Inhalt (lt. Verlagsseite):
Ein neuartiger Eingriff soll Frauen von ihren psychischen Leiden befreien. Doch ist das menschenwürdig? Eine Geschichte von Emanzipation, Liebe und Empathie.
Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.
„Ein simpler Eingriff“ ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze.
Autorin (lt. Verlagsseite):
Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschließend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman Storchenbiss. Für ihren zweiten Roman Mahlstrom wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben und lebt in Berlin.
Meine Meinung:
Vorneweg: Für mich ein Buch, das mehr Fragen stellt, als Antworten gibt, aber dies im positiven Sinn. Ein Buch, über dessen Inhalt man durchaus disktuieren kann. Die Autorin vereint darin Gesellschaftskritik, die Frage wie weit Medizin gehen darf/soll, die Frage wer man ist und sein will, wie weit eine Anpassung sinnvoll/notwendig/gewünscht ist, hinterfragt die Rolle der Frau in der Gesellschaft, etc.
Es scheinen in diesem Buch keine Zeitangaben auf. Das Cover mit dem Bild einer älteren Schwesternuniform sowie die Berichte darüber und über das Schwesternheim ansich, lässt vielleicht vermuten, dass es sich um die 1960/70er handle, aber eigentlich ist es für den Inhalt selbst relativ unerheblich, da es genau so auch noch heute bzw in der Zukunft spielen könnte. Meiner Meinung nach lässt die Autorin dies gezielt offen, da der Diskurs über die inhaltlichen Fragen noch keinesfalls geklärt ist.
Das Bild der gehorsamen, empathischen, dienenden Frau war vielleicht damals noch stärker vertreten, aber ist es nicht auch heute von vielen gewünscht? Gerade im Hinblick auf die sozialberuflichen Tätigkeiten, besteht auch heute noch ein Übergewicht an weiblichen Bediensteten. Mit den "weiblichen" Stärken wie Empathie und die männlichen wie "Durchsetzungskraft" und "wissenschaftliches Interesse und Können" und der starken Hirarchie (ältere Schwestern/jüngere sowie am Beispiel des Verhältnisses zu den Eltern) gibt die Autorin erst ein Bild vor, um es dann durch die weitere Handlung selbst in Frage zu stellen.
Was ist von der Gesellschaft gewünscht? Und wer ist diese Gesellschaft?
Zwei durchaus zentrale Fragen in diesem Buch.
Da ist einmal die Hauptfigur Meret (aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird), die aus einer Familie stammt, deren Vater ein aggresives Dominanzverhalten an den Tag legte. Der aber auch nach Übergriffen wieder kleinlaut seine Gewaltausbrüche bedauerte. Zusätzlich zu ihr gab es noch ihren Bruder und die Schwester Bibiana (Bibi), die komplett aus der Reihe fiel, schlafwandelte und die nicht angepasst war, sondern aufbegehrte. Ganz anders als Meret, die versuchte, mit ihrer angepassten, zurückhaltenden Art Konfliktsituationen aus dem Weg zu gehen bzw abzumildern.
Diese Meret arbeitet nun in einem Krankenhaus auf der psychiatrischen Station und wohnt in einem nahegelegenen Schwesternwohnheim. Sie fügt sich brav den Strukturen im Heim und im Krankenhaus. Lebt, wie man es von ihr erwartet, wie sie es selbst von sich erwartet und richtig hält.
Im Krankenhaus selbst gibt es einen Arzt, der im Zuge der psychiatrischen Forschung Operationen durchführt, die etwaige psychiatrische Defizite entfernen/berichtigen sollten, um den Patientinnen ein "normales" Leben in der Gesellschaft wieder zu ermöglichen (was immer dies sein soll).
Bereits in der Inhaltsangabe des Verlages wird geschwankt zwischen "an Frauen" und "vor allem Frauen". Sind Frauen bei psychiatrischen Problemen besonders gefährdet? Ist es Zufall, dass die Fälle im Buch über Frauen erzählen? Ich glaube nicht.
Natürlich sind die Eingriffe auch bei Männern möglich, aber sind sie dort auch so gewünscht? Oder akzeptiert man gewisse Verhaltensmuster bei Männern eher als bei Frauen? Eine emanzipierte, laute, selbstbestimmte und vielleicht auch mal einen Wutausbruch habende, aggressive Frau, die stellt doch eine Gefahr für die Gesellschaft und für sich selbst dar, der muss geholfen werden. Und wenn es sein muss, dann eben mit dieser Form der Operation, die vom Arzt bei vollem Bewusstsein am offenen Schädel durchgeführt wird, während Meret dafür zuständig ist, die empathische Rolle und die Ablenkung sowie Beruhigung bei den Patientinnen während des Eingriffes einzunehmen. Die die sogenannten "weiblichen" Stärken einsetzt. Dem männlichen Arzt assistiert, der ihre Tätigkeit lobt und ihr das Gefühl gibt, dass sie dazu prädestiniert sei.
Brav, angepasst und folgsam ist sie, bis.... ja bis eine neue Mitbewohnerin (Sarah) in ihr Zimmer im Schwesternheim zieht. Eine die ganz anders ist als sie, unkonventionell, und eine Liebesbeziehung daraus erwächst. Ein gegenseitiges Begehren. Für Meret beginnt eine Zeit des Verzehrens nach Sarah, nach ihren Berührungen, nach ihrer Anerkennung, und doch prallen die Einstellungen der beiden oftmals aufeinandern. Es entsteht ein innerer Konflikt in Meret, es beginnen Zweifel an der Form ihres bisherigen Lebens zu wachsen.
Verstärkt wird dies durch einen Vorfall, bei dem eine Patientin (Marianne), Tochter aus sehr betuchtem Hause, deren Familie in der Öffentlichkeit steht, wegen exzessiver, "unkontrollierbarer" Wutausbrüche in die Klinik kommt, um vom Arzt durch die Operation wieder "normal" gemacht zu werden. Sie solle doch nicht weiter selbst darunter leiden, und auch für die Familie sei es doch ein Desaster. Doch bei der Operation läuft nicht alles wie geplant oder erhofft. Marianne überlebt, liegt aber nur mehr regungslos im Bett, und vegetiert vor sich hin.
Zwischen Meret und Sarah finden Auseinandersetzungen statt. Meret kontert dabei natürlich nicht lautstark, das ist nicht ihre Art, aber Aussagen von Sarah, u.a. bezogen auf gewisse Fragen hinterlassen Spuren in den Gedanken von Meret: Was ist für die Gesellschaft normal? Was darf Medizin? Sind nicht auch sie beide als gleichgeschlechtliches Liebespaar "nicht normal"? Könnte man da nicht auch auf die Idee kommen, dies "operativ zu heilen"? Wenn man Menschen gewisse Emotionen nimmt, sind sie dann noch sie selbst, oder nur mehr eine angepasste, leere Hülle?
Die Autorin wirft hier viele Fragen auf. Auch wenn das Buch in seinem Umfang (knapp 200 Seiten) eher schmal ist, so ist es der Inhalt nicht. Sie schildert die Charaktere sehr eindrücklich, und lässt die Leserschaft teilhaben an den Entwicklungen, ohne dabei eine schwarz-weiße Entscheidung vorzugeben. Es ist eher ein Heranführen an die Themen, die sie im Buch aufgreift. Verbunden miteinander in dieser Geschichte, die einlädt, gesellschaftskritisch und selbstkritisch über vieles nachzudenken.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, ich mag solche Bücher, die mich zum Nachdenken anregen, die Diskussionsstoff bieten, die Fragen aufwerfen. Wer dies auch gerne mag, dem kann ich das Buch durchaus empfehlen.
Wer damit Schwierigkeiten hat, dass man sich selbst Gedanken machen muss, vieles offen bleibt und auch mal zwischen den Zeilen steht und Interpretationsraum lässt, sich nicht selbst hinterfragen will bei einem Buch, lieber eine abgerundete Geschichte mit klarer Handlung, Spannung und einem fixen, klaren Ende möchte, für den spreche ich eher keine direkte Empfehlung aus, lade aber trotzdem zum Lesen ein .