Katixa Agirre - Die lustlosen Touristen / Atertu arte itxaron

  • Kurzmeinung

    kleine_hexe
    Nicht immer leicht zu lesen, aber ein Genuss
  • Was ist Heimat?


    Es ist gar nicht so einfach, einem anderen Menschen die eigene Heimat zu zeigen. Vor allem, wenn sie so dermaßen mit Schuld beladen Aber wer und was ist Heimat? Klar, es ist der Ort, die Gegend, die Region, in der man geboren wurde. Steine, Flüsse, Bäume haben kein Schuldbewusstsein. Aber was ist mit den Menschen? Klar gehören sie zur Heimat, besser gesagt zum Heimatgefühl. Familie, Nachbarn, Freunde, all jene, die die gleiche Sprache sprechen, mit denen man gemeinsam aufgewachsen sind, die den gleichen geschichtlichen Hintergrund haben. Kann man sich mit all diesen Menschen identifizieren? Normalerweise ja. Aber ohne eine Differenzierung müsste man mit dem Tod von 830 Menschen einverstanden sein, die bei den vielen Attentaten der ETA umkamen. Darf man Gewalt gutheißen? Heiligt der Zweck wirklich die Mittel? Können wir mit der „Michael Kohlhaas Attitüde“ leben? Ist sein Wahlspruch „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde“ noch annehmbar? Die ETA hat auch Basken getötet, nicht nur spanische Politiker oder Polizisten. Die ETA hat von allen, Spanier und Basken gleichermaßen Schutzgelder und Lösegelder erpresst. Was für eine Gerechtigkeit ist das dann? In diesem Buch kommt die Tochter eines solchen ETA Attentäters zu Wort. Sie wusste das nicht, Mariluz, ihre Mutter hat es ihr erst vor Kurzem erzählt. Unter diesem Eindruck macht sie sich auf, eine Reise durch die spanisch-baskische Heimat und sucht immer wieder den richtigen Moment, es ihrem Mann zu erzählen, zu erklären. Ihr Mann ist Spanier. Wird er es verstehen?


    Während der Reise taucht immer wieder eine Journalistin auf, Sarah Blagrove. Die Journalistin hat schon einige ablehnende Artikel über die ETA und ihre Anhänger veröffentlicht. Ulia, die Ich-Erzählerin, hat das Gefühl, Sarah hat sie nun auf den Kieker und will sie über ihren Vater ausfragen. Dabei hat Ulia sich geweigert ihren physischen Vater im Gefängnis zu besuchen. Sie kennt ihn nicht, sie ist mit seinen politischen Gewalttaten nicht einverstanden. Was also könnte sie Sarah erzählen, im Falle eines Interviews. Nur stellt es sich heraus, Sarah ist gar nicht an ihr interessiert. Jemand anderer ist Sarahs Zielperson, Und nicht aus beruflichen Gründen.


    Das Buch schlägt oft einen ironischen Ton an, leicht distanziert. Als ob dies für Ulia die einzige Möglichkeit wäre, die nötige Entfernung zu ihrem Leben und zu ihrer Heimat zu finden. Denn die Menschen ihrer Heimat haben Schuld auf sich geladen, unter ihnen auch ihr Vater.


    Anfangs hatte ich leichte Schwierigkeiten, herauszufinden, wann von Ulia und wann von Mariluz berichtet wurde. Als ich beschloss, mich nicht auf den Unterschied zu konzentrieren, sondern die Seiten auf mich zukommen zu lassen, wie sie von Agirre geschrieben wurden, fiel es mir leichter. Mutter und Tochter haben einiