Karen Maitland - The Raven's Head

  • (Bislang nicht auf deutsch erschienen).


    Vincent verbringt seine einförmigen Tage zusammen mit seinem Meister, dem grantigen Schreiber Gaspard, in einem zugigen Turmzimmer auf der Burg von Graf Philippe. Ablenkung und Abwechslung gibt es nur höchst selten, und er kann sein Glück kaum fassen, als sich ihm die Gelegenheit zur Flucht bietet - sogar mit einem wertvoll wirkenden silbernen Rabenkopf im Gepäck. Er hofft, den Raben verkaufen und mit dem Geld eine Schiffspassage nach England bezahlen zu können, dem Land seiner Geburt, in das er endlich zurück möchte. Doch er ist noch nicht allzu weit gekommen, als er die erste von zahlreichen üblen Überraschungen erleben muss.


    Der kleine Wilky muss ebenfalls seine Familie verlassen. Der Vater hat ihn als Pfand für seine Schulden einem Kloster versprochen, wo er fortan unter dem Namen Regulus leben soll, gemeinsam mit anderen Jungen, unter der Knute strenger Mönche in weißen Gewändern, die nicht nur Gehorsam und Gebet von den Kindern verlangen, sondern hinter verschlossenen Türen unheimliche Dinge tun, über die selbst der sonst so freche Felix, der Älteste der Jungen, nicht zu sprechen wagt.


    Gisa ist fünfzehn und lebt bei ihrem Onkel, einem Dorfapotheker. Sie geht dem Onkel im Tagesgeschäft zur Hand und kennt sich mit Heilpflanzen und Giften aus, von denen so viele im Haus sind, dass ihr tödliches Potential jede königliche Waffenkammer in den Schatten stellt. Zu Gisas großem Leidwesen soll sie eines Tages nicht mehr in der Apotheke arbeiten, sondern dem undurchsichtigen Lord Sylvain auf dem örtlichen Herrensitz bei seinen merkwürdigen alchemistischen Experimenten helfen, was ihr ziemliche Angst einflößt.


    Diese drei Handlungsstränge laufen zunächst lange Zeit nebeneinander her, ohne dass ich die geringste Ahnung hatte, wie und wann und warum sie sich kreuzen werden, aber auch ohne den Zusammenhang verfolgt man gerne die Lebenswege der drei jungen Menschen, die alle ungewollt in ungute Situationen geraten, die irgendwann ausweglos scheinen. Besonderen Spaß macht dabei die Stimme von Vincent, der als einziger aus der Ich-Perspektive erzählt und dabei einen herrlich sarkastischen Tonfall anschlägt, den er mit wenigen Ausnahmen auch unter schwierigen Umständen nie ganz verliert.


    Karen Maitland glänzt auch in diesem Buch mit minutiösen Darstellungen der mittelalterlichen Welt und legt das Hauptaugenmerk auf die einfachen Leute und ihre Lebenswelt, nicht auf Adelige und Kleriker. Diesmal stehen Religion und Seuchen weniger im Vordergrund. Größenwahn, Aberglaube und Alchemie ergeben hier eine gefährliche Mixtur, die Gisa, Vincent und Regulus in einen Strudel von Ereignissen hineinzieht, den sie unmöglich beherrschen können. Mit dem Wissen, dass Maitland ihre Protagonisten nicht immer schont, wird einem öfter mal bange ums Herz um die drei Hauptdarsteller. Andere Bücher von ihr fand ich noch etwas atmosphärischer, aber in Spannung und leichtem Gruselfaktor kann "The Raven's Head" den anderen durchaus das Wasser reichen. Was man aus dem hin und wieder hindurchwehenden phantastischen Anhauch halten möchte, kann jede Leserin für sich entscheiden, er ist wahrnehmbar, aber unaufdringlich und offen für Interpretation.


    Wie immer gibt es zum Schluss ein informatives Nachwort mit einigen Erläuterungen zu den historischen Hintergründen und ein Glossar mit weiteren interessanten Details, eine schöne Ergänzung zum Roman und eine interessante Brücke zur historischen Realität.