• Der Autor (Quelle: Limes): Denis Johnson, 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Diplomaten geboren, verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in Tokio und auf den Philippinen. Vor Erscheinen seines Romans „Angels“ (Engel der Hölle) hatte er sich vor allem als Lyriker einen Namen gemacht. Er lebte zuletzt in Idaho, USA, und starb im Mai 2017.


    Klappentext (Quelle: Limes): Man schreibt die Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Welt ist vor rund sechzig Jahren untergegangen. Bis auf eine kleine Enklave im Süden Florias: Twicetown, die zweimal wiedergeborenen Stadt, das frühere Key West, alles, was von den ehemaligen Vereinigten Staaten übriggeblieben ist. Hier lebt eine bunt gemischte Bevölkerung, überwiegend Fischer, die sich mit den Relikten der vernichteten Zivilisation eingerichtet hat: mit ausrangierten Autositzen, Strom aus Generatoren, Holzfeuern und einer fantastischen, rudimentären Sprache. Die vergangene Kultur ist in ihrer Vorstellung fast völlig verblasst. Der Einzige, der die alte Kultur um jeden Preis zu erhalten sucht, ist der Chinese Mr. Cheong, einstiger Manager des nun gänzlich überflüssig gewordenen Miami-Sinfonieorchesters und zugleich Haupterzähler des ganzen Geschehens. Und da ist Fiskadoro, der dreizehnjährige Fischerjunge, der nach einem archaischen Initiationsritual seine Vergangenheit, seine Persönlichkeit eingebüßt hat und so zu einer neuen Identität gelangt ist. Er ist es auch, der eines Tages die verschwommenen Konturen einer geisterhaften Flotte aus Richtung Kuba am Horizont auftauchen sieht – die Verheißung einer neuen Zukunft, einer neuen Zivilisation, die nur er, Fiskadoro, wahrzunehmen imstande ist.


    Englische, schwedische, französische, italienische, deutsche und türkische Ausgaben:

    • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel „Fiskadoro“ bei Alfred A. Knopf in New York (221 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1994 bei Faber and Faber in London und 2000 bei HarperPerennial in New York, sowie 2003 und 2015 bei Vintage in London.
    • Die schwedische Übersetzung von Berit Skogsberg erschien 1987 unter dem Titel „Fiskadoro“ bei Hammarström & Åberg in Johanneshov (205 Seiten).
    • Die französische Übersetzung von Marc Chénetier erschien 1988 unter dem Titel „Fiskadoro“ im Verlag Editions du Seuil in Paris (252 Seiten), wiederaufgelegt u.a. im Januar 2001 in der Reihe „Domaine étranger“ bei Editions 10-18 in Paris.
    • Die italienische Übersetzung von Delfina Vezzoli erschien im Oktober 1988 unter dem Titel „Fiskadoro“ in der Reihe „Narratori“ bei Feltrinelli in Mailand (183 Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung von Dr. Ute Spengler erschien 1990 unter dem Titel „Fiskadoro“ mit einem vierseitigen Nachwort der Übersetzerin als Hardcover mit Schutzumschlag bei Limes in Frankfurt am Main und Berlin (240 Seiten). 2003 erschien eine von Bettina Abarbanell durchgesehene Ausgabe der Spengler-Übersetzung unter dem Titel „Fiskadoro“ als Hardcover bei Rowohlt in Reinbek bei Hamburg (254 Seiten), neu aufgelegt 2005 als Rororo-Taschenbuch 23386 im Rowohlt-Taschenbuch-Verlag in Reinbek bei Hamburg (254 Seiten).
    • Die türkische Übersetzung von Elif Çopuroğlu erschien 2006 unter dem Titel „Fiskadoro“ bei Ayrıntı Yayınları in İstanbul (203 Seiten).


    Meine Einschätzung:
    Ein recht programmatischer Roman, der in einer Nahzukunft in den Florida Keys, zwei Generationen nach einer Atomkatastrophe, spielt, und vom Alltag der in die Primitivität zurückgebombten Menschen erzählt, viele verstrahlt und sterbenskrank, in schwer verständlichen Idiomen sprechend (eine Mischung aus Englisch, Spanisch, regionalen Slangs und ungebildetem Gestammel), und alle in Stämmen organisiert: die naturverbundenen Army-Leute in den Resten der Zivilisation, mehrheitlich sind sie ursprünglich aus Kuba stammende Fischer, zu denen auch die titelgebende Hauptfigur Fiskadoro gehört, ein Junge von vielleicht 13 Jahren, dann die Sumpfleute in den Everglades, die viel archaischer und primitiver leben, bei denen offensichtlich auch Mutierte und Versehrte (die „Desechados“) assimiliert werden, und schließlich die Israeliten, bei denen es sich um Rastafari zu handeln scheint, die die Wiederkehr Jahwes erwarten.
    Diese drei Stämme zeichnen sich durch unterschiedliche Erwartungshorizonte aus: Die Army-Leute leben noch stark in der Erinnerung an die Zeit vor der Apokalypse. Eine wissenschaftlicher Kulturverein klammert sich an das kulturelle Wissen der Ahnen, schafft es aber nicht, daraus Erkenntnisse für Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Die Lesung eines (gegen ein Boot eingetauschten) alten Bibliotheksbuches mit Erfahrungsberichten von Zeitzeugen des Atombombenabwurfes in Nagasaki stößt auf Unverständnis: Wo sind die konkreten Handlungsanweisungen!?
    Die Israeliten, die als Schiffsbauer leben, warten auf die Wiederkehr des Erlösers (wahlweise Bob Marley oder Jesus Christus). Ihr Denken richtet sich allein auf die Zukunft. Die Sumpfleute dagegen leben völlig in der Gegenwart. Eine besondere Droge, die bei ihnen zu kultischen Zwecken verabreicht wird, führt explizit zu Gedächtnisverlust.


