Ivo Andrić - Das Fräulein / Gospodjica

  • Klappentext:


    Ivo Andrić – Nobelpreisträger und „die literarische Stimme Bosniens schlechthin“ (NZZ) – über eine starke Frauenfigur, die in Erinnerung bleibt.

    Rajkas Vater zählt zu den angesehensten und reihum respektierten Geschäftsmännern Sarajevos, ehe er bankrottgeht und darüber verzweifelt. Noch auf dem Sterbebett schärft er seiner fünfzehnjährigen Tochter ein: „Spare, spare immer, überall, an allem, und kümmere dich um nichts und niemanden.“

    Streng hält sie sich an seinen Rat, übernimmt den Haushalt, unterdrückt die sanfte Mutter, schaut hartherzig einzig und allein auf ihren Vorteil und wird darüber zu einem Monstrum an Gier und Habsucht. Als jedoch der junge Ratko in ihr Leben tritt, ändert sich alles, und das „Fräulein“ wirft alle Prinzipien über Bord.

    Mit diesem 1944 entstandenen Roman schuf Ivo Andrić eine großartige und zeitlos aktuelle Charakterstudie.


    Mein Lese-Eindruck:

    Der Roman beginnt mit dem Tod der Protagonistin im Jahre 1935. Sie stirbt einen einsamen Tod, niemand vermisst sie, und ihre Leiche wird eher zufällig entdeckt. Da kein Mord oder ein sonstiges Verbrechen vorliegt, verliert auch die Öffentlichkeit sofort das Interesse an ihrem Fall. Der Autor ist es nun, der ihre Geschichte der Vergessenheit entreißt.


    Rajka Radakovic, immer nur „das Fräulein“ genannt, entstammt einer wohlhabenden und angesehenen serbisch-bosnischen Kaufmannsfamilie in Sarajevo. Als junges Mädchen muss sie jedoch den Bankrott ihres Vaters miterleben. Schuld daran sei, so der Vater, die Tatsache, dass er sich immer großzügig und mildtätig verhalten habe. Um sie vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, gibt er ihr den Rat, alle Gefühle als schädliche Schwäche zu betrachten, sich „herzlos und selbstsüchtig“ zu verhalten und ihr Leben mit äußerster Sparsamkeit zu führen.


    Diesen Rat übernimmt Rajka mit dem Ziel, die Ehre des Vaters wiederherzustellen. Im Lauf der Jahre aber wird das Sparen zum Geiz und zum Selbstzweck, dem sie ihr gesamtes Leben unterordnet. Sie ist skrupellos, sie kennt keine Moral und kein Mitleid, sie hat kein Gewissen. Sie nutzt die unruhigen Verhältnisse der Vorkriegsjahre für ihre Spekulationen aus, und da sie auch während der Kriegsjahre als Kriegsgewinnlerin agiert, häuft sie ein beachtliches Vermögen an.


    Hier nutzt der Autor die Gelegenheit und entführt seine Leser in die Geschichte der Zeit. Die unruhigen krisenhaften Jahre vor Ausbruch des I. Weltkrieges werden aus der Sicht des Fräuleins beschrieben, wobei sie aber im Unterschied zu ihren Zeitgenossen keinerlei Patriotismus kennt und daher auch keiner Parteiung angehört; ihr Interesse gilt einzig ihrem Geld. Noch ausführlicher wird dem Leser die ungeheure Aufbruchstimmung nach dem I. Weltkrieg beschrieben und das brodelnde Leben in der Hauptstadt Belgrad nach der Loslösung aus dem Habsburgerreich. Alle diese äußeren Ereignisse perlen aber an dem Fräulein ab, sie interessieren sie lediglich als Möglichkeit zur Spekulation.


    Der Erzähler – ein altmodisch auktorialer Erzähler – begleitet das Fräulein ihr Leben lang. Wie mit einer Lupe leuchtet er in ihr Innenleben und legt es bloß: ihre Verbindung zum geliebten Vater, ihre Gefühllosigkeit der Mutter gegenüber, ihr hartes Regiment im Elternhaus, ihre Kälte und Herzlosigkeit gegenüber Bittstellern und auch ihr völliges Unverständnis, als sie wegen ihres Kriegsgewinnlertums öffentlich angegriffen wird und Sarajevo verlassen muss.


    Noch genauer schaut der Erzähler in die Seele des Fräuleins, als sie sich ein einziges Mal von Gefühlen leiten lässt und eine große Enttäuschung verkraften muss. Hier gelingen ihm sehr eindrückliche Bilder, v. a. bleibt das Bild der liebenden und mitleidenden Mutter in Erinnerung.


    Die Sprache des Romans passt zur altmodischen Erzählhaltung. Der Erzähler nimmt seinen Leser sehr fest an die Hand. Er führt ihn chronologisch durch die Geschichte des Fräuleins und stellt die wenigen handelnden Personen ausführlich vor. Gelegentlich hätte ich mir hier aber ein bisschen mehr Freiheit gewünscht, um die Eigenheiten der Personen selber entdecken zu können.


    Das Cover finde ich ästhetisch sehr ansprechend, aber es lässt den Bezug zum Roman vermissen.


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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • drawe

    Hat den Titel des Themas von „Ivo Andric - Das Fräulein“ zu „Ivo Andric - Das Fräulein/Gospodjica“ geändert.
  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Ivo Andric - Das Fräulein/Gospodjica“ zu „Ivo Andrić - Das Fräulein / Gospodjica“ geändert.