Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer / 街とその不確かな壁 (Machi to Sono Futashika na Kabe)

  • Kurzmeinung

    Gonozal
    erinnert sehr stark an Hartboiled Wonderland und Kafka am Strand
  • Kurzmeinung

    drawe
    Ein poetisches Spiel mit verschiedenen Realitäten, schwebend-leicht erzählt.
  • Haruki Murakamis neuester Roman Die Stadt und ihre ungewisse Mauer ist eine gelungene Neuauflage bekannter Murakami-Elemente, mit der Fans des Kultautors gewiss auf ihre Kosten kommen werden. Kritiker werden hingegen nicht umgestimmt werden und Unentschiedene müssen sich auf Eigenwilligkeiten gefasst machen, die nicht jedermanns Sache sind. Aber es gibt auch für Neuleser viel zu entdecken, es ist sicherlich nicht der schlechteste Startpunkt, um in Murakamis Fantasiewelten einzutauchen.


    Eine Rückkehr in die Stadt der Träume


    Eine Rückkehr zum Alten ist dieser Roman auch in einem anderen Sinne. Wie im Nachwort dargelegt, beruht der Roman auf einer frühen, gleichnamigen Kurzgeschichte, mit der Murakami nie zufrieden war und die nie in Buchform erschienen ist. Der Wunsch, nochmal Hand an den Stoff zu legen, trieb den Schriftsteller länger um, einen ersten Versuch unternahm er in Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt, das aus zwei scheinbar unzusammenhängenden Handlungssträngen besteht. Es handelt sich dabei um jene Geschichte vom Traumleser, der in eine geheimnisumwitterte, von einer Mauer umgebene Stadt kommt und in deren Bibliothek Träume aus ihren Schlummer holt und "ausliest".

    Aber: Ein Vorwissen ist für die Lektüre ganz und gar nicht nötig. Die Geschichten stehen alle für sich allein.


    [Im vorliegenden, die Handlung beschreibenden Teil finden sich Spoiler aus dem ersten Drittel des Romans bis zu "Wie ein gutes Medley".]


    Im vorliegenden Roman bildet dieser Stoff den ersten Teil von insgesamt dreien und wird auf neue Weise forterzählt. Der Roman beginnt mit den Jugenderinnerungen des namenlosen Protagonisten (Im Folgenden einfach "Protag"), vor allem an seine große Jugendliebe (ebenfalls namenlos, nennen wir sie l'amante). Es handelt sich um "die große Liebe", die ihm sein ganzes Leben lang nicht loslassen wird, doch steht sie unter einem dunklen Stern. L'amante vertraut ihm an, dass sie nur der Schatten ihrer selbst sei, ihr wahres Ich lebe in einer weit entfernten Stadt, die von einer Mauer umgeben sei und deren Bewohner allesamt keinen Schatten besäßen. Protag hört ihr geduldig zu, hilft ihr auch dabei, die Details der Stadt zu bestimmen, eine Art gemeinsames Spiel zwischen den beiden Verliebten. Doch eines Tages bricht der Kontakt zu ihr völlig ab. Sie ist nicht zu erreichen, ein Hinweis auf ihren Verbleib oder auf den Grund des Verschwindens gibt es nicht. Protag bleibt mit gebrochenem Herzen zurück.


    Im Wechsel dazu wird erzählt, wie Protag als junger Erwachsener in jener mysteriösen Stadt ankommt, am Stadttor beim griesgrämigen Wächter seinen Schatten abgibt, der fortan als Individuum außerhalb der Stadt verbleibt, in der Bibliothek als Traumleser arbeitet und dabei vom "wahren Selbst" seiner Jugendliebe (ungealtert), die in der Bibliothek arbeitet, unterstützt, aber nicht erkannt wird. Doch kommen Protag schon bald Zweifel, ob er in der Stadt bleiben solle, die zu verlassen ihm aber nicht mehr gestattet ist.


    Ein Tor zu einer anderen Welt


    Ohne zu viel zu verraten, setzt der zweite und größte Teil des Buches wieder in der realen, d.h. uns vertrauten Welt an. Protag ist aus der ummauerten Stadt zurückgekehrt, weiß aber nicht, wie. Auch bleibt seine Sehnsucht nach seiner großen Liebe ungestillt. Und so schickt Protag sich an, den Lebensweg eines wahren Murakami-Hauptcharakters zu beschreiten: Er studiert, bleibt für sich allein, arbeitet (hier als Buchhändler), hört Jazz oder Klassik, trinkt Whisky, kocht Spaghetti. (ohnehin füllt dieser Roman viele Felder auf der berühmten Haruki Murakami Bingo-Karte.)


    Im mittleren Alter treibt Protag eine ihm unerklärliche Unruhe um, er beschließt sein ohnehin ungebundenes wie unerfülltes Leben umzukrempeln und als Bibliothekar in der Provinz neu zu beginnen, er muss es einfach tun. Es ist, als wäre das Schicksal hier am Werk, denn an jenem Ort trifft Protag auf den eigenartigen Herrn Koyasu wie auch auf einige andere skurrile Charaktere, die auf übernatürlichen Umwege Protag mit seiner Vergangenheit konfrontieren...


    Wie ein gutes Medley


    Aus dieser Schilderung werden Murakami-Veteranen bereits einige Motive und Themen erahnen. In dieser Hinsicht bleibt sich Murakami treu, auch stilistisch bleibt er weitgehend bei seinem bekannten Stil. So ist die sich allmählich, sehr allmählich auffächernde Mystery-Handlung verwoben mit ruhig und nüchtern geschilderten Beschreibungen des Einzelgängerdaseins, das Protag führt, und mit mäandernden Monologen der unerschütterlichen, aber etwas schnarchnasigen Hauptfigur über dessen Gefühlswelt. Auch die Nebenfiguren, die hier und da zu Wort kommen, bleiben angesichts der übernatürlichen Elemente bewundernswert gefasst, was hier und da auch etwas alberne Dialogzeilen zeitigt. Obwohl Murakami hier mit einem einzigen, nicht allzu dicken Buch auskommt (und nicht mit zwei oder gleich drei Backsteinen), sollte man sich auf ein gemächliches Tempo einstellen.


    Lässt man sich aber auf den Erzählstil ein, entfaltet sich ein hypnotischer Sog, der von der Aura des Geheimnisvollen ausgeht, den zu erzeugen kaum einer versteht wie Murakami. Man taucht ein in die Gefühlswelt des orientierungslosen Protagonisten und kann fasziniert verfolgen, wie anmutig sich die verschiedenen Erzählebenen aneinanderschmiegen und in den Dialog treten. Nur darauf, dass sich am Ende alle Unklarheiten explizit auflösen, wird man vergebens warten. Wie jene Welten ineinander in Beziehung stehen und welche Rolle die einzelnen Charaktere zwischen ihnen einnehmen, bleibt umnebelt von zahlreichen Anspielungen und einer Murakami ganz eigenen Mystik. Doch gerade das macht ja den Reiz an Murakamis Welten aus.



    Fazit


    Mit Die Stadt und ihre ungewisse Mauer legt Haruki Murakami ein altersreifes Spätwerk vor, das zwar weder neue Wege beschreitet, noch mit dem Feuer eines Jungautors aufwarten kann, aber dafür vom jahrzehntelang erarbeiteten schriftstellerischen Können Murakamis zehren kann. Es bietet insbesondere eingefleischten Fans das, was sie an dem Autor sonst schätzen. Es dürfte auch eher jenen zusagen, die Die Ermordung des Commendatore oder 1Q84 zu langatmig fanden (Disclaimer: Ich mochte beide).

    Es ist ein bisschen wie bei der einen Band, die nach langer, langer Funkstille (gut, untätig war Murakami zwischenzeitlich nicht gewesen) ein neues Album herausbringt, das zwar nur ein vorsichtiges Update des altbekannten Sounds darstellt, aber dennoch einfach gut ist und von Spielfreude zeugt.

    Gewohntes wird hier mit geübter Stilfertigkeit vorgebracht, was auch interessierte Neuleser faszinieren kann. Als gestandener Murakami-Leser hatte ich besonderes Vergnügen, wieder in dessen von Rätseln und Geheimnissen durchsetzten Traumwelten einzutauchen.

  • Danke für Deine Rezension, ich habe sie mit Interesse gelesen.

    Ich habe das Hörbuch gestern Abend zu Ende gehört und muss diesen merkwürdig schwebenden Roman erst einmal ruhen lassen.

    Nur darauf, dass sich am Ende alle Unklarheiten explizit auflösen, wird man vergebens warten.

    Eigentlich war das meine Sorge während der letzten Hör-Stunde: er wird doch nicht so ein billiges Ende finden, wo sich alles auflöst...

    Mir hat das Spiel mit den Schatten und dem Bewusstsein gut gefallen, auch wenn sich der Autor manchmal peinlich eng an Freud anlehnt. Und an Platon.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe das Hörbuch gestern Abend zu Ende gehört und muss diesen merkwürdig schwebenden Roman erst einmal ruhen lassen.

    Ich lese den Roman ja gerade und frage mich zunehmend, ob ich mich von Murakami wegentwickelt habe... :pale:

  • und frage mich zunehmend, ob ich mich von Murakami wegentwickelt habe...

    :lol:

    Ich bin kein Murakami-Kenner und habe den Roman völlig unbelastet gehört. Ich habe durchaus verstanden, dass es hier um verschiedene Realitäten geht, um den Wechsel von einer Realität in eine andere, es geht um Zeit und Bewusstsein, um das wahre ich (ws immer das ist) und den Schatten des Ichs - aber wie gesagt: alles schwebt. Für mich schwebt der ganze Roman.


    Inwiefern hast Du Dich von Murakami wegentwickelt?

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Inwiefern hast Du Dich von Murakami wegentwickelt?

    Mich nervt, wie er Frauen schreibt. Ich habe noch nie eine Autorin erlebt, die so über Männer schreibt, wie Murakami über Frauen. Ich spoiler mal, ist ja inhaltlich:

    Finde ich albern. Noch dazu diese ständigen Wiederholungen: "Ich war 17, du 16." Ja, das wissen wir. :loool: Und generell finde ich ihn etwas schwülstig.

  • Die Stellen in Deinem Spoiler sind mir gar nicht aufgefallen :uups: . Mir haben die Frauenfiguren grundsätzlich nicht sonderlich gefallen. Ich habe mich z. B. gefragt, wieso



    dazu diese ständigen Wiederholungen: "Ich war 17, du 16."

    Die haben mich auch gestört, ich hab's an anderer Stelle schon mal gesagt. Nicht nur diese Altersangaben, auch sonst sind es einige Passagen, die sich wiederholen, teilweise wortwörtlich. Wenn es Erinnerungen sind, kann ich das ja verstehen, aber das ist nicht immer der Fall.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich hatte erst letztens mit einer Kollegin ein Gespräch, in dem wir dahingehend übereinstimmten, dass Murakami wohl irgendwie ein Autor für Männer sei. Das bezog sich vor allem auf seine Hauptfiguren, aber auch auf seine komischen Frauenfiguren. Hält natürlich niemanden davon ab, Murakami trotzdem gerne zu lesen, aber einige seiner Frauen-Beschreibungen wirken schon wie Alte-Männer-Phantasien, das galt schon, als Murakami noch so alt war die die Hauptfigur in diesem Roman.


    Dass die Café-Besitzerin,


    Einen Teil der Wiederholungen entschuldige ich damit, dass sie die Obsession des erzählenden Protagonisten widerspiegeln, natürlich kommt er immer mit der selben Leier. Aber ja, auch daneben gibt es unnötige Redundanzen.

  • Einen Teil der Wiederholungen entschuldige ich damit, dass sie die Obsession des erzählenden Protagonisten widerspiegeln,

    Ja, das kann ich nachvollziehen, vor allem in Bezug auf seine Jugendliebe, ihre Plastiksandalen, das Waten im Fluss (das Motiv wiederholt sich ja mehrmals im Roman) und so fort. Trotzdem: weniger Wiederholungen hätten der Lyrik des Romans keinen Abbruch getan.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Hält natürlich niemanden davon ab, Murakami trotzdem gerne zu lesen, aber einige seiner Frauen-Beschreibungen wirken schon wie Alte-Männer-Phantasien, das galt schon, als Murakami noch so alt war die die Hauptfigur in diesem Roman.

    Ich habe, glaube ich, anderswo hier schon mal das Interview zwischen Mieko Kawakami und ihm gepostet, wo sie ihn fragt, warum er so seltsame Frauenfiguren schreibt. :loool: Die Lektüre lohnt sich: Interview

    Einen Teil der Wiederholungen entschuldige ich damit, dass sie die Obsession des erzählenden Protagonisten widerspiegeln, natürlich kommt er immer mit der selben Leier. Aber ja, auch daneben gibt es unnötige Redundanzen.

    Ja, das stimmt natürlich. Aber er hat auch so erzählerische Eigenheiten, zum Beispiel die ständigen, manchmal wirklich unnötigen Einschübe in Klammern.


    Und, was ich noch interessant fand: Der Protagonist ist ja der Erzähler, aber die Briefe des Mädchens haben genau denselben Duktus. Soll mir das etwas sagen oder ist das einfach nicht gut konstruiert, dass sie keine eigene Erzählstimme hat? (Naja, vielleicht erfahre ich das auch noch bis zum Ende des Buches.)

  • Ich hatte erst letztens mit einer Kollegin ein Gespräch, in dem wir dahingehend übereinstimmten, dass Murakami wohl irgendwie ein Autor für Männer sei.

    Interessant - ich kenne nämlich hauptsächlich Frauen, die ihn teilweise geradezu verehren.


    Mir liegt er auch nicht.