Franz Werfel - Die vierzig Tage des Musa Dagh (ab 04.11.2023)

  • Die vierzig Tage des Musa Dagh - Anfang bis Ende

    So, unser Thread ist da und die Herausforderung kann für mich am Wochenende beginnen. :lol: Und eine Herausforderung ist der Umfang ja schon. Ich hatte nicht mehr im Kopf wie umfangreich das Buch ist. Aber egal, das schaffen wir. :tanzen:


    Bleibt die Frage, wie wir uns ungefähr einteilen wollen. Die Kapitel sind da leider nicht zielführend, denn die sind sehr unterschiedlich im Umfang. Ich gehe davon aus, dass in jeder Ausgabe das Buch in 3 Bücher unterteilt ist. Richtig?


    In meiner Ausgabe (Fischer Limitierte Sonderausgabe mit 976 Seiten) gibt es statt Klappentext eine Art "Entstehungsgeschichte". Ist das bei Euch auch so?

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich hatte nicht mehr im Kopf wie umfangreich das Buch ist.

    Ich auch nicht. Ich bin ganz erschrocken!

    800 Seiten! Und noch dazu in winziger Schrift!

    Ich habe eine Uralt-Ausgabe von der Deutschen Buchgemeinschaft aus dem Jahr 1958.

    "Entstehungsgeschichte".

    Bei mir nicht, ich kann aber nachschlagen.


    Wegen der Einteilung:

    Die Kapitel sind wirklich sehr unterschiedlich lang. Kap. 6 z. B. nimmt gar kein Ende!

    Kapitel 1 - 3 könnte man zusammenfassen, aber für das 1. Kapitel braucht man in Leserunden erfahrungsgemäß immer bisschen länger. Und wir brauchen sicherlich auch bisschen Zeit für die Recherche.

    Mein Vorschlag daher: können wir auf eine feste Einteilung verzichten und Kapitel für Kapitel lesen? Bei "Gott der Barbaren" funktionierte dieses lockere Verfahren doch bestens.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Mein Vorschlag daher: können wir auf eine feste Einteilung verzichten und Kapitel für Kapitel lesen? Bei "Gott der Barbaren" funktionierte dieses lockere Verfahren doch bestens.

    So machen wir das :D

    Meinen Klappentext stell ich heute Abend hier ein, der war echt interessant

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • So, hier der versprochene Klappentext (noch kleiner gedruckt als der Text im Buch):


    Zitat von Klappentext der Fischer Sonderausgabe von 1993

    Der Berg Mosis südlich des Golfes von Alexandrette, der Musa Dagh, wurde im Sommer 1915, als die grausame Verfolgung der Armenier durch die Jungtürken auch die Dorfgemeinden an der syrischen Küste erreichte, für eine Gruppe von etwa 5000 zum Widerstand entschlossenen Männern und Frauen zur natürlichen Abwehrfestung. Zu Beginn des Jahres 1930 reiste Franz Werfel mit seiner Frau in diesem Gebiet und war durch die Begegnung mit Waisenkindern aus dieser Zeit derart erschüttert, daß er sofort versuchte, überlebende Erwachsene ausfindig zu machen, sie über die Ereignisse und Kämpfe zu befragen und begann, sich Notizen darüber sowie über die Landschaft zu machen: Sein Entschluss, den heroischen Widerstand der Armenier gegen die Übermacht der Türken, das Verbrechen dieses Genozids in Form eines großen Romans ins dauernde Bewusstsein der Europäer zu bringen, war spontan gefaßt. Bis zum Beginn der erste Niederschrift im Juli 1932 - in Deutschland war zu diesem Zeitpunkt die NSDAP gerade als weitaus stärkste Partei aus der Wahl zum sechsten Reichstag hervorgegangen - unternahm Werfel intensive historische Forschungen, um seinem fiktiven Erzählen einen bis in Einzelheiten authentischen Hintergrund geben zu können. Ende Mai 1933 beendete er diese erste Niederschrift, bei deren Durchsicht er, sich selbst vor allzu großer Schwarzweißmalerei und damit Parteinahme warnend, an den Rand schrieb: "Nicht gegen Türken polemisieren."

    Ende November 1933 erschien 'Die vierzig Tage des Musa Dagh'; in Österreich und in der Schweiz wurde das Buch sogleich begeistern aufgenommen, in Deutschland wurde es sofort von offizieller Seite abgelehnt und zwei Monate später verboten.

