Paul Auster - Mr. Vertigo

  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Ich brauchte ein wenig um reinzukommen, aber dann war es eine tolle Geschichte. Zeitkolorit, Phantastik + Melancholie.
  • Inhalt:


    Dies ist ein Buch, das mich vor ein Dilemma stellt: wie viel vom Inhalt soll ich hier preisgeben, ohne denjenigen, die den Roman noch lesen wollen, das Vergnügen zu nehmen?


    Der Klappentext meiner Taschenbuchausgabe hat es sich einfach gemacht und so erfährt der Leser nur folgendes:


    Zitat


    Auf einem Jahrmarkt in Kansas spaziert im Jahre 1927 der zwölfjährige Waisenjunge Walter Clairborne Rawley durch die Lüfte. Es ist der Beginn einer wundersamen Karriere. Doch bald geraten Walt - frech, scharfzüngig und nie um einen Trick verlegen - und sein Lehrmeister Yehudi ins Visier derSchurken und Gangster Amerikas.
    Paul Austers abenteuerlicher Roman ist ein Gleichnis von ökonomischen Aufstieg und moralischem Verfall, ein Spiel mit den Mythen und Idealen eines Landes, das sich noch unschuldig wähnt, doch längst durch Gier und Übermut gefährdet ist.


    Ich werde mich darauf beschränken, hier nur noch ein paar Details zu nennen, ohne euch das große Ganze hinter dem Handlungsstrang zu verraten.


    Der Roman beginnt im Jahr 1924 in Missouri, wo der ungarische Meister Yehudi den 9-jährigen Waisenjungen Walter mit dem Versprechen ködert, dass er den Jungen dazu anleiten wird, drei Jahre später zu fliegen. Die Erzählung wird von Walt im Rückblick erzählt, dementsprechend handelt es sich hier um einen Ich-Erzähler.
    Um die Gabe des Levitierens zu erlernen, muss Walt 33 Stufen durchlaufen, die ihn seelisch und körperlich disziplinieren. Dieser Vorgang und das anschließende Training finden in der "Welthauptsadt der Langeweile" (O-Ton Walt) statt. Walt, kleiner Hitzkopf, hat Probleme damit, sich in die kleine Gemeinschaft in Cibola, Kansas einzuleben, passt sich nach einer längeren Phase der Rebellion aber doch an und findet in seinen Wohngenossen Mutter Sue, Äsop und dem Meister wahre Freunde.


    Nachdem Walt sich mit der neuen Lebenssituation abgefunden hat, macht er beachtliche Fortschritte im Zwischenmenschlichen und in der Levitation. Wie aus dem Klappentext bekannt ist, erlebt Walt nach drei Jahren seinen ersten öffentlichen Auftritt und macht sich bald einen Namen. Doch wo es Ruhm gibt, gibt es auch Neider. In dieser Geschiche ist Walts Onkel Slim der Schurke, der das Leben seines Neffens immer wieder auf schockierende Weise kreuzt.


    Soviel zum Inhalt. Alles weitere möchte ich nicht vorweg nehmen.


    Meine Meinung:


    Auf mich hat das Buch eine sehr intensive Ausstrahlung gehabt. Auch wenn der Leser immer eine gewisse Distanz zur Handlung behält, wird er doch in den Strudel des Geschehens hineingezogen. Insbesondere die Enden der vier Teile hinterlassen eine Gänsehaut - es geschehen mitunter sehr schockierende Ereignisse. Deshalb bin ich froh, viel Zeit für das Buch gehabt zu haben.


    Paul Auster gelingt es, den Leser an seinen Träumen teilhaben zu lassen - die Überwindung der Schwerkraft, den Traum vom Fliegen und die Hoffnung darauf, "es zu schaffen". Selbst in der Übersetzung mag man an die Vision eines fliegenden Menschen zu glauben und kurzfristig die Naturgesetze zu vergessen.
    Was mir ebenfalls gut gefiel, ist Austers Appell an die Vernunft und das verantwortungsgefühl seiner Leser. Er betont immer wieder offensichtlich und zwischen den Zeilen, dass jeder Aktion eine Reaktion folgt, über deren Konsequenzen man sich bewusst sein muss.


    Das Ende des Romans lässt viele Fäden zusammenlaufen und ist sehr stimmig! Die gesamte letzte Seite greift nochmal das Wunderbare auf, das überall im Roman aufblitzt!


    "Mr. Vertigo" war für mich ein wunderbarer Jahresabschluss und -auftakt!
    Mein Monatshighlight! :thumleft:

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Oh je Fezzig, da hast du erneut ein Buch "entdeckt", das mich zum Lesen verführt.
    Für das neue Jahr 2007 wünsche ich mir viel zusätzliche Freizeit und zahlreiche wache Nächte. :wink:
    Bis dahin habe ich es mir schon mal notiert.
    Gruß Wirbelwind


    :study: Sabine Thiesler, Der Kindersammler

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Ich sehe gerade, dass ich oben die gebundene Ausgabe verlinkt habe. Es gibt das Buch natürlich auch schon als TB.


    Wirbelwind: bei mir musste "Mr. Vertigo" erst über 3 Jahre im Regal reifen, mehrmals angelesen, dann weggestellt und nun durchgelesen werden, damit ich es zu schätzen wußte! Und nun überlege ich stark, ob ich es nicht für "den besten Auster" halte, den ich bisher gelesen habe... (es war leider noch nicht soviel, aber das wenige hat mich bisher doch sehr beeindruckt).

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Ein geniales Buch, mein erstes von Paul Auster. Ich erinnere mich, dass ich mit dem Buch nicht klar kam. Nachdem ich einige andere Bücher von Auster gelesen hatte, nahm ich mir "Mr. Vertigo" ein zweites Mal vor - und war total begeistert.


    Damals, als die Rezensionen hier im Büchertreff noch ziemlich durcheinander gingen, hatte ich es unter Paul Auster - Stadt aus Glas empfohlen.
    Außergewöhnlich fand ich, wie Auster es schafft, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, man selbst könne die Schwerkraft auch überwinden und fliegen, wenn man nur die richtige Anleitung bekommt. (Wenn man auch im praktischen Leben auf diesbezügliche Versuche verzichten sollte :-, )


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Paul Auster scheint einer von den Autoren zu sein, bei denen es etwas braucht, bis man mit ihnen richtig warm wird. Mein erstes Buch, das ich von ihm gelesen habe, war "Mond ueber Manhatten". Das hat mir damals nicht besonders gefallen. Vor zwei Jahren habe ich mich dann ermahnt, Auster noch eine Chance zu geben und habe "Stadt aus Glas" gelesen. Und siehe da: Es gefiel mir. Nun hat mich Deine Rezension, Fezzig, neugierig auf "Mr. Vertigo" gemacht. Ich galube, Paul Auster und ich werden noch richtig gute Freunde werden!


    Gruss mofre

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















    Einmal editiert, zuletzt von mofre ()

  • Schön, wenn man beim Erstellen einer Rezension schon erahnen kann, wer sich zu Wort melden wird. Ich fühle mich hier wirklich sehr zuhause! :flower:
    Durch die Suche hatte ich aber auch schon deinen Beitrag gelesen und wußte, dass dir "Mr. Vertigo" auch gefallen hat.


    Zitat

    Original von Marie
    Außergewöhnlich fand ich, wie Auster es schafft, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, man selbst könne die Schwerkraft auch überwinden und fliegen, wenn man nur die richtige Anleitung bekommt. (Wenn man auch im praktischen Leben auf diesbezügliche Versuche verzichten sollte :-, )


    Marie


    Das hat mich auch beeindruckt!


    ACHTUNG SPOILER ENDE!




    Zitat

    Original von mofre
    Mein erstes Buch, das ich von ihm gelesen habe, war "Mond ueber Manhatten". Das hat mir damals nicht besonders gefallen.
    Gruss mofre


    "Mond über Manhattan" war auch mein erster Auster. Er wurde dann lange Zeit zu meinem Lieblingsroman, doch letztens habe ich festgestellt, dass ich mich nur noch an Bruchstücke erinnere. Zeit, für einen Re-Read.


    Hier habe ich auch "Music of chance" (Musik des Zufalls) vorgestellt: Paul Auster - The music of chance

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Paul Auster hat mich schon zum zweiten mal (nach „Die Musik des Zufalls“) vollkommen überzeugt. Er hat die Gabe seine Leser richtig zu fesseln, denn man möchte bei seinen Geschichten immer unbedingt wissen wie es weiter geht. Daher habe ich das Buch in einem Ritt durchgelesen.

  • Auch ich bin wieder einfach nur begeistert von diesem Werk von Paul Auster. Ich glaube, ich habe inzwischen 6 seiner Bücher gelesen, und jedes hat mich irgendwie begeistert.
    Hier ist die Geschichte auch wieder etwas strange und abgefahren, aber das ist es auch, auf was man in jedem Buch von Paul Auster trifft. Er erzählt seine Geschichten so, dass sie wirklich realistisch wirken und man diese Bücher nur verschlingen kann :).
    Im Vergleich zu den anderen Auster Büchern hat mir das wieder besonders gut gefallen, jedoch ist "Musik des Zufalls" immer noch bei mit der absolute Spitzenreiter.


    Als nächstes wartet "Leviathan" auf mich, bin schon sehr gespannt und werde darüber berichten ;)


    Lg Lene :)

    Die Zeit vergeht. Sie weiß es nicht besser.
    (Erich Kästner)

  • Ich finde es sehr interessant, wie Auster Wirklichkeit und Phantasie in seinen Büchern verschmelzen lässt. Darauf muss man sich einlassen, dann kann man das Lesen geniessen. Walt könnte ein ganz normales Kind des beginnenden 20. Jahrhunderts sein, das sich irgendwie durchs Leben schlägt und ein Faible für Baseball hat, wenn er da nicht noch zufällig die Gabe des Schwebens hätte, aus der sein Mentor und Manager eine grossartige Karriere basteln will :) Was Walt dann so erlebt, ist sehr kurzweilig und teilweise auch berührend.

  • Ich habe mich am Anfang etwas schwer mit dem Buch getan. Ich fand es einfach schrecklich, von den Stufen zu lesen und was Walt über sich ergehen lassen muss.
    Aber nachdem Walt das geschafft hatte, hat mich das Buch nur noch begeistert. Ich war allerdings sehr überrascht,


    Der Schlusssatz hat mich sehr berührt. Ein tolles Buch, das mich immer noch im Kopf beschäftigt. :thumleft:

  • Gerne grabe ich diesen alten Thread wieder hervor, denn vermutlich hat es kein Buch von Paul Auster verdient, nicht regelmässig empfohlen zu werden. Überbordende Begeisterung empfand ich bei diesem Buch leider nicht, aber "Mr. Vertigo" bietet sehr gute Unterhaltung. Die Geschichte ist ungewöhnlich, die Sprache ist einfach und nicht verschnörkelt, ich wurde als Leser regelrecht in die Geschichte gerissen und wollte stets wissen, wie es nun weiter geht, und es gab diverse überraschende Wendungen. In diesem Sinne kann ich den Roman dringend weiterempfehlen.
    Persönlich erwarte ich in Austers Büchern stets etwas "Symbolik", ein Spiel zu Identitäten und Einfluss der Zufälle im Leben. Das war hier eher kein Thema, aber bezüglich meiner Erwartungshaltung kann ja der Roman nichts für. Vielleicht hatte ich auch das Pech mit Austers "New York-Trilogie" einfach sein bestes Werk zu lesen und die anschliessenden Bücher konnten sich meiner Meinung nach nicht daran messen (ich kenne aber auch noch nicht alle seine Romane). Dennoch lese ich auch weiterhin gerne Bücher von ihm, denn auch ein mittelmässiger Roman von Paul Auster ist garantiert keine Zeitverschwendung!


    Der amerikanische Originaltitel lautet übrigens auch "Mr. Vertigo", nachfolgend der Link zur aktuellen Ausgabe

  • @Nungesser, Du hattest also während des Lesens nicht das Gefühl, als könntest Du abheben und schweben? Das kann ich immer noch nachempfinden, wenn ich an das Buch denke. O:-)

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)