Der Autor (Quelle: Rowohlt): Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt heute in Berlin. Mit seinen zeitkritischen Romanen und Erzählungen, aber auch als Lyriker wurde Delius zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt. Bereits vielfach ausgezeichnet, erhielt Delius zuletzt den Fontane-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis sowie den Georg-Büchner-Preis. Im Februar 2013, aus Anlass des 70. Geburtstag des Autors, hat der Rowohlt Verlag eine Werkausgabe in Einzelbänden begonnen.
Klappentext (Quelle: Rowohlt): Der Deutsch-Chilene Felipe Gerlach lebt als politischer Flüchtling in einer bundesdeutschen Großstadt. Er hat einen Job als Hilfswachmann bei der Firma „Secura“: Unverdrossen läuft er rund um den tristen Adenauerplatz, prüft verschlossene Ladentüren und hält Ausschau nach verdächtigen Personen. So auch in dieser Nacht, in der der Roman spielt. Felipe versucht nach vorn zu blicken. Die Chancen der Rückkehr, die Möglichkeiten einer Einbürgerung im „ewigen Manövergebiet Deutschland“, die Tragfähigkeit der Liebe zu seiner deutschen Freundin und der kleine Kampf gegen den Südamerika-Spekulanten Ellerbrock werden vom Autor in immer überraschenderen Wendungen durchgespielt. So wird aus dem vielschichtigen, suggestiven Großstadtroman, aus dem Nachtbuch „Adenauerplatz“, unversehens eine verhaltene Liebesgeschichte und ein diskreter Kriminalroman.
Deutsche Ausgaben:
Die deutsche Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel „Adenauerplatz“ als Hardcover im Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg (288 Seiten), neuaufgelegt u.a. im März 1987 als Rororo-Taschenbuch Nr. 5837 im Rowohlt Taschenbuch Verlag in Reinbek bei Hamburg (279 Seiten) und im August 2013 in der Delius-Werkausgabe in Einzelbänden als Rororo-Taschenbuch Nr. 26684 und als E-Book ebendort.
Hörspielfassung:
Parallel zum Roman verfasste Delius das Hörspiel „Die zehnte Nacht am Adenauerplatz“, produziert von Westdeutschem Rundfunk und Südwestfunk. Regie: Friedhelm Ortmann, Regieassistenz: Gerda Förster, technische Realisierung: Erhard Hafner und Anne Effertz. Es sprachen u.a. Bernd Birkhahn, Andrea Witt, Volker Spahr, Christian Berkel, Bernd Kuschmann und Claus-Dieter Clausnitzer. Laufzeit: 62 Minuten. Erstsendung: 2. Dezember 1984.
Meine Einschätzung:
Eine nächtliche Arbeitsschicht eines Hilfswachmannes einer Sicherheitsfirma, der sieben Stunden lang in einer trüben Septembernacht durch das entvölkerte, triste, leere Zentrum einer namenlosen bundesrepublikanischen Großstadt latscht und Rollgitter vor Juwelierläden, Banken und Apotheken kontrolliert. Die Gedanken, die sich beim Gehen einstellen, kreisen auch um seine Herkunft als deutschstämmiger Südamerikaner, der, froh seiner Heimat entkommen zu sein, als „Politischer“ nicht mehr in sein Land einreisen darf, um seinen Häschern nicht wieder in die Klauen zu geraten. Aber auch: Wie lässt sich die „Dritte Welt“ von totalitären Bananenrepublik-Verhältnissen befreien, noch dazu aus der sicheren Ferne des satten Europas? Eine Rückkehr in die Fremde oder eine Einbürgerung in ein Land, das ihn, den Ausländer, auch nicht wirklich haben will? Der Agrarwissenschaftler Felipe Gerlach, der hierzulande über Handlangerdienste nicht hinauskommt und immer beäugt wird – von Spießbürgern, Ordnungskräften, aber auch von linken Revoluzzertypen, die von der Weltrevolution träumen, und sich im Stillen fragen, warum Felipe nicht in seiner alten Heimat (Chile?!) die Barrikaden stürmt, sondern in der BRD das Eigentum der Geldsäcke bewacht?
Eine Vielzahl von Nebenfiguren taucht auf: Felipes deutsche Freundin Anke, die die Soldaten-Vereidigung ihres Bruders im Stadion besucht, wo es zu Protesten kommt, der Anlageberater Ellerbrock, der südamerikanische Weidenflächen billig und halblegal an deutsche Kunden verschachert, während die Landarbeiter vor Ort am Hungertuch nagen, einige Felipe aus politischen Südamerika-Zirkeln bekannte Wochenendterroristen, die bei Ellerbrock nachts einsteigen wollen, um belastende Dokumente zu klauen (und Felipe soll bitte ab 3 Uhr nachts Schmiere stehen und weggucken), türkische Jugendliche aus der Nachbarschaft, die immer als erste aufs Maul kriegen, wenn irgendwo Sündenböcke gesucht werden, die bäuerliche Verwandtschaft Felipes, die er spontan in Deutschland besucht, und seine unliebsame, im Grunde faschistische Verwandtschaft daheim in Südamerika, die nur froh ist, dass der linke Felipe, das schwarze Schaf der Familie, das Land verlassen musste. Die Erinnerung an seine Verfolger in Südamerika, die ständige Möglichkeit, einfach „auf der Flucht“ erschossen zu werden, lässt ihn, der nicht Guerillakämpfer war, sondern schlichtweg Sachbearbeiter im Ministerium, beteiligt an Agrarreform und Enteignung der Besitzenden, auch in der BRD nicht mehr los, auch wenn er hier wieder mit den Insignien der Macht „verkleidet“ ist – und sei es eine lumpige Wachmann-Uniform – und für Recht und Ordnung sorgen soll: Stechuhren bedienen und die Nacht durchlaufen, ein Tagschläfer, der die Verantwortungslosigkeit schätzt. Die Gedanken eines kleinen Wachschutzmannes, die mit der Ausbeutung der Dritten Welt zu tun haben, mit fortgeführtem Kolonialdenken in neuer Aufmachung, mit gerechten Wirtschaftsordnungen und mit der Anmaßung, sich mit den Opfern von Ausbeutung und Hunger solidarisch zu fühlen. Ein Nachtstück über bundesdeutsche Befindlichkeiten, vereinsamte Innenstädte und latente Fremdenfeindlichkeit, über linksalternative Politikzirkel in Zeiten des konservativen Rollbacks der Achtzigerjahre und über das Fegen vor der eigenen Haustür. Eine schwierige Selbstvergewisserung.
Für einen großen Gesellschaftsroman bleiben mir die Figuren zwar etwas zu flach, wie sie da thesenhaft, emotionslos und typengerecht auf dem Spielbrett hin und hergeschoben werden. Allerdings ist die ganze Anlage des Buches ja thesenhaft, als Gedankenfluss eines Nachtwanderers, weshalb die Handhabe des Figurenensembles für mich in Ordnung geht: Eine Person (der Ich-Erzähler) wird mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären verbunden, mit der Ist-Situation und seiner Herkunft, mit Traditionslinien und mit unterschiedlichen kommunikativen Rahmungen. Es ist ein Durchdringen von politischem Bewusstsein, gekoppelt an soziale Wunschvorstellungen und individuelle Notwendigkeiten. Eine gedankliche Aushandlung, eine Versprachlichung und eine Verortung, auch ein Übermaß an Rhetorik, plakativ und voller Pathos, was aber immer den kritisch durchgespielten Prozess des Denkens abbildet, mit Leidenschaft und Wut und Dynamik, was mir das Liebste ist: Literatur, die in den gesellschaftlichen Alltag ihrer Entstehungszeit hineinreicht.
Es sind experimentelle Momentaufnahmen, sehr subjektiv: die zornigen Gedankenmonologe eines Nachtwächters, der zwischen Aufgebrachtheit und dem Wunsch nach Ruhe oszilliert. Ein Buch ohne Antworten, das aber etliche Fragen aufwirft, betont auf Romanhaftigkeit verzichtet und dadurch auch aneckt – was das Beste ist, was Literatur machen kann: dem Leser keine beruhigende Bestätigung des eigenen Lebensstils ums Maul schmieren. Das befördert Delius zweiten Roman nach erstem Zweifel – er könnte spannender und riskanter sein – nach meinem Dafürhalten dann doch in den Lesenswert-Bereich: knappe vier Sterne.
Spätestens bei den Toten, die Felipe in jedem Schaufenster neben den Waren aufscheinen sieht, jene durch Ausbeutung und lebensgefährliche Arbeitsverhältnisse in Drittweltländern zu Schaden gekommenen Arbeiter, die zur Bewertung globaler Konsumprodukte genauso mitgerechnet werden müssen wie die Wasserbilanz in der Umweltdeklaration der industriellen Produktion, hatte mich Delius am Haken: Das ist vitale, anklagende, konsumkritische, zornige, eingängige Literatur.