Peter Handke – Die morawische Nacht

  • Original: Deutsch, 2008


    INHALT:

    In einer Neumondnacht lädt ein »ehemaliger Autor« die Freunde seines Lebens auf sein Hausboot am Ufer der Morawa, einem serbischen Nebenfluß der Donau, um ihnen eine Geschichte zu erzählen. Sie führt zu den Orten, an denen alles begann, sie erzählt seine Lebensreise durch Europa.


    BEMERKUNGEN:

    Der Titel ist doppeldeutig: einerseits Ort der Rahmenhandlung auf einem Hausboot auf der Morawa, das sich “Morawische Nacht” nennt. Und andererseits Zeitangabe jenes Treffens zwischen Hausbootbesitzer, einem ehemaligem Autor, und seinen Kumpanen während einer “morawischen Nacht”. Örtliche Begrenztheit und zeitliche Umreissung als Erzählausgangspunkt für einen Rückblick des Ex-Autors auf seine gerade abgeschlossene Europareise, fast immer verbunden mit einem Gang zu den Quellen, wo er Bekannte wiedersieht, bzw dann sich auch seiner Heimat nähert. Diese befindet sich in Österreich, das er vor Jahren in einer Ablehnung verlassen hat. Und hier zeigt sich auf mehrerlei Weise die Verwandtschaft des Ex-Autors mit Handke: Da ist der ehemalige Internatsschüler, der früh Erfolgreiche, der Reisende, der Sich Auflehnende gegen das Muffige und Kleine seiner Ursprünge… etc. Doch im Hier und Heute scheint er langsam manch Zwist und inneren Widerstand abgelegt zu haben. Versöhnt? So ist diese Erzählung auch zu einem verborgenen Teil autobiographisch geprägt?!


    Der Erzähler des Erzählten wiederum ist einer jener Kumpane, der im Dorf bei der Anliegestelle des Bootes, Porodin, in einer “serbischen Enklave” gelegen, lebt. Wir befinden uns in einer Nachkriegszeit, und unschwer erkennen wir die Folgen des bosnisch-serbischen Krieges… Hier ergreift Handke indirekt auch Partei für jene in der belagerten Enklave, die steinebeworfen nur, aus ihrer Zone hinausfahren können. Hier und an einer anderen Stelle könnte man eventuell die Parteinahme kritisieren. Aber stehen wir nicht zu oft wie selbstverständlich auf der “anderen” – und natürlich total guten! - Seite?


    Die einzelnen Dutzend Kapitel sind jeweils Etappen auf dem Weg, teils mit Hinblicken auf die erwähnte, gemeinsam verbrachte Nacht.


    Bei Handke kann man garnicht anders als die unglaubliche (m.E.) Sprache herauszustellen. Was für ein feines Beobachten und Beschreiben, das von einer geschärften Wahrnehmung zeugt. Dabei zirkelt der Autor oft um ein Wort, einen Ausdruck, versucht eine noch grössere Annäherung an das Gemeinte, wiederholt sich, nimmt sich zurück, verbessert sich, stellt sich und uns präzisierende Fragen. So stellt er sich selbst und uns dauernd erneut in Frage. Immer wieder dann Wortschöpfungen oder Gebrauch von selten gewordenen Worten, die aber genau das Gemeinte treffen. Ein Genuss!


    Danke an Peter Handke, und Empfehlung an die Vorgewarnten!


    ZUM AUTOR:

    Peter Handke, geb. am 6.Dezember 1942 in Griffen/Kärnten. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Nach seiner Kindheit, die er im Berliner Ostsektor und in Griffen verlebte, studierte er nach seinem Abitur 1961 in Graz Jura. 1965 brach er nach der Veröffentlichung seines ersten Romans sein Studium ab und arbeitet seither als freiberuflicher Schriftsteller. Er lebte zunächst in Graz, dann in Düsseldorf und Berlin, Paris, Kronberg im Taunus, in den USA und ab 1979 längere Zeit in Salzburg. Zur Zeit wohnt er in Chaville in Frankreich.


    Neben seinem umfangreichen eigenen Werk hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy...


    1973 wurde Peter Handke mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet und 2007 erhielt er den Berliner Heinrich-Heine-Preis, 2008 den Thomas-Mann-Literaturpreis, 2009 wurde er mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis ausgezeichnet. Dann mit dem Ibsen-Preis. Im Jahre 2019 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt


    Weiterführende Links zu Peter Handke:

    http://www.tour-literatur.de/L…_autoren/handke_links.htm

    (Quelle: amaz.de; wikipedia; Autorenlink)


    Publisher ‏ : ‎ Suhrkamp Verlag; 2nd edition (17 Aug. 2009)

    Language ‏ : ‎ German

    Paperback ‏ : ‎ 560 pages

    ISBN-10 ‏ : ‎ 3518461087

    ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3518461082

    Dimensions ‏ : ‎ 10.9 x 2.8 x 17.7 cm

  • Und so viel Flehen war in der Welt, stummes, soviel Flehen, in so vielen Augen wie vielleicht noch nie. Und so viel Seufzen war zu hören, für den, der Ohren hatte zu hören, schamhaftes, sprachloses, wie noch nie. Nur die Dreisten, die innerlich Feisten, die Schamlosen überlebten ? Nein, auch die Scham hatte überlebt, nur anders, als es geschrieben stand. Und sie stumm Flehenden und die sprachlos Seufzenden verlangten, ja, lechzten danach, gefragt zu werden, und ebenso, Antwort zu bekommen.

    Peter Handke – Die morawische Nacht (S.421)


    Immer wieder war es dem Jungen passiert, dass er sich in etwas verschaut hatte. Eine Baumkrone bewegte sich draussen im Schulhof, und er geriet dann im Schauen da mitten hinein. Ein Spatz badete in einem Sandloch, und er badete mit. Ein Kiesel rollte unten in der Strömung eines Wildbachs, und er rollte mit. War es tatsächlich ein Sichverschauen, ein Sichverlieren ? Eher war das jeweils ein Schauen, aus dem, nach und nach, ein Übergehen in das Angeschaute wurde – worin er sich nicht verlor, im Gegenteil : übergegangen ins Angeschaute, ging dieses über auf ihn.

    Peter Handke – Die morawische Nacht (S 539)