    Das lässt auf sehr gute Recherche hoffen und gibt uns beim Lesen doch eine große Sicherheit, wie wir Schilderungen aufnehmen und bewerten dürfen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Und hier ist der interessante Link, den Du mir geschickt hattest.


    Außerdem hab ich vor einigen Jahr dieses Buch zum gleichen Thema gelesen. Aber frag mich bitte nicht, warum ich es nicht rezensiert habe - ich weiß es nicht. :uups:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Das lässt auf sehr gute Recherche hoffen und gibt uns beim Lesen doch eine große Sicherheit, wie wir Schilderungen aufnehmen und bewerten dürfen.

    Stimmt, v. a. seine Ermahnung an sich selber, nicht parteiisch zu sein.

    Ich habe bei wikipedia nachgeschaut:


    Im Jahre 1929 reiste Franz Werfel mit Alma Mahler über Kairo nach Jerusalem und weiter nach Damaskus. Ihr Führer zeigte ihnen die großartigen Moscheen der Stadt und die Kaufhäuser. So gelangten sie schließlich auch in die größte Teppichweberei der Stadt. Bei der Führung durch das große Anwesen bemerkten sie überall ausgehungerte Kinder, die Hilfsarbeiten verrichteten. Auf ihre Frage an den Fabrikbesitzer antwortete dieser: „Ach diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und niemand kümmert sich darum. Leisten können sie ja nicht das geringste, sie sind zu schwach dazu“.[2] Auf ihrer weiteren Reise in das libanesische Gebirge sahen sie viele armenische Dörfer, die sich von den türkischen Siedlungen durch ihre Sauberkeit und Blumenpracht unterschieden.

    Das Unrecht, das den Armeniern zugefügt worden war, bewegte Franz Werfel so sehr, dass er noch auf der Reise die Idee eines Romans skizzierte. Um die historischen Details zu erfahren, ließ er sich von dem Gesandten Graf Clauzel alle Protokolle aus dem Pariser Kriegsministerium über die türkischen Gräuel aus dieser Zeit zusenden.[3] Historisch belegt ist der Widerstand auf dem Musa Dağı unter anderem durch den deutschen Konsul in Aleppo Walter Rößler.[4] Auch im Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei des Johannes Lepsius wird das Ereignis erwähnt:

    „Aus Dörfern bei Suidije am Ausfluß des Orontes konnte sich ein Haufe von 4058, darunter 3004 Frauen und Kinder, auf den Dschebel-Musah flüchten. Er wurde an der Küste von einem französischen Kreuzer aufgenommen und nach Alexandrien geborgen.“[5]

    Die Niederschrift von Werfels Buch erfolgte in der Zeit vom Juli 1932 bis März 1933.


    Ich habe nicht verstanden, wieso diese Waisenkinder nicht von den Armeniern selber durchgefüttert werden.
    Werfels Buch wurde übrigens direkt nach Erscheinen bei diesen Bücherverbrennungen symbolisch verbrannt.


    Dann habe ich bisschen über Armenien herumgelesen, und das scheint mir doch eine komplizierte Gemengelage zu sein, weil Siedlungs- und Staatsgebiet jahrhundertelang nicht übereinstimmten. Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es aber nicht um den (unseligen) Nationalstaatsgedanken, sondern um wirtschaftliche und steuerrechtliche Maßnahmen, die die türkischen Armenier benachteiligten.

    Ich denke auch, dass wir uns mal auf Franz Werfel und seine Recherche verlassen. Er wird es uns erzählen.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe nicht verstanden, wieso diese Waisenkinder nicht von den Armeniern selber durchgefüttert werden.

    Weil sie es nicht konnten? Wenn ich den Artikel von Dir aus der bpb richtig verstanden habe, dann ging das Leiden ja direkt weiter, wenn auch unter bolschewistischer Herrschaft. Einen Staat gab es noch nicht, die Überlebenden waren weit verstreut.

    Es braucht wohl einiges an Recherche um durch das Thema durchzusteigen. Allein der Unterschied zwischen dem Verbreitungsgebiet / Lebensraum der Armenier vor 100 Jahren und dem späteren politischen Konstrukt in der ehemaligen UdSSR. Und dann der heutige Status als Staat, dem aber viele frühere "Ländereien" abgehen. Was waren / sind die Ost-armenischen und west-armenischen Lebensräume?

    Du siehst, wir haben wieder ein Thema erwischt, von dem wir echt nichts wissen. :ergeben:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Weil sie es nicht konnten?

    Na ja ...Damaskus liegt kurz vor Grenze zum Libanon, und das Ehepaar Werfel ist damals in den Libanon weitergereist und traf dort - vermutlich weiter oben im Norden - auf diese schönen armenischen Dörfer. Also die Kinder hätten es nicht weit gehabt.

    Ist aber egal jetzt.

    ich habe den Artikel aus der bpb noch nicht gelesen, vielleicht klärt es sich dann.


    Was waren / sind die Ost-armenischen und west-armenischen Lebensräume?

    Ich stelle mir das so vor wie die Situation der Kurden (jetzt mal ohne die Wasserproblematik). Es geht also weniger um die Verbreitung als um Benachteiligungen.

    Eigentlich reicht mir das, ich verlasse mich voll und ganz auf Herrn Werfel.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ihr seid aber schon gut im Thema drin, ich werde mal schauen, ob ich das Buch - Ich hab auch die Fischer Taschenbuchausgabe, in der Klassiker-Ausgabe - in der zweiten Reihe auftreiben oder auf das ebook zurückgreifen muss.


    Die Problematik hat Katerina Poladjan ja in "Hier sind Löwen" aus heutiger armenischer Perspektive dargestellt und den Bogen von der Zeit 1915 bis heute geschlagen und auch, wie das Geschehene die Armenier noch heute umtreibt.

    Veritas temporis filia - Die Wahrheit, Tochter der Zeit (Aulus Gellius)
    :study: Daniel Kehlmann - Lichtspiel :musik:


  • Damaskus liegt kurz vor Grenze zum Libanon

    Puh, ich hab mit Rafik Schami einiges auch an syrischer Geschichte aufgeschnappt, aber das liegt grad tief vergraben. Irgendwas war aber schwierig in der Zeit. Vielleicht zu nah an der Türkei??? Wir werden es lesen

    Ich stelle mir das so vor wie die Situation der Kurden (jetzt mal ohne die Wasserproblematik). Es geht also weniger um die Verbreitung als um Benachteiligungen.

    Ja, ich hab das Gefühl, dass sich da vieles ähnelt in der Geschichte - bis heute.

    Lass uns beginnen und wie beim "Gott der Barbaren" langsam Licht ins Dunkel bringen. Und ich vertraue jetzt auch auf Werfel, der sich ja sehr gute Grundsätze gegeben hat.


    Ihr seid aber schon gut im Thema drin

    Hihi, ja - da haben wir Übung drin seit wir das erste Mal zusammen gelesen haben. :D

    ich werde mal schauen, ob ich das Buch - Ich hab auch die Fischer Taschenbuchausgabe, in der Klassiker-Ausgabe - in der zweiten Reihe auftreiben

    Suchen, suchen :loool:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich winke hier mal kurz 'rein! :winken: Habe "Die vierzig Tage des Musa Dagh" vor etwa 25 Jahren gebannt weginhaliert, nur

    war mir zuviel.


    Bin gespannt, wie euch der Roman gefällt und welche Erkenntnisse er bringt. Viel Freude beim Lesen!

    :study: I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht

    :study: Nadia Murad - Ich bin eure Stimme

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • Die Problematik hat Katerina Poladjan ja in "Hier sind Löwen" aus heutiger armenischer Perspektive dargestellt

    Das ist ein guter Hinweis, das Buch liegt auf meinem SuB (wie so vieles).

    serjena hatte auch eine Lektüreempfehlung.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • ob ich das Buch - Ich hab auch die Fischer Taschenbuchausgabe, in der Klassiker-Ausgabe - in der zweiten Reihe auftreiben oder auf das ebook zurückgreifen muss.

    Ich habe mir gestern auch das ebook geholt, es kostet nur € 0,45.

    Ich will Dir aber nicht die Freude am Suchen und Aufräumen verderben :lol: !

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich hab gestern Abend in Kapitel 1 reingelesen. An den Stil muss ich mich echt erst gewöhnen. Von Absätzen hielt Werfel wohl nicht viel :loool: Aber das wird, das weiß ich. Ich hab ja Erfahrung mit alten Schreibstilen, ob nun in Deutsch oder Englisch.


