Krimis und Thriller sind nicht mein Genre – eigentlich. Damit ich einen solchen Roman auch nur in Erwägung ziehe, muss er mehr bieten als nur eine Leiche. Gillian McAllisters aktueller Thriller „Going Back“ (wie immer bei mir: Punktabzug für den Titel, der den englischen Originaltitel „Wrong Place, Wrong Time“ durch einen anderen englischen Titel ersetzt) hat diesen Mehrwert, denn zusätzlich zur gleich auf den ersten Seiten auftauchenden Leiche gibt es hier ein Zeitreiseelement! Und wenn das Murmeltier ruft, bin ich sofort zur Stelle.
Es geht um folgendes: Es ist Halloween und Jen wartet abends darauf, dass ihr 18jähriger Sohn Todd nach Hause kommt. Von ihrem Haus aus beobachtet sie, wie Todd auf dem Nachhauseweg die Straße entlangläuft, doch dann kommt ein zweiter Mann hinzu, den Todd ersticht. Jen ist starr vor Schock, als sie beobachtet, wie ihr bisher unauffälliger, etwas nerdiger und in der Schule herausragender Sohn ein Messer zieht und einen wildfremden Menschen tötet. Wie konnte es dazu kommen?
Jen wird in McAllisters Roman die Möglichkeit bekommen, das herauszufinden, denn sie wacht erst am Tag zuvor auf, dann zwei Tage zuvor, dann lässt sie mehrere Tage und irgendwann Wochen und sogar ganze Jahre aus. In immer größeren Zeitsprüngen bewegt sie sich in der Zeit rückwärts und springt – wie sie bald feststellt – immer an neuralgische Punkte, die ein Puzzleteil enthalten, mit dem sie das Rätsel um den Mord lösen kann.
McAllister schreibt aus Jens Perspektive und als Leser sind wir mit ihr in dieser Zeitschleife gefangen, die sich – so hofft Jen – auflösen wird, sobald sie das Geheimnis gelüftet hat. Ganz auf sich allein gestellt und zunächst völlig ohne Anhaltspunkte, ist Jen zwar einerseits eine sehr unprofessionelle Ermittlerin, doch da es um ihren Sohn geht, macht sie ihre Einschränkungen durch Motivation wett.
Als Leser bemerkt man schnell: Es geht in diesem Buch um Familie und auch um den Anschein von Normalität. Wir lernen Jen zunächst in ihrem Selbstverständnis als Ehefrau und Mutter kennen. Sie ist Mitte vierzig und leidlich erfolgreich als Scheidungsanwältin. Ihr Mann Kelly arbeitet selbstständig als Handwerker, reist nicht, hat keine Freunde und lebt auch sonst eher zurückgezogen. Doch die Ehe ist noch frisch, zwischen Jen und Kelly knistert es auch nach zwanzig Jahren noch und McAllister zeigt uns eine gereifte, aber keineswegs totgelaufene Beziehung. Der gemeinsame Sohn Todd ist ein bisschen nerdig und ziemlich gut in Naturwissenschaften, aber als Sohn ein „Selbstläufer“, um den man sich als Eltern keine Sorgen zu machen braucht – zumindest scheinbar. Was passiert nun also, als Todd einen Mann tötet? Jen fragt sich zunächst, ob das vielleicht alles ihre Schuld ist. War sie als Mutter nicht gut genug? Hat sie ihren Jungen nicht genug geliebt, genug gefördert? Ihr fällt siedend heiß jeder Moment ein, in dem sie als Mutter scheinbar versagt hat. Damals, als sie das Kleinkind vorm Fernseher geparkt hat, weil sie arbeiten musste. Als sie aufs Handy gestarrt hat, statt sich ihrem Kind zuzuwenden. Haben diese Momente Todd vielleicht zum Mörder gemacht?
Diese Gedankengängen erscheinen nur allzu menschlich (und, seien wir ehrlich, allzu weiblich – sind wir doch immer schnell dabei, die Schuld bei uns selbst zu suchen) und geben dem Roman abgesehen vom Mord und dem Zeitreiseelement einen interessanten psychologischen Dreh. Denn tatsächlich wird Jen im Verlauf der Handlung vieles über ihre Familie erfahren, das sie vorher nicht wusste. Und trotzdem bringt McAllister den Roman am Ende zu einem guten, versöhnlichen Schluss.
Die Idee, einen Mord rückwärts lösen zu lassen, macht beim Lesen unglaublich viel Spaß. Dabei selbst immer den Überblick über den Zeitstrahl zu behalten, ist herausfordernd, sorgt aber auch für Vergnügen bei der Lektüre. Inwiefern der Krimiplot erfolgreich oder gar überraschend und innovativ ist, vermag ich nicht zu sagen, da ich zu wenig in diesem Genre lese. Doch bei den Zeitreisegeschichten spielt „Going Back“ durchaus in der oberen Liga mit. Das Buch ist ein spannendes Rätsel, dass den Leser bis zum Schluss bei der Stange hält, und dass die Protagonistin immer weiter rückwärts springt ist auch kein Element, dass man in jeder beliebigen Zeitreisegeschichte findet. In diesem Sinne also Daumen hoch für Gillian McAllisters „Going Back“!