft auf der Insel nimmt einen breiten Raum ein und ist sehr witzig und unterhaltsam beschrieben. Du wirst ganz bestimmt großen Spaß daran haben!


    Gruß mofre

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  • Inhalt:
    Behütet und im Grunde unschuldig und unwissend, so ließe sich Rachel Vinrace beschreiben, bevor sie durch die Aufmerksamkeit einer Tante (der Schwester ihrer verstorbenen Mutter) einen neuen Blickwinkel auf das Leben erhält. Mit dem Schiff ihres Vaters reist sie nach Südamerika und von dort weiter ins Landesinnere. In Santa Maria wird sie in die dortige Gesellschaft eingeführt. doch die privilegierten Engländer stoßen sie bald schon eher ab, als das sie sich dort wirklich wohl fühlt. Einzig mit Terence Hewett fühlt sie aufsteigenes Glück, obwohl ihr bald schon klar wird, das sie nach soviel mehr strebt, ohne das ihr klar ist, was genau sie denn wirklich sucht...


    Ich bin sehr Gefühls-lastig in die Handlung eingetaucht. sicher auch von der Autorin beabsichtigt: :wink:
    Dies ist der erste Roman der Autorin und wurde 1915 das erste Mal veröffentlicht. Virginia Woolf ist eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen und einmal mehr weiß ich auch weshalb.


    "Die Fahrt hinaus" hat mich regelrecht umgehauen. Die Handlung selbst ist eigentlich gar nicht soo spektakulär und für junge Damen wie sie Woolf hier beschreibt, sind derlei Reisen damals sowieso nichts ungewöhnliches gewesen. Es sollte ihnen damit der letzte Schliff vor der Ehe gegeben werden, oder möglichst die Chance auf einen Ehemann, sollten sie schon etwas älter sein. Die Angst die eigene Tochter nicht versorgt zu wissen, hatte sicher auch damit zu tun.Der Roman entwickelt dabei einen ganz eigentümlichen Sog. Woolf kann aus Trivialitäten des Alltags das Lebendigste machen, was man jemals gelesen hat. Man kann darin versinken, um dann irgendwann erschrocken hoch zu fahren, weil man angesprochen wurde.
    Die Handlung berührt dabei viele verschiedene Themen, vor allem die Gesellschaftliche Stellung der Frau ist ein sehr zentrales Thema. Woolfs Blick auf diese Fragestellungen wird durch eine Reihe von verschiedenen Frauenfiguren repräsentiert, wobei hier auch der Generationenkonflikt der jungen zu den Älteren eine Rolle spielt. Für mich persönlich spannend war auch die Begegnung mit Mrs. Dalloway. Mir war bisher nicht bekannt gewesen das sie bereits in Woolfs erstem Roman eingeführt wird. Ich habe richtig Lust bekommen "Mrs. Dalloway" noch einmal zu lesen, zu Mal "Die Fahrt hinaus" einen ganz anderen Blickwinkel auf diese Figur bietet.


    Es sind die Ideale die Rachel in sich aufgesogen hat, zum Teil auch ihre bisherige Unwissenheit (z.B über die Sexualität zwischen Mann und Frau) die sie mit heraufbeschworen haben - die sie letztendlich an ihrem Leben scheitern lassen. Die Gefühle die sie sucht, können nicht real sein, sie sind an Ideal geknüpft und als sie merkt das man sie nie zu hundert Prozent erfüllen kann, kann sie dies kaum ertragen. Sie merkt das ihr selbst Terence nie wirklich genug sein wird, das sie nach so viel mehr Sucht ohne das sie es klar zu benennen weiß. Doch es bleibt ihr dann erspart sich damit genauer auseinander zu setzen. Woolf lässt Rachel sterben. Als Symbol dafür das sie nur scheitern konnte. Das an diesen Vorstellungen alles zerrbrechen kann. In der Welt wie sie Rachel nun erfahren hat, hätte sie nur unglücklich werden müssen. So aber kann sie selbst für immer glücklich bleiben.


    Für mich war der Roman ein wahrer Lesegenuss und ich hätte noch ewig weiter lesen mögen. Doch alles hat ein Ende und daher bleibt nur noch zu sagen:


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Normalerweise liebe ich die Bücher von Virginia Woolf und sauge sie geradezu in mich hinein. Dieses Mal fand ich die Lektüre anstrengend. Ich habe keinen Zugang zu den Charakteren gefunden und hatte auch Probleme, in die Handlung hinein zu finden. Das fand ich selbst schade, denn genau das, was mir sonst an den Romanen von Virginia Woolf gefällt, hat mir dieses Mal den Zugang verwehrt. Vielleicht war es einfach nicht der richtige Zeitpunkt für den Roman.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Virginia Woolf - Die Fahrt hinaus“ zu „Virginia Woolf - Die Fahrt hinaus / The Voyage out“ geändert.