Hugo Lindenberg - Eines Tages wird es leer sein / Un jour ce sera vide

  • Autor: Hugo Lindenberg
    Titel: Eines Tages wird es leer sein
    Seiten: 164

    ISBN: 978-3-969054-311-4
    Verlag: Edition Nautilus
    Übersetzung: Lena Müller


    Autor:
    Hugo Lindenberg wurde 1978 gebopren und ist ein französischer Journalist. "Eines Tages wird es leer sein", iost sein erster Roman, der bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Autor lebt in Paris.


    Inhalt:

    Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet.


    Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt.


    In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen. (Inhalt lt. Verlag)


    Rezension:

    Es ist ein unbestimmtes, nicht zu erklärendes und doch alles beschreibende Gefühl im Inneren, welches der Junge besitzt, welches ihm besitzt und mit ihm unzähliger Nachfahren von jenen, die dem Schrecken nicht entkamen. Warum lebe ich? Warum haben es andere Linien meiner Familie nicht geschafft, konnten den Unheil nicht entkommen?

    In der Psychologie spricht man da vom transgenerationalem Trauma, szenischem Erinnern, welches selbst jene erfasst, die die unmittelbaren Schläge aufgrund schon des Abstands zur Historie nicht erlebt haben können. Eine von vielen Problemstellungen, mit denen die Nachfahren Holocaust-Überlebender zu kämpfen haben. Was schon in der Theorie schwierig ist, zu erfassen, hat der französische Autor Hugo Lindenberg in eine Erzählung zu gießen versucht. Dabei herausgekommen ist ein erdrückender und zugleich berührender Debütroman.

    Dieser wird aus der Sicht des Protagonisten erzählt, einen namenlosen Jungen, der seine Ferien am Strand verbringt, bei seiner Großmutter und Tante, jedoch zumeist sich selbst überlassen. Dort beobachtet er die Menschen, die ihn umgeben. Familien faszinieren ihn und er stellt sich vor, ein Teil von ihnen zu sein. Vollständige Familien sind für ihn, der das nicht hat, Inbegriff des Glücks und so denkt er sich in die Leben anderer hinein, bleibt dennoch unsichtbar.


    Zitat

    Seit meiner Ankunft, eigentlich serit immer schon habe ich mit meiner Großmutter mit niemandem geredet.


    Ein Junge, der keine Stimme findet, wie soll er auch, wird kaum auch von anderen bemerkt. Bis auf einem, der das Spiel unterbricht. Zusammen töten beide Quallen am Strand. Der Junge aber beginnt einen Sommer lang zu leben.


    Zitat

    Nichts ist mir fremder als Jungen in meinem Alter.


    Sätze, die sich in die Netzhaut einbrennen, sind es, die der Autor gekonnt setzt, um seine Geschichte und die unzähliger Menschen zu erzählen. Selten wurde Leere so schön beschrieben, doch erreichen die Worte hier auch die Lesenden. Können sie auch nicht anders, doch diese Traurigkeit, Melancholie, die im nächsten Moment in die Unsicherheit des Jungen zu kippen droht, muss man aushalten können. Da die Gefühlswelt für diesen kaum zu beschreiben ist, verlegt er sich aufs Sachliche und versucht doch eine Normalität zu erreichen, die ihm nicht gegeben ist.


    Zitat

    Ich muss mich konzentrieren, damit man mir meine Aufregung nicht anmerkt, damit ich wie ein kleiner Junge wirke, der Zärtlichkeit gewohnt ist.


    Der kleine Protagonist gewinnt so, mit zunehmender Seitenzahl an Ecken und Kanten, derer viele. Die sich aufbauende Jungenfreundschaft symbolisiert das Durchbrechen. Es scheint, als wäre gefühlsmäßig zum ersten Mal für den Jungen etwas greifbar. Die Angst, das zu verlieren, schimmert Zeile für Zeile durch. Leuchtet hell.


    Beschrieben wird ein unbestimmter Zeitraum von wenigen Tagen bis ein paar Wochen. Genauer wird es nicht, ist auch nicht wichtig, in der Kindheit verläuft die Wahrnehmung von Zeit ohnehin anders. Dieses Gefühl wiederzugeben ist Hugo Lindenberg gelungen, wie auch der Aufbau der anderen Figuren, von denen nur zwei, die der Großmutter und der Tante, Konturen bekommen. Sie umkreisen den Jungen, sind nah und doch so fern. Baptiste ist hingegen das, was der Junge sich wünscht, der seinerseits die Ferienbekanntschaft ebenso faszinierend findet.

    Der Gegensatz ist folglich keine Gegenüberstellung aus Gut und Böse, eher unterschiedlicher Vorstellung von Leben. Was wäre, wenn? Was ist mit mir? Was mit meiner Familie? Große Fragen, versammelt in diesem sehr kompakt gehaltenen Roman. Kein Wort ist hier zu viel.


    Der kleine Hauptprotagonist lässt uns seinen Gedanken folgen. Gesprochene Sätze fallen auf, da sie so rar gesät sind. Wie Nadelstiche oder Sandkörner auf der Haut fühlt sich das an. Nach und nach enthüllt sich die Traurigkeit der Hauptfigur, die nur in Rollen lebt, die sie zu spielen zu müssen meint. Was aber genau macht das mit einem? Diese Frage seziert der Autor und lässt sie den Jungen ergründen. Oberflächlich passiert nicht viel. Aus Kindersicht um so mehr. Zu viel für die schmalen Schultern der Hauptfigur?


    Zitat

    Normalerweise fragten die anderen, wo ist denn deine Mutter, und ich wusste, dass sie es wussten, abver sie wollten den Tod hören, wegen dem Nervenkitzel. [...] Sie blieben, solange der Nervenkitzel anhielt, dann wandten sie sich leicht angeekelt ab.


    Nur in Bruchstücken erfährt man Hintergründe, wie auch der Junge nur lose Fetzen Erinnerungsstücke festhält. Der Vater abwesend, keine Mutter mehr vorhanden und die ihn direkt umgebenden Erwachsenen haben ja auch keine Worte. Für ihn, das Kind, ohnehin nicht. Der Protagonist ahnt nur, weshalb er leidet.


    Zitat

    Ich kenne meine Rolle genau. Zehn Jahre alt, hasenzähne, große schwarze Locken und lange Wimpern, Sommersprossen auf der Nase, ziemlich schüchtern, brave Kleider, einen kleinen Strauß Magnolien in der Hand. Ich bin das Leben.


    In beinahe poetischer, dann wieder ins Nüchterne wechselnde Sprache hat Hugo Lindenberg diese Erzählung, gleichsam eine Novelle aufgebaut, die einem auch nach Umblättern der letzten Seite kaum loslassen wird. Zunächst wird man hineingesogen in die Geschichte, spürt den Sand unter die Zehen knirschen, den Lärm der Umgebung, der ausgeblendet wird, wenn sich der Protagonist fokussiert. Mit dieser Dichte die hintergründige Thematik veranschaulicht zu bekommen, ist selten in dieser Form zu lesen.


    Zitat

    Dieses Bild von mir würde ich nicht mehr loswerden, das wusste ich. Und tatsächlich bin ich es bis heute nicht losgeworden.


    Sowohl sprachlich, damit ist nicht gemeint, dass man praktisch jeden zweiten Satz sich anstreichen und herausschreiben möchte, als auch erzählerisch zieht einem die Lektüre hinein und wirft die Lesenden dann um. Heftiger kann eine ruhige Erzählung kaum wirken. Nur im ersten Moment meint man eine Coming of Age Geschichte vor sich zu haben, doch entdeckt darunter noch so viel mehr. Sachbücher gibt es wohl einige, die sich mit dem Übertragen von Traumata in die nachfolgenden Generationen beschäftigen. In Romanform ist zumindest mir dies so noch nicht untergekommen.


    Von der sich dadurch umgebenden Heftigkeit sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Es ist ja gerade dadurch auch eine wunderbare Lektüre. Hier ist Hugo Lindenberg ein tolles Debüt gelungen, auf Grundlage dessen, was sich in vielen Familiengeschichten wieder findet. Ungesagtem eine Stimme zu geben, hat hier wunderbar funktioniert.


    Eine absolute Lese-Empfehlung.

  • REZENSION – Es ist wahrlich nicht der erste Roman über die in der nächsten und übernächsten Generation noch nachwirkenden, durch Holocaust oder Flucht und Vertreibung erlittenen Traumata jüdischer Familien. Doch der nur 168 Seiten kurze Debütroman „Eines Tages wird es leer sein“ des französischen Journalisten Hugo Lindenberg (45), im März auf Deutsch in der Edition Nautilus veröffentlicht, verschafft sich durch die Figur seines erst zehnjährigen Erzählers, durch die der Einsamkeit dieses Jungen angepasste Sprache – in der deutschen Ausgabe ein Verdienst der Übersetzerin Lena Müller – sowie durch die einerseits empathische, andererseits auch beklemmende Atmosphäre der Geschichte eines Sommererlebnisses am Strand der Normandie eine gewisse Alleinstellung in diesem Genre. Völlig zu Recht wurde „Eines Tages wird es leer sein“ in Frankreich von Radiohörern mit dem Prix Livre Inter, von einer Jury als “schönster Roman des Frühlings“ mit dem Prix Françoise Sagan sowie mit zwei weiteren Literaturpreisen ausgezeichnet.

    Lindenberg lässt einen zehnjährigen Jungen vom Strandurlaub mit Großmutter und Tante in den späten 1980er Jahren erzählen. Am Strandleben nimmt er nur als Beobachter teil. Er spielt allein, wie er es als elternloses Kind gewohnt ist, ausgegrenzt von seiner Umwelt. Aus dieser intuitiv selbst gewählten Isolation holt ihn nach ein paar Tagen der gleichaltrige Baptiste – ein „richtiger Junge“ mit einer „richtigen Familie“. Der Erzähler ist von dessen Unbekümmertheit und Unbeschwertheit fasziniert. Er nimmt darin etwas Besonderes wahr, das ihm selbst fehlt. Umgekehrt empfindet auch Baptist seine neue Urlaubsbekanntschaft bald als Besonderheit: „Ich habe noch einen Freund, der ist Jude. … Ihr habt's gut, ich bin gar nichts.“

    Baptist nimmt den Erzähler mit zu sich nach Hause, wo er von dessen Mutter liebevoll aufgenommen wird. Der Junge, ohne Erinnerung an eigene Eltern – vom Vater ist nichts zu erfahren, der Selbstmord der Mutter wird vor ihm verschwiegen –, entwickelt zu ihr eine enge Beziehung. Ihm wird wohl jetzt erst bewusst, welches Familienglück ihm alle Jahre fehlte: „Kinder, die bei den ersten Sonnenstrahlen sonntags das elterliche Bett entern und sich unter die Fittiche der Familie flüchten. 'Fittiche', dieses seltsame Wort, das … wahrscheinlich von Liebe, Zärtlichkeit und fröhlichen Küssen erzählen soll. … Bei uns gibt es keine Fittiche und kein Kind. Es gibt nur Überlebende, die zwischen Geistern umherirren“ - die Geister der im Holocaust ermordeten Angehörigen.

    Der Junge schämt sich vor Baptiste für seine Großmutter, die, vor Jahrzehnten aus dem polnischen Łódź vertrieben, immer noch mit hartem Stetl-Akzent spricht und damit gegenüber Baptiste zugleich auch seine eigene Andersartigkeit offenbart. Sie scheint sich mit intensiver Hausarbeit von Erinnerungen und ihrem Trauma ablenken zu wollen. Der Junge schämt sich auch für seine Tante, die mit ihrem Leben nicht klarzukommen scheint und alle Tage als Kettenraucherin allein in ihrem Zimmer bleibt. Von derart traumatischer Atmosphäre ist der zehnjährige Erzähler, der immer noch nachts ins Bett macht, geprägt. Ihm fehlt nicht nur eine „richtige Familie“, sondern er hat nie eine unbeschwerte Kindheit erleben dürfen. Ihm fehlt das „richtige Leben“ eines Zehnjährigen, eine aus kindlicher Unschuld entwickelte eigene Persönlichkeit und das natürlich gewachsene Selbstbewusstsein einer eigenen Identität. Hat Hugo Lindenberg wohl deshalb seinem jungen Protagonisten keinen Vornamen gegeben?

    Es ist diese Stimmung, diese eigenartig beklemmende Atmosphäre der Geschichte, aber andererseits auch die Bewunderung für den kindlichen Erzähler, der, auf sich allein gestellt, mit allen Widrigkeiten umzugehen vermag, was den Roman in gewisser Weise spannend und so lesenswert macht. Mag sein, dass Hugo Lindenberg seine Geschichte vor allem deshalb so besonders authentisch aus Sicht eines Zehnjährigen erzählen konnte, weil er vielleicht selbst als 1978 geborener Enkel polnisch-jüdischer Immigranten Ende der 1980er Jahre als Kind ähnliche Empfindungen hatte und vergleichbare Erfahrungen machen musste …..