Anna Quindlen - Die Seele des Ganzen

  • Originaltitel: One True Thing


    Klappentext (wegen Spoiler geändert):
    Als Ellen Gulden erfährt, dass ihre Mutter Krebs hat, ist die Krankheit schon weit fortgeschritten, und ihr Vater besteht darauf, dass sie ihre Karriere in Manhatten aufgibt, um nach Hause zurückzukehren und Kate zu pflegen. Ellen war immer das hochbegabte Wunschkind gewesen, die ihrem anspruchsvollen Vater, dem Professor für Literatur, nacheiferte, und Kate war stets die mütterlichste aller Mütter, eben die Seele des Ganzen. So wie sie wollte Ellen nie leben. Aber jetzt, da sie ständig mit ihrer Mutter zusammen ist, erfährt Ellen vieles über Kates Leben, über ihre Sehnsüchte und Entscheidungen, von denen sie sich nie eine Vorstellung gemacht hatte. Und ihr Vater erweist sich als längst nicht so lebenstüchtig und souverän, wie sich immer gab.
    Kate Guldens Schmerzen werden immer heftiger, die Morphiumdosierungen immer höher. Ellen ist überzeugt, dass die Leiden der Mutter nicht mehr zu ertragen sind. Vor Gericht sagt sie später, dass sie es nicht getan habe, aber die Frage nach der Schuld am Tod der Mutter wird die junge Frau nie wieder loslassen.


    Das muss man sich vorstellen: Eine Familie besteht aus fünf Mitgliedern, dem Professor-Vater, der an der örtlichen Universität unterrichtet , zwei Söhnen, die außerhalb studieren, und der Tochter, die ihre Traumarbeitsstelle hat. Wer mit moralischem Druck dazu verpflichtet wird, sein bisheriges Leben aufzugeben, die schwerkranke Mutter zu pflegen und den Haushalt ist Schuss zu halten, ist die Tochter!
    Der Vater hat anscheinend 12 Stunden am Tag Anwesenheitspflicht an der Universität, und die Söhne erscheinen kurz in den Ferien, wo ihnen von der überlasteten Schwester ein Thanksgiving-Diner à la Mama vorgesetzt wird, kommen an Weihnachten mit Geschenken vorbei, aber keiner der drei Herren kommt auf die Idee, der erschöpften Ellen eine paar freie Tage zu ermöglichen und sich selbst um die Mutter zu kümmern.
    Allerdings kann man dies nicht allein den Brüdern anlasten. Unter den Schuldgefühlen, mit denen der Vater sie immer wieder gehorsam macht, hat Ellen die Pflege der Mutter ganz an sich gebunden, lehnt sogar zunächst den Beistand eines häuslichen Pflegedienstes ab.
    Die Person der Mutter mit ihrer Selbstlosigkeit, ihrer Aufopferung für Ehemann, Familie und Frauenkreis, ihrer allumfassenden Liebe war mir nicht geheuer. Auch wenn die Mutter nicht so blind war wie die Tochter glaubte (Seitensprünge des Vaters), hat sie ihre eigenen Gefühle und Wünsche immer zugunsten anderer zurückgestellt. Mir sind in Büchern die Figuren mit Ecken und Kanten lieber, und Kate war mir eindeutig zu rund und zu weich.
    Auch den Vater fand ich als intellektuell-lebensuntüchtigen Patriarchen überzeichnet.


    Nach dem Tod der Mutter bricht der Spannungsbogen ab, obwohl das Buch noch weitere 130 Seiten hat, und obwohl die Gerichtsverhandlung noch bevorsteht. Es fehlt die Intensität, mit der Kates Sterbeprozess geschildert wurde.
    Doch auch nach dem Urteil geht es noch 20 Seiten weiter: Ellens Selbstfindung und die Erkenntnis ihrer wahren Bestimmung. Das war mir zu dick aufgetragen.



    Nach diesem Buch wurde der Film Familiensache mit einer tollen Meryl Streep als Kate (Oscarnominierung) gedreht.


    Marie


    (off-topic:@ Siebenstein, ich hoffe, Dich nicht allzusehr enttäuscht zu haben, weil mir das Buch nicht besonders gefällt)

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Deine Kritik kann ich gut nachvollziehen. Natürlich ist die Erwartungshaltung der männlichen Familienmitglieder gegenüber der Tochter zum Haareraufen und die Mutter, die ihr Licht permanent unter den Scheffel stellt, würde man manchmal am liebsten schütteln. War es nicht so, dass die Tochter erst kurz vor dem Tod der Mutter erfahren hat, wie belesen diese im Grunde war? Wie gefangen muss diese Frau in den Konventionen des amerikanischen Kleinstadtdaseins gewesen sein und wie traurig ist es, wenn man bedenkt, dass durchaus Anknüpfungspunkte da gewesen wären, die Mutter und Tochter einander hätten nahe bringen können. Das war es vor allem, was mich an dem Buch damals interessiert hat. Die behutsame Annäherung der beiden fand ich einfühlsam beschrieben und einige Szenen (Stichwort: Badewanne) haben mich sehr berührt.


    Meryl Streep schätze ich als Schauspielerin sehr, deshalb wollte ich mir den Film damals auch unbedingt ansehen - danke nochmals fürs Erinnern. :wink:


    Herzliche Grüße
    Siebenstein

    :montag: Judith Hermann - Daheim


    "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."
    (Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen)


  • Nach Deiner Rezi, Marie, werde ich mir dieses Buch sicherlich nicht zumuten.


    Ich sah allerdings den Film und war SEHR beeindruckt. Da ich nicht nur Bücherfan, sondern auch Kinofan bin, macht es mir nichts aus, hier also dem Film den Vorrang zu geben: Er ist m.E. sehenswert!

  • @ Tom, ich war bisher der Meinung: Wenn ein Film gut ist, wie gut muss dann erst das Buch sein, nach dem er gedreht wurde. Trifft auf diesen Fall leider nicht zu.


    @ Siebenstein, ich sag Dir per PN etwas dazu.


    Marie

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