Barbara Kingsolver - Demon Copperhead

  • Kurzmeinung

    Abroxas
    Mit eindringlicher Stimme erzählte Geschichte der titelgebenden Figur und einer Region
  • Kurzmeinung

    drawe
    Eine bemerkenswert sozialkritische Adaption des Dickens-Romans!
  • Inhaltsangabe:

    Ein Trailer in den Wäldern Virginias. Das Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der Hillbilly-Cadillac-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups, aufgegeben von sämtlichen Superhelden und dem Rest der Nation. Hier kommt Demon Copperhead zur Welt – die Mutter ist noch ein Teenie und frisch auf Entzug, der Vater tot. Ein Junge mit kupferroten Haaren, großer Klappe und einem zähen Überlebenswillen, bei allem, was das Leben für ihn bereithält: Armut, Pflegefamilien, Drogensucht, erste Liebe und unermesslichen Verlust. Es ist seine Geschichte, erzählt in seinen Worten, unbekümmert, vorwitzig, von übersprudelnder Lebenskraft. Ein mitreißender Roman über ein Leben auf Messers Schneide, in dem in jedem Moment Hoffnung aufscheint. (Quelle: Verlagsseite)


    Die Autorin:

    Barbara Kingsolver, 1955 geboren, hat Romane, Gedichte, Essays und ein Memoir verfasst, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet wurden, u.a. mit dem Pen/Faulkner Award, dem Orange Prize for Fiction, dem Women's Prize for Fiction und dem Pulitzer-Preis. Sie wurde mit der National Medal of Humanities geehrt und ist Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Aufgewachsen in Kentucky, lebt sie heute mit ihrer Familie auf einer Farm in Virginia. (Quelle: Verlagsseite)


    Übersetzung: Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren


    Meinung:


    Zitat

    "Erstmal musste ichs schaffen, auf die Welt zu kommen"


    Beginnend mit seiner Geburt erzählt Demon seine Lebensgeschichte. Von Anfang an ist sein Leben hart, seine Chancen sind gering. Seine Mutter ist blutjung, drogenabhängig und mittellos, der Vater ist tot. Demon und seine Mutter leben in einem Trailer in einer Region von West Virginia, der es wirtschaftlich schlecht geht, da die Kohleindustrie brach liegt.Die Bewohner werden als Hinterwäldler, bzw. Hillbillys beschimpft. Hohe Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit lässt die Zahl der Suchtkranken steigen. Demons Mutter schafft den Entzug für ihren Sohn, doch als ihr Stoner begegnet und sie ihn heiratet, geht es wieder abwärts. Sie stirbt nach einer Überdosis und Demon macht seinen Weg durch das amerikanische Pflegesystem. Die eine Familie braucht das Pflegegeld für die eigene Familie und vernachlässigt dabei Demon, an anderer Stelle wird er als Arbeitskraft ausgenutzt.

    An einer Stelle meint man, es gehe bergauf, doch ein Sportunfall beendet Demons Weg zum Aufstieg, einem glücklichen Leben. Er wird drogenabhängig, bekommt Schmerzmittel verschrieben. Doch sein Überlebenswille ist stark und er kämpft weiter für ein besseres Leben.

    Barba Kingsolver beschreibt eindrücklich das Leben eines Perspektivlosen, das amerikanische Pflegesystem, die Opioidepidemie Amerikas, bei der die Pharmaindustrie Geld macht auf dem Rücken der Armen, die sozialen Missstände in Amerika, die Hillbilly-Mentalität.

    In einem Interview aus dem Jahre 2023 erzählt die Autorin, dass es mittlerweile zwischen 15 und 35 Prozent Kinder gibt, die nicht von ihren Eltern großgezogen werden, weil diese drogenabhängig, tot oder im Knast sind.

    Inspiriert wurde Barbara Kingsolver von Charles Dickens" David Copperfield, der die damalige Gesellschaft und ihr herzloses System kritisiert.

    Gemeinsam mit Hernan Diaz (für "Treue") erhielt Barbara Kingsolver mit "Demon Copperhead" 2023 den Pulitzerpreis.

    Der Geschichte des Demon bin ich sehr gerne gefolgt, das Buch entwickelte sich zum pageturner.


  • Der Ich-Erzähler Demon Copperhead beginnt die Geschichte mit seiner Geburt in einem Trailer in Virginia und man folgt ihm durch eine harte und steinige Jugend, geprägt von Armut in einer wirtschaftlich hoffnungslosen Gegend. Sein Vater ist schon vor seiner Geburt gestorben und seine Junkie-Teenie-Mutter stirbt früh, der gewalttätige Stiefvater interessiert sich nicht für ihn. Deshalb wird er durch verschiedene Pflegefamilien geschleust und es wird jedes Mal eher schlimmer als besser. Er muß selbst als Kind bereits hart arbeiten und hungern, aber er hat einen unbändigen Lebenswillen und Freunde in einer ähnlichen Lage an der Seite. Durch die Behörden bzw. das Jugendamt erfährt er keine Unterstützung. Und dann gibt es doch jemanden, der es gut mit ihm meint und er kommt in den Haushalt von Coach Winfield. Hier fühlt er sich quasi wie im Schlaraffenland. Es ist die beste Zeit seines Lebens und er hat Erfolg im Sport, wird vom Waisenkind zum Footballstar, lernt die erste Liebe und – es bleibt wieder nicht aus - die Drogen kennen. Aber auch dort ziehen irgendwann dunkle Wolken auf, woran er nicht unschuldig ist. Aber er hat auch noch ein anderes Talent, mit dem er nun durchstartet. Die Autorin beschreibt dieses Auf und Ab im Leben von Demon realistisch, berührend und auch bewunderswert, mit welcher Stärke und auch einem gewissen Optimismus er sein Leben meistert und nicht aufgibt.




    Durch den Podcast Eat.Read.Sleep wurde ich auf die Autorin aufmerksam. Dort wurde die Giftholzbibel besprochen. Nachdem ich diese begeistert gelesen habe und von ihrem neuen Buch erfahren habe, war es für mich klar, daß ich dieses sofort lesen wollte. Und ich muß sagen, mit dieser Neuerscheinung hat sie mich absolut überzeugt.


    Der Schreibstil ist fesselnd und dieser Schmöker war leider viel zu schnell gelesen. Von diesen über 800 Seiten war keine einzige überflüssig oder hatte Längen. Ein amerikanischer Gesellschaftsroman, der jetzt schon ein heißer Anwärter auf das Buch des Jahres 2024 für mich ist.


    Von mir eine absolute Leseempfehlung!

  • In den Bergen der südlichen Appalachen im US-Bundesstaat Virginia: In einem Trailer wird Demon Copperhead, eigentlich Damon Fields, geboren. Sein Vater ist bei seiner Geburt schon tot, seine Mutter zu diesem Zeitpunkt erst 18 Jahre alt und auf Entzug. Armut, Sucht und Verluste werden auch das weitere Leben von Demon prägen…


    „Demon Copperhead“ ist ein Roman von Barbara Kingsolver, der mit dem Pulitzer-Preis für Literatur im Jahr 2023 ausgezeichnet worden ist.


    Meine Meinung:

    Der Roman setzt sich aus 64 Kapiteln zusammen. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Demon, überwiegend chronologisch. Die Handlung deckt eine breite Zeitspanne ab: die komplette Kindheit und Jugend des Protagonisten bis ins Erwachsenenalter.


    Der Schreibstil ist sehr anschaulich und leichtfüßig. Die saloppe, direkte Erzählstimme mit ihrer bisweilen recht vulgären Sprache wirkt authentisch. Sie sorgt dafür, dass die Atmosphäre trotz der sehr ernsten Themen nicht zu düster wird.


    Es handelt sich um eine Neuerzählung von „David Copperfield“ aus der Feder von Charles Dickens, die jedoch auch ohne Vorkenntnisse des Klassikers funktioniert. Dabei steht der titelgebende Demon klar im Vordergrund der Geschichte. Sein Innenleben ist sehr gut nachvollziehbar. Auch die übrigen Figuren sind interessant ausgestaltet, wenn auch manche etwas schablonenhaft erscheinen.


    Inhaltlich gibt es mehrere Hauptthemen: die Opioidepidemie, institutionelle Armut und Perspektivlosigkeit im ländlichen Herzen der USA. Leid und Gewalt in unterschiedlichen Formen tauchen immer wieder auf. Wie die literarische Vorlage von Dickens übt der Roman Gesellschaftskritik und regt zum Nachdenken an.


    Mit seinen mehr als 800 Seiten ist der Roman keineswegs eine kurze Lektüre. Dennoch beinhaltet die unterhaltsame, mitreißende Geschichte erstaunlich wenige Längen und hat trotz des großen Umfangs mein Leseinteresse aufrechterhalten können.


    Das deutsche Cover ist leider recht nichtssagend und unspektakulär. Der knappe, aber treffende Titel wurde erfreulicherweise wortgetreu aus dem amerikanischen Original übernommen.


    Mein Fazit:

    Mit „Demon Copperhead“ ist Barbara Kingsolver ein Roman gelungen, der verdientermaßen viel Anerkennung bekommen hat. Eine definitiv empfehlenswerte Lektüre.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Mir war gar nicht bewusst, dass das so ein dicker Klotz ist. Aber es klingt sehr reizvoll! Danke Euch für die schönen Rezensionen.

  • Der David Copperfield des 21. Jahrhunderts


    Was für ein Wurf! Hier erzählt Demon seine Lebensgeschichte und die hat es weiß Gott in sich. Die Handlung wird konsequent aus Demons Sicht erzählt, rückblickend, was einerseits bedeutet, dass er alles mit seinen kindlichen Augen sieht, andererseits natürlich als nun Erwachsener auch kommentieren kann. Die Geschichte des Waisenjungen, dem das Schicksal übel mitspielt, bleibt so dicht an Dickens Vorlage, dass es fast unglaublich erscheint, dass es dennoch eine so eindrucksvolle, intensive, eigene Geschichte ist - eingebunden in das 21. Jahrhundert im ländlichen Virginia mit allem Elend, das man sich vorstellen kann.

    Nicht nur zahlreiche Charaktere sind nahezu identisch angelegt, die Namen, Beziehungen, selbst kleinste Ereignisse werden "übernommen". Die Autorin spielt mit ihrer Vorlage, dass es eine Freude ist. Dass beide Romane 64 Kapitel haben, ist da nur das Tüpfelchen auf i. Die Adaption funktioniert so unglaublich gut, ich bin noch ganz hin und weg von diesem Roman. Als neuen Aspekt hat die Autorin die Opioidkrise (seit 1999), die in den USA besonders durch das Schmerzmittel Oxycontin ausgelöst wurde, hinzugenommen. Was da passiert ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. Das Ergebnis läßt sich so zusammenfassen: "Eine ganze Generation von Kindern wuchs ohne Familie auf." (S. 809) Ganz entscheidend wirkt sich diese Krise auch auf die Handlung des Romans und das Schicksal von Demon und seinen Weggefährten aus. Der Autorin war es ein Anliegen, für ihre Heimatregion eine Lanze zu brechen, deren Einwohner*innen als Hillbillies verschrien sind. Was die Opioidkrise gerade in diesem Landstrich angerichtet hat, ist schlicht furchtbar.


    Der Roman liest sich ganz wunderbar. Die Stimme des Ich-Erzählers Demon ist witzig, ironisch, schlagfertig, originell und aufgeweckt. Wer David Copperfield kennt, wird begeistert sein und die, die das Buch von 1849/50 bisher nicht gelesen haben, werden es ebenso sein. Eine erschütternde (soziale Missstände, Pflegeelternsystem, Kinderarbeit, Drogen) und gleichzeitig auf humorvolle Weise unterhaltende Lektüre, die mich mit einem Aspekt in der US-Gesellschaft, nämlich der Opioid-Krise, vertraut gemacht hat, die ich bisher so nicht wahrgenommen hatte.


    Sehr zu empfehlen ist nicht nur dieser großartige mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman, sondern auch die Serie "Painkiller" auf Netflix, die sich genau mit dieser Krise und dem Mittel Oxycontin beschäfti

  • Einer, den niemand will


    Für diesen 832-Seiten-Roman mit dem schrecklichen Cover habe ich knappe vier Wochen gebraucht. Ich habe mich jeden einzelnen Tag so aufs Lesen gefreut, das war bei den beiden Vorgängern in 2024 leider nicht so. Trotz der Fülle hat also jeder Satz seine Daseinsberechtigung. Und ich muss Frau Kingsolver ein dickes Kompliment aussprechen, dass sie als ältere Autorin so zielgenau die Sprache der Jugend getroffen hat. Und das über diese vielen Seiten bravourös durchgehalten hat. Das Kompliment gebührt natürlich auch dem Übersetzer Dirk van Gunsteren.


    Demon Copperhead, die Titelfigur und unser Ich-Erzähler, hat es schwer in dem Drogensumpf zu überleben, der schon seine Ankunft in dieser Welt überschattet. Sein Vater starb schon vor seiner Geburt und der Stiefvater, Stoner, ist brutal, machtgeil und weiß mit Demon nichts Besseres anzufangen, als ihn pausenlos aufs Übelste zu schikanieren. Demons Mom ist eigentlich nicht so übel, aber leider drogenabhängig und unfähig, sich gegenüber Stoner durchzusetzen. Als sie jung an einer Überdosis Oxy stirbt, verschwindet Stoner fluchtartig aus dem Trailer und aus Demons Leben.


    Die Nachbarn: S. 19: „Und da sitzen sie jetzt auf ihren zusammengeflickten Veranden, eine einzige große Sippe, und über dem Ur-Trailer weht die ausgefranste Flagge. Eine Nation unter Schrott.“


    Nach dem Tod der Mutter wird Demon pausenlos rumgereicht. Die Pflegefamilien, die ihn widerstrebend aufnehmen, nutzen ihn nur aus, nehmen aber das Pflegegeld gern entgegen. Oder lassen ihn arbeiten und kassieren den kompletten Lohn. Und Demon hat immer, immer Hunger. Auch der umschwärmte Held seiner Jugend, Fast Forward, nutzt alle seine Fans und Bewunderer letztlich nur aus.


    Echte Freunde gibt es wenige: Maggot, der im Nachbartrailer wohnt. Tommy, den Demon auf einer Farm kennenlernt, auf der auch das Idol seiner Jugend, Fast Forward, wohnt. Und: nicht zu vergessen Angus, die Unvergleichliche. Bleiben noch die wenigen Erwachsenen, die es gut mit Demon meinen, die Peggots und Tante June. Später noch der Coach der Footballmannschaft, bei dem Demon dann zuletzt unterkommt. Die seltsame Großmutter väterlicherseits, Betsy Woodall, tut zwar Gutes, aber spät und nur zu ihren Konditionen.


    Was zeichnet nun Demon aus, dass er die ganze Hölle übersteht? Jedenfalls bis er zum Coach kommt und dort vom Waisenkind zum Footballstar avanciert. Er ist hart im Nehmen, sehr hart und ja, er kann super-gut Comics zeichnen. Damit verdient er später sogar Geld. – S. 432: „Jeder warnt einen vor schlechten Einflüssen, aber das, was einen zu Fall bringt, trägt man schon in sich.“


    S. 713: „Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.“ So trauert Demon um seine große Liebe Dori, eine weitere Drogentote in den Appalachen.


    Zur Kritik gegen das System in USA: Tante June hatte ja einen Zwischenlover, der Pharma-Vertreter ist. Und da wird ganz deutlich erklärt, dass jeder Arzt, wenn er nur genug verschreibt, dann eine Golfreise machen darf oder alternativ nach Hawaii reisen kann. Für tutti, versteht sich. (siehe S. 372)


    Mehr heftige Kritik gegen die Nation unter Schrott, bzw. für die sog. Hunde Amerikas gibt es jede Menge. Z. B. S. 576: „Wir waren mit Fernsehserien aufgewachsen, in denen Eltern Jobs hatten und die Kinder ihre Großstadtträume durch die Wahl ihrer Garderobe und mit Strömen von Geld auslebten.“


    Befeuern solche Fernsehsendungen die armen Leute mit einer Wut und möchten sie, dass der Rest der Welt leiden soll, weil sie selbst so leiden? Siehe S. 754: „Man fragt sich, wie viel von dem, was auf der Welt passiert, von dieser Wut befeuert wird.“ – Demon dagegen ist erstaunlich unwütig. Selbst, als er in seiner größten Not aufs Übelste bestohlen wird, reagiert er nicht aggressiv.


    Fazit: Hier ist Barbara Kingsolver ein großer Wurf gelungen, zu Recht mit Preisen überhäuft. Warum allerdings ausgerechnet ein Mainstream-Preis (der Pulitzer) an so ein amerika-kritisches Werk vergeben wird, ist mir schleierhaft. – Einfach eintauchen und sich diesem unwiderstehlichen Sog hingeben. Bin mal gespannt, ob mir dieses Jahr noch so ein super Highlight vergönnt sein wird. Vielleicht der Pulitzer-Zwilling? *****

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • ninchenpinchen Bitte schau doch vorher, ob es schon einen Rezensionsthread gibt, ehe Du einen neuen erstellst. Ich hab deinen Beitrag jetzt an den bestehenden angehängt. Danke :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier