Haruki Murakamis neuester Roman Die Stadt und ihre ungewisse Mauer ist eine gelungene Neuauflage bekannter Murakami-Elemente, mit der Fans des Kultautors gewiss auf ihre Kosten kommen werden. Kritiker werden hingegen nicht umgestimmt werden und Unentschiedene müssen sich auf Eigenwilligkeiten gefasst machen, die nicht jedermanns Sache sind. Aber es gibt auch für Neuleser viel zu entdecken, es ist sicherlich nicht der schlechteste Startpunkt, um in Murakamis Fantasiewelten einzutauchen.
Eine Rückkehr in die Stadt der Träume
Eine Rückkehr zum Alten ist dieser Roman auch in einem anderen Sinne. Wie im Nachwort dargelegt, beruht der Roman auf einer frühen, gleichnamigen Kurzgeschichte, mit der Murakami nie zufrieden war und die nie in Buchform erschienen ist. Der Wunsch, nochmal Hand an den Stoff zu legen, trieb den Schriftsteller länger um, einen ersten Versuch unternahm er in Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt, das aus zwei scheinbar unzusammenhängenden Handlungssträngen besteht. Es handelt sich dabei um jene Geschichte vom Traumleser, der in eine geheimnisumwitterte, von einer Mauer umgebene Stadt kommt und in deren Bibliothek Träume aus ihren Schlummer holt und "ausliest".
Aber: Ein Vorwissen ist für die Lektüre ganz und gar nicht nötig. Die Geschichten stehen alle für sich allein.
[Im vorliegenden, die Handlung beschreibenden Teil finden sich Spoiler aus dem ersten Drittel des Romans bis zu "Wie ein gutes Medley".]
Im vorliegenden Roman bildet dieser Stoff den ersten Teil von insgesamt dreien und wird auf neue Weise forterzählt. Der Roman beginnt mit den Jugenderinnerungen des namenlosen Protagonisten (Im Folgenden einfach "Protag"), vor allem an seine große Jugendliebe (ebenfalls namenlos, nennen wir sie l'amante). Es handelt sich um "die große Liebe", die ihm sein ganzes Leben lang nicht loslassen wird, doch steht sie unter einem dunklen Stern. L'amante vertraut ihm an, dass sie nur der Schatten ihrer selbst sei, ihr wahres Ich lebe in einer weit entfernten Stadt, die von einer Mauer umgeben sei und deren Bewohner allesamt keinen Schatten besäßen. Protag hört ihr geduldig zu, hilft ihr auch dabei, die Details der Stadt zu bestimmen, eine Art gemeinsames Spiel zwischen den beiden Verliebten. Doch eines Tages bricht der Kontakt zu ihr völlig ab. Sie ist nicht zu erreichen, ein Hinweis auf ihren Verbleib oder auf den Grund des Verschwindens gibt es nicht. Protag bleibt mit gebrochenem Herzen zurück.
Im Wechsel dazu wird erzählt, wie Protag als junger Erwachsener in jener mysteriösen Stadt ankommt, am Stadttor beim griesgrämigen Wächter seinen Schatten abgibt, der fortan als Individuum außerhalb der Stadt verbleibt, in der Bibliothek als Traumleser arbeitet und dabei vom "wahren Selbst" seiner Jugendliebe (ungealtert), die in der Bibliothek arbeitet, unterstützt, aber nicht erkannt wird. Doch kommen Protag schon bald Zweifel, ob er in der Stadt bleiben solle, die zu verlassen ihm aber nicht mehr gestattet ist.
Ein Tor zu einer anderen Welt
Ohne zu viel zu verraten, setzt der zweite und größte Teil des Buches wieder in der realen, d.h. uns vertrauten Welt an. Protag ist aus der ummauerten Stadt zurückgekehrt, weiß aber nicht, wie. Auch bleibt seine Sehnsucht nach seiner großen Liebe ungestillt. Und so schickt Protag sich an, den Lebensweg eines wahren Murakami-Hauptcharakters zu beschreiten: Er studiert, bleibt für sich allein, arbeitet (hier als Buchhändler), hört Jazz oder Klassik, trinkt Whisky, kocht Spaghetti. (ohnehin füllt dieser Roman viele Felder auf der berühmten Haruki Murakami Bingo-Karte.)
Im mittleren Alter treibt Protag eine ihm unerklärliche Unruhe um, er beschließt sein ohnehin ungebundenes wie unerfülltes Leben umzukrempeln und als Bibliothekar in der Provinz neu zu beginnen, er muss es einfach tun. Es ist, als wäre das Schicksal hier am Werk, denn an jenem Ort trifft Protag auf den eigenartigen Herrn Koyasu wie auch auf einige andere skurrile Charaktere, die auf übernatürlichen Umwege Protag mit seiner Vergangenheit konfrontieren...
Wie ein gutes Medley
Aus dieser Schilderung werden Murakami-Veteranen bereits einige Motive und Themen erahnen. In dieser Hinsicht bleibt sich Murakami treu, auch stilistisch bleibt er weitgehend bei seinem bekannten Stil. So ist die sich allmählich, sehr allmählich auffächernde Mystery-Handlung verwoben mit ruhig und nüchtern geschilderten Beschreibungen des Einzelgängerdaseins, das Protag führt, und mit mäandernden Monologen der unerschütterlichen, aber etwas schnarchnasigen Hauptfigur über dessen Gefühlswelt. Auch die Nebenfiguren, die hier und da zu Wort kommen, bleiben angesichts der übernatürlichen Elemente bewundernswert gefasst, was hier und da auch etwas alberne Dialogzeilen zeitigt. Obwohl Murakami hier mit einem einzigen, nicht allzu dicken Buch auskommt (und nicht mit zwei oder gleich drei Backsteinen), sollte man sich auf ein gemächliches Tempo einstellen.
Lässt man sich aber auf den Erzählstil ein, entfaltet sich ein hypnotischer Sog, der von der Aura des Geheimnisvollen ausgeht, den zu erzeugen kaum einer versteht wie Murakami. Man taucht ein in die Gefühlswelt des orientierungslosen Protagonisten und kann fasziniert verfolgen, wie anmutig sich die verschiedenen Erzählebenen aneinanderschmiegen und in den Dialog treten. Nur darauf, dass sich am Ende alle Unklarheiten explizit auflösen, wird man vergebens warten. Wie jene Welten ineinander in Beziehung stehen und welche Rolle die einzelnen Charaktere zwischen ihnen einnehmen, bleibt umnebelt von zahlreichen Anspielungen und einer Murakami ganz eigenen Mystik. Doch gerade das macht ja den Reiz an Murakamis Welten aus.
Fazit
Mit Die Stadt und ihre ungewisse Mauer legt Haruki Murakami ein altersreifes Spätwerk vor, das zwar weder neue Wege beschreitet, noch mit dem Feuer eines Jungautors aufwarten kann, aber dafür vom jahrzehntelang erarbeiteten schriftstellerischen Können Murakamis zehren kann. Es bietet insbesondere eingefleischten Fans das, was sie an dem Autor sonst schätzen. Es dürfte auch eher jenen zusagen, die Die Ermordung des Commendatore oder 1Q84 zu langatmig fanden (Disclaimer: Ich mochte beide).
Es ist ein bisschen wie bei der einen Band, die nach langer, langer Funkstille (gut, untätig war Murakami zwischenzeitlich nicht gewesen) ein neues Album herausbringt, das zwar nur ein vorsichtiges Update des altbekannten Sounds darstellt, aber dennoch einfach gut ist und von Spielfreude zeugt.
Gewohntes wird hier mit geübter Stilfertigkeit vorgebracht, was auch interessierte Neuleser faszinieren kann. Als gestandener Murakami-Leser hatte ich besonderes Vergnügen, wieder in dessen von Rätseln und Geheimnissen durchsetzten Traumwelten einzutauchen.