    Und mir ist gestern erst bewusst geworden, dass der Musa Dagh auf türkischem Gebiet liegt. Ob das damals schon so war, muss ich noch herausfinden. :scratch:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • War ja damals alles das Osmanische Reich, Türkei ja erst nach Atatürk 1920. Und damals gehörten der Libanon und Syrien dazu, Palästina (und ich meine auch der Irak) waren britische Kolonien

    Veritas temporis filia - Die Wahrheit, Tochter der Zeit (Aulus Gellius)
    :study: Daniel Kehlmann - Lichtspiel :musik:


  • War ja damals alles das Osmanische Reich, Türkei ja erst nach Atatürk 1920. Und damals gehörten der Libanon und Syrien dazu, Palästina (und ich meine auch der Irak) waren britische Kolonien

    Danke, das klärt so einige Gedanken :D Ich Gehör zu den Menschen, die die gelesenen Geschichten, wenn möglich, immer Vororten müssen. Dann kann ich mich besser orientieren. :uups:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Kapitel 1 - Teskeré

    Hui, ging jetzt schneller als gedacht. Mir scheint, ich hab mich eingelesen in den Stil. Es ist jetzt nicht mein bevorzugter, aber er stört mich auch nicht wirklich. Insofern alles fein bei mir.


    Wir lernen somit direkt unseren Protagonisten Gabriel Bagradian kennen: einen Schöngeist und Philosophen, Sohn reicher Eltern, fürs Geschäft ungeeignet und daher mit einer Art Apanage freigestellt, sein Leben nach seinen Interessen zu leben. Klingt gut, da würde ich wohl auch nicht nein sagen. :lol:

    Gabriel ist also nach Europa, nach Paris, gezogen, hat sich dort stark assimiliert, eine Familie gegründet und seine Wurzeln in den Hintergrund gerückt. Bis zu dem Moment als ihm durch die schwere Krankheit seines Bruders klar wird, dass dieser ihm sein Leben finanziert hat. Er reist ihm mit Familie hinterher, doch der Bruder ist schneller - sowohl im Reisen als auch im Sterben im Heimatdorf. Auf der Reise dorthin bricht der 1. Weltkrieg aus und die Bagradians sind gefangen im Vorderen Orient. Zunächst eine angenehme Gefangenschaft, so in der Heimat als angesehene Familie. Auch Frau und Sohn scheinen sich wohl zu fühlen. Nur langsam kommen die Gedanken an die Wurzeln zum Tragen, ausgelöst durch seine Meldung beim Militär, da er Offizier der Reserve ist. Aber ist er als Armenier auch Ottomane? Die Antwort bekommen wir am Ende des Kapitels, wo auch die Kapitelüberschrift erklärt wird.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Zu Kapitel 1

    Mir scheint, ich hab mich eingelesen in den Stil.

    Bei dem Satz "Überall quillt das holde Blut aus den Weideflächen" hat es mich allerdings leicht durchzuckt! Ein leichtes Pathos merkt man schon, z. B. auch im Buchtitel "Das Nahende", aber das sei ihm vergönnt bei diesem Thema.


    Das Vorwort aus dem Johannes-Evangelium setzt ja schon Maßstäbe... Ich habe gesehen, dass jedes der drei Bücher mit einem Zitat aus der Offenbarung (= Apokalypse) beginnt. Das passt sehr gut, finde ich. Johannes' Offenbarung war adressiert an Gemeinden in der heutigen Türkei, also die Gegend stimmt, und sie thematisierte das Leid der Verfolgten bzw. beschwor den Untergang der Verfolger.

    Und dieses Vorwort gibt dem Buch etwas Archaisches, etwas Erhabenes; das Erzählte wird eingebunden in Überzeitliches. Du verstehst sicher, was ich meine.


    Was die Gegend angeht: ich habe diesen Berg immer irgendwo am Kaukasus gesucht, aber jetzt lese ich, dass der Berg direkt am Mittelmeer liegt. Ich bin eine geografische Nulpe und muss das heute genau rausfinden.

    Mir geht es da wie Dir: ich muss mich zeitlich und räumlich präzise verorten, sonst habe ich nur Fließsand im Hirn.

    Franz Werfel kommt mir da entgegen: Juli 1914, und auch die Orte werden genannt. Ich muss sie "nur" finden.


    Vom Erzählerischen her finde ich dieses 1. Kapitel genial!

    Wir werden mitten ins Geschehen und die Befindlichkeiten Gabriels geworfen mit diesem Satz: "Wie komme ich hierher?" Ein sehr symbolischer Satz, finde ich... Und neben Gabriel lernen wir sofort eine weitere Hauptperson kennen: diesen Berg, den Gabriel sich gerade erwandert. Er schaut an diesem Frühlingssonntag freundlich aus, aber da sind die "roten Riesenanemonen", "das holde Blut", das den Frieden stört, und auch Gabriel ahnt Unheil. Sein Sohn kommt dazu - und ich vermute, dass damit die Haupt"personen" genannt sind: Vater, Sohn, Berg.


    Werfel hat sich also einen Auslandsarmenier ausgesucht, um diesen Genozid zu erzählen. Wieso nicht einen Einheimischen? Und er hat sich einen reichen, gebildeten, europäisierten Armenier ausgesucht, dem körperliche Arbeit fremd ist. Warum nicht einen Kleinbauern aus einem der Dörfer?

    Ich denke, dass Werfel das deswegen gemacht hat, weil das letztlich seine eigene Perspektive auf das Geschehen ist. Er ist kein Insider, und wenn er das Geschehen aus der Perspektive eines Insiders erzählt, wird es schräg, nicht mehr authentisch.

    Das stellt Werfel aber vor das Problem, diesen gebildeten Halbfranzosen ins Land seiner Väter zu bringen. Und das hat er sehr gut gelöst, finde ich!

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Kapitel 2


    In diesem Kapitel geht es darum, dass der Leser Einblick in die Gemengelage in diesem Eck des Osmanischen Reichs bekommt. Und einen Einblick in die drohende Gefahr.

    Gabriel ist wegen des Pass-Einzugs alarmiert und reist nach Antiochia zum Gouverneur (Kaimakam), aber seine Sorge steigt: der Gouverneur empfängt ihn nicht und v.a. er beachtet ihn nicht, und der Untergebene (Müdir) begegnet ihm mit Ironie und einer Portion Gehässigkeit. Ansonsten wimmelt er ihn ab. Kein gutes Zeichen!


    Gabriel erkennt ihn an seiner Kleidung sofort als Jungtürken. Diese Jungtürken habe ich bisher immer für eine ähnliche Gruppierung gehalten wie die Jungdeutschen und die Giovane d'Italia, Ziel also eine Verfassung, Grundrechte, politische Partizipation etc. Aber in diesem Roman sind wir im 20. und nicht mehr im 19. Jahrhundert, die Bewegung scheint also noch anzudauern und hat offensichtlich politische Brisanz. Obwohl die Türkei doch eine Verfassung hat... :scratch:, aber vielleicht ist die nicht liberal genug?

    Mich würde auch interessieren, woher auf einmal diese nationalistischen Töne kommen, aber vielleicht erzählt es uns der Autor.


    Jedenfalls beschließt Gabriel, sich vom Militärdienst freizukaufen und den Krieg in seiner Villa auf dem Lande auszusitzen.


    Und jetzt führt er uns auf den Bazar und erzählt uns, wie sich das Land damals darbot. Mir hat diese Szene sehr gut gefallen! Da wuselt alles durcheinander, ein Mikrokosmos der Türkei:

    Syrer, Kurden, Armenier, Griechen, Araber, Beduinen, Christen und Muslime und vielleicht auch noch andere, egal, alle sind sie Osmanen und "zu einer unbeschreiblichen Einheit zusammengeschlossen."


    Aber Gabriels Gefühl der Entfremdung und einer drohenden Gefahr wächst.


    Franz Werfel ist ein kluger Erzähler, aber wir schauen ihm ins Konzept. Jetzt kommt nämlich der nächste Kunstgriff. Werfel schickt seinen Helden ins Hamam und dort erfährt er Konkretes über einen Aufstand, befeuert von den Briten (was logisch ist) und die geplante Entwaffnung der armenischen Soldaten.

    Eigentlich ist diese Szene ja komisch: zwei nackte Männer, der eine noch dazu ein Fettmops, der kaum sein Tuch um seine edlen Teile schlingen kann :lol: !

    Trotzdem: Gabriel vergisst seinen Vorsatz, den Krieg auszusitzen, und stellt sich gegen den Gouverneur, er ergreift Partei für sein Volk.

    Unklug.


    Dass die Lage ernst ist, bestätigt ihm auch der alte türkische Freund der Familie. Er vergrößert sogar Gabriels Sorge, da als Erstes die "Großen und Angesehenen" der Armenier verhaftet werden sollen, die Jungtürken brauchen vermutlich Geld, der Staat braucht Geld, er befindet sich seit Jahren im Krieg (Balkan).

    Der Freund rät ihm zu "Vertrauen und Verschwiegenheit". Aber dafür ist es vermutlich schon zu spät nach der Nackedei-Konfrontation.


    Und das Erzählerische: Das hat Werfel absolut souverän gelöst! Keine hölzernen Dialoge, die nur der Information des Lesers dienen, keine Exkurse und dergleichen, sondern alles ergibt sich von selber aus der Handlung.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • So, im Forum alles nachgelesen, v.a. bei den Wichteln - jetzt hab ich Zeit für Dich :)

    Bei dem Satz "Überall quillt das holde Blut aus den Weideflächen" hat es mich allerdings leicht durchzuckt! Ein leichtes Pathos merkt man schon, z. B. auch im Buchtitel "Das Nahende", aber das sei ihm vergönnt bei diesem Thema.

    Ja, da waren ein paar solcher Sätze, die uns heute zucken lassen. Aber das Buch ist vor fast 100 Jahren geschrieben worden, er sei ihm verziehen.


    Danke für deine Einordnung der Zitate aus der Offenbarung. Wie Du vielleicht noch weißt, ist das mein Schwachpunkt. Diese Zitate kenne ich nicht und kann sie nicht einordnen. So wusste ich nicht, an wen die Offenbarung gerichtet war. Interessant.


    Ich musste mich unbedingt orientieren, es macht mich sonst nervös. Zeitlich hilft uns Werfel ja, aber örtlich musste ich schauen wo wir uns befinden. Auch ich hätte den Musa Dagh im Kaukasus gesucht. Aber ich hatte jetzt schon einiges über die Armenier nachgelesen und sie waren ein Volk, das zu großen Teilen in der Diaspora lebten. Es gab zwar die Region Armenien innerhalb des Osmanischen Reiches, aber die war schon damals nicht so groß - das Osmanische Reich dagegen schon. Und die Levante war ja für eine lange Zeit ein schönes und reiches Gebiet. Ich habe den Eindruck, dass die Armenier auch gute Kaufleute waren, aber das ist ein momentan noch mehr ein Gefühl als Gewissheit. Auf jeden Fall stammt unser Protagonist aus einer solchen Familie, die in der schönen Levante bei Antiochia / Antakya beheimatet war und nicht im eigentlichen Armenien. Denn dort liegt der Musa Dagh: beim alten Antiochia, einer sehr geschichtsträchtigen Gegend.

    Und die Geschichte dieser Gegend erklärt für mich auch, warum Werfel dort 1930 noch auf so viel Elend unter den armenischen Waisen stieß, denn die Gegend stand damals noch stark unter türkischem Einfluss, auch wenn sie zur französischen Einflusszone gehörte. Das Dorf findest Du bis heute auf den Karten - einfach googeln.

    "Wie komme ich hierher?" Ein sehr symbolischer Satz, finde ich... Und neben Gabriel lernen wir sofort eine weitere Hauptperson kennen: diesen Berg, den Gabriel sich gerade erwandert. Er schaut an diesem Frühlingssonntag freundlich aus, aber da sind die "roten Riesenanemonen", "das holde Blut", das den Frieden stört, und auch Gabriel ahnt Unheil.

    Ich liebe es, mit Dir zu lesen - Du erkennst diese Dinge immer so klar. :D Ja, Werfel hat dieses erste Kapitel meisterhaft aufgestellt mit all seiner Naivität des Protagonisten und dann diesen Andeutungen drohenden Unheils.

    Ich denke, dass Werfel das deswegen gemacht hat, weil das letztlich seine eigene Perspektive auf das Geschehen ist. Er ist kein Insider, und wenn er das Geschehen aus der Perspektive eines Insiders erzählt, wird es schräg, nicht mehr authentisch.

    Klingt logisch. Wäre schön, wenn wir Werfel noch direkt fragen könnten. Aber für mich ist dein Gedankengang völlig nachvollziehbar.


    So, jetzt zu Kapitel 2 :study: Gestern hab ich noch in meinem Shakespeare weitergelesen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier