Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer / ‎ Machi to futashika na kabe

  • Kurzmeinung

    Gonozal
    erinnert sehr stark an Hartboiled Wonderland und Kafka am Strand
  • Kurzmeinung

    drawe
    Ein poetisches Spiel mit verschiedenen Realitäten, schwebend-leicht erzählt.

  • Klappentext:


    Eine geheimnisvolle Bibliothek in einer ummauerten Stadt am Ende der Welt, die nur betreten kann, wer seinen eigenen Schatten zurücklässt: Hier lebt das wahre Ich des Mädchens, in das sich der namenlose Erzähler mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt. Er macht sich auf die Suche, gelangt in die Stadt, doch das Mädchen erkennt ihn nicht mehr.


    Unter rätselhaften Umständen gerät der Erzähler zurück in die Welt jenseits der Mauer. Er zieht nach Tokio, arbeitet im Buchhandel, hat wechselnde Freundinnen. Die Erinnerung an das Mädchen und die ummauerte Stadt lässt ihn nicht los. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bücherei in der Präfektur Fukushima an. Die Realität gerät knirschend ins Wanken – und der Erzähler muss sich fragen, was ihn an diese Welt bindet.


    Mein Hör-Eindruck:


    „An jenem Sommerabend wanderten wir, den süße Duft von Gräsern atmend, flussaufwärts. ... Das klare kühle Wasser umspülte unsere Knöchel, und unsere Füße sanken tief ein in den feinen Flusssand – wie in weiche Wolken wie in einem Traum. Ich war siebzehn, du ein Jahr jünger.“


    So poetisch beginnt Murakamis neuer Roman: mit den Erinnerungen ein eine Jugendliebe, die er zeit seines Lebens nicht vergessen kann. Die Suche nach dieser Jugendliebe ist der Motor des Romans. Das namenlose Mädchen ist es nämlich, die ihm von der „Stadt mit den ungewissen Mauern“ erzählte. In dieser Stadt lebe ihr wahres Ich, hier auf dieser Welt sei sie nur ein Schatten dieses Ichs.


    Die Sehnsucht nach dem Mädchen und der geheimnisvollen Stadt macht den Protagonisten zu einem einsamen und ständig suchenden Menschen. Die Stadt wird bewacht von einem mächtigen Wächter – man denkt an Kafka. Sie wird beherrscht von einer großen Bibliothek, kann nur von goldenen Einhörnern und von Menschen ohne Schatten betreten werden. Auch das Motiv ist bekannt, z. B. aus Volksmärchen und Adalbert v. Chamissos „Peter Schlemihl“: der Menschen verkauft seinen Schatten an eine übernatürliche Macht, um Vorteile – Geld, ewiges Leben – zu erlangen. Der Vorteil in diesem Roman besteht darin, in eine andere Realität zu gelangen und eine andere Identität zu leben.


    Mit diesen Realitäten beginnt der Autor ein fein konstruiertes Spiel. Beide Realitäten bestehen nebeneinander. Die eine ist geprägt von der Zeit, die andere nicht; in ihr hat der Uhrturm keine Zeiger und das Ablaufen der Zeit ist aufgehoben. Eine weitere Realität erschafft er mit dem Inventar der Bibliothek: hier werden Träume gesammelt, und das Traumlesen wird zur Lebensaufgabe des Protagonisten. Der Inhalt der Träume? Das lässt der Autor offen.



    Mit den Realitäten verbunden sind die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die Frage nach dem Ich und dem zweiten Ich, dem Schatten-Ich, Verschwinden und Materialisieren, Geister und reale Menschen, und alle diese Ebenen vermischt der Autor mit leichter Hand. Dadurch erhält der Roman eine merkwürdig schwebende Konsistenz, wie Seifenblasen, die in der Luft schweben und nicht eindeutig zu fassen sind. Die vielen Wiederholungen, v. a. bei den Erinnerungen an das junge Mädchen seiner Jugend, tragen zu diesem Eindruck bei; sie wirken wie ein Singsang, der den Leser einlullt. Etwas weniger Wiederholungen hätten dem Roman aber durchaus gutgetan.


    Ausgesprochen witzig fand ich daher, wie der Autor einen Kontrapunkt schafft und die uns bekannte Realität in den Roman hineinholt: der Protagonist kauft ein, er wäscht und bügelt seine Hemden und gibt sich allen möglichen Haushalts-Tätigkeiten hin – und zwar immer montags. Sein Alltag ist also streng geordnet und der Zeit unterworfen, und umso schwebender werden die anderen Realitäten.


    Das Hörbuch wurde eingelesen von David Nathan. Sein Vorlesen erleichtert den Zugang zum Roman. Seine Art, sehr oft am Satzende die Stimmkurve nach oben zu führen, verleiht dem jeweiligen Satz etwas Offenes und Fragendes. Das kann einen stören. Man kann diese schwebenden Satzenden aber auch als Interpretation sehen, passend zum schwebenden Inhalt.


    Fazit: ein langatmig komponierter Roman mit großer Sogkraft!


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • drawe

    Hat den Titel des Themas von „Haruki Murakami - Die Stadt mit der ungewissen Mauer“ zu „Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ geändert.
  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ zu „Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer / ‎ Machi to futashika na kabe“ geändert.
  • Mit diesem Roman greift MURAKAMI – wie der international renommierte japanische Autor selbst uns in einem Nachwort verrät – auf eine seiner ersten Kurzgeschichten aus den 80iger Jahren zurück. Mit dieser mehrfach verschobenen Erweiterung und Neubearbeitung legt der Autor möglicherweise sein “Alterswerk” vor.


    Den Büchern des Japaners wird man am wenigsten dadurch gerecht, dass man nach dem Plot, also dem Handlungsverlauf, sucht. In den meisten Fällen dienen diese Geschichten nur als eine Art Rahmen, in denen MURAKAMI seine typischen (und inzwischen weltberühmten) Fäden zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen spinnen kann. Das Spiel mit Metaphern und die fast schmerzhaften Wiederholungen bestimmte Einzelheiten schaffen eher eine charakteristische, oft geradezu meditative Stimmung, als dass sie eine übliche literarische Leseerfahrung bieten.

    Um es anders zu sagen: Erfahrene MURAKAMI-Leser erwarten nicht wirklich eine in sich kohärente und logisch aufgebaute Handlung, in der ein Erzählstrang zu einem befriedigenden Ende geführt wird.


    Diesmal werden von Anfang an zwei klar unterscheidbare Realitäts-Dimensionen eingeführt: Die titelgebende Fantasie-Stadt entsteht zunächst als Gedankenspiel innerhalb einer jugendlichen Liebesgeschichte und wird im Laufe der Erzählung ein übergreifendes metaphorisches Thema, dass den Protagonisten bis weit ins Erwachsenenalter begleitet (bzw. ihn dort wieder einholt).

    Die durch eine unbezwingbare Mauer umgebene und vom Rest der Welt völlig isolierte Stadt weist eine Reihe von Absurditäten auf: In ihr gelten besondere Regeln und Gewohnheiten, hier existiert eine besondere Tierart und die Bibliothek, in der die Hauptfigur eine Weile tätig ist, beinhaltet keine Bücher sondern alte Träume in speziellen Gefäßen.

    Das aus anderen Büchern bekannte Thema “Schatten” spielt auch hier eine Rolle: Beim Eintritt in die Stadt muss der eigene Schatten beim strengen Tor-Wächter abgegeben werden (und die Chance, ihn lebend zurückzubekommen, ist ziemlich gering).


    Nach einem ersten Aufenthalt gelingt dem Erzähler eine Rückkehr in die “richtigen” Welt und leitet dort später eine Kleinstadt-Bibliothek. Hier entspannt sich eine zunächst vergleichsweise “normale” Geschichte, in der sein Vorgänger, ein sehr sonderbarer Junge und eine Café-Besitzerin eine Rolle spielen.

    Nachdem sich zeigt, dass der frühere Bibliothekar bereits längere Zeit tot ist und nur als Geist präsent ist und der Junge unbedingt in die geheime und verborgene Stadt möchte, zerbricht die Illusion einer klar definierten Realität endgültig.


    Bemerkenswert ist, dass der Erzähler selbst innerhalb der Geschichte – sozusagen auf einer erklärenden Meta-Ebene – Betrachtungen über den Schreibstil des “Magischen Realismus” anstellt und den Widerstreit zwischen den zwei Welten offen thematisiert.


    Was soll man nun von all dem halten?

    Es liegt nahe, dass MURAKAMI letztlich über unterschiedliche menschliche Bewusstseinsebenen schreibt, die wohl im Allgemeinen klar getrennt sind, sich gelegentlich aber (z.B. in Träumen) miteinander vermischen. Man könnte also versuchen, in den Bildern und Metaphern Bezüge zu solchen (verborgenen) Bewusstseins-Dimensionen und ihren Verstrickungen zu finden.

    Möglich wäre es auch, einfach in die “Verrücktheiten” dieser Erzählform einzutauchen und sich auf den Wellen der unzähligen Wiederholungen treiben zu lassen – ohne den Versuch einer intellektuellen psychologischen oder literarischen Analyse.

    Manche MURAKAMI-Fans können sich vielleicht auch einfach an den lieb gewordenen Absurditäten erfreuen und sich zwischendurch auf die kleinen Inseln normaler Erzählstruktur zurückziehen.


    Wenn auch diese – und sicher noch ein paar andere – Zugänge möglich sind und einen potentiellen Lesegenuss versprechen, ist doch davon auszugehen, dass MURAKAMI viele andere Leser/innen eher verstören und überfordern wird.

    Dazu trägt sicher auch bei, dass die Gesamtgeschichte nicht sehr kohärent wirkt: Man merkt ihr an, dass sie in der Überarbeitung aus zwei Teilgeschichten zusammengesetzt wurde.

    Es könnte gut sein, dass letztlich nur die gewohnt perfekte Vorlesestimme von David Nathan dafür verantwortlich war, dass ich diesen Roman bis zum – wenig erhellenden – Ende durchgehalten habe.