    Gemeinhin bleiben alle diese Stämme unter sich, nur Fiskadoro wechselt (per Zufall) von einer zur anderen Gemeinschaft und wieder zurück. Schon zu Beginn hatte er Schwierigkeiten mit seiner Identität: Wenn er „Fischmann“ gerufen wird, pocht er darauf, ein Harpunier zu sein. Ganz passend also, dass er mit einer völlig neu geklärten Identität nach Hause zurückkehrt. Nach seinem Abstecher zu den Sumpfleuten ist er völlig verändert: körperlich nach einem verstümmelnden Initiationsritus, einer Subinzision, bei der der Penis längs geschlitzt bzw. halbiert wird (wenn man so will auch eine Verweiblichung des männlichen Prinzips), und seelisch durch das Auslöschen seiner Erinnerung an sein „erstes Leben“ bei den Army-Leuten durch die Gedächtnisdroge. So erscheint Fiskadoro nach der identitären Selbstzerstörung wiedergeboren zu sein: körperlich gebrandet wie die Sumpfleute (als er bei ihnen lebte, sollte er zu einem der ihren gemacht werden, jetzt zurück beim Army-Stamm ist er ein Andersartiger, ein Ausgewählter, ein radikal Neuer) und durch seine ausgelöschte Erinnerung völlig in der Gegenwart angekommen. Und tatsächlich scheint Fiskadoro durch seinen Weg durch das Archaische und seine Rückkehr in die Zivilisationsreste mit einer fast prophetischen Kraft aufgeladen zu sein, die es ihm ermöglicht, von Grund auf neu anzufangen und den Blick hoffnungsvoll in die Zukunft zu werfen. Der bewusste Verlust seiner Familienbindung (so erkennt er z.B. seine Mutter nicht mehr) erlaubt es ihm, den Horizont vom Familiären und Ethnischen auf die Menschheit im Ganzen zu verschieben. So gebiert Denis Johnson aus dem desolaten Dahinvegetieren in seinem postapokalyptischen Szenario rudimentärer Zivilisationshüllen tatsächlich am Ende in der Figur des Fiskadoro die Möglichkeit einer Utopie: eine (noch) ortlose Hoffnung auf einen Neuanfang, für den, so scheint es, Fiskadoro als einziger - ohne Ballast und psychisch neugeboren - bereit ist.

    Die Erinnerung daran, wer man gestern war, ist immer die Erinnerung an jemand anderen. Auch wenn ein solches auf den Moment beschränktes Bewusstsein schrecklich klingen mag, weil alles nicht vertraut erscheint, bereitet es einem doch die immerwährende Freude des Neuen. Das Staunen und das Glück über den neuen Sonnenaufgang. Was für eine Geschichte über die Zeit nach dem Weltende schon ein denkbar hoffnungsvolles und positives Bild zeichnet. Nur: Wenn man sich nicht an die Etappen einer Reise erinnert, ist es dann nicht so, als hätte man sich nie bewegt?


    Ein ungewöhnlicher, reichhaltiger, fein austarierter Roman, den ich aber nicht zuletzt dank der rudimentären, manchmal schwierig zu verstehenden Slang-Sprechweise der Figuren etwas schwergängig fand. Das Fehlen einer streng verfolgten Handlung wird es manchen Lesern schwer machen, Freude an der Erzählung zu haben. Wer eine launige postapokalyptische Dystopie erwartet, ist hier falsch. Das schrittweise Fallenlassen der titelgebenden Hauptfigur mag manchem schlecht durchgestaltet vorkommen, was den Jungen Fiskadoro etwas blass erscheinen lässt, doch was will man im Grunde erwarten, wenn die völlige Zerstörung und Wiedergeburt einer Identität vom Archaischen zum Prophetischen erzählt werden soll: Eine Figur, die völlig von der Erinnerung an ihre Geschichte entkleidet wurde, hat erzählerisch wenig zu bieten, dafür aber die völlige spirituelle Hingabe an den Moment und das gefühlige, freudige Eintauchen in die Welterfahrung.


    Eine sehr interessante Lektüre! Zunächst einmal vorsichtige dreieinhalb :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: Sterne.

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel „Fiskadoro“ bei Alfred A. Knopf in New York (221 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1994 bei Faber and Faber in London und 2000 bei HarperPerennial in New York, sowie 2003 und 2015 bei Vintage in London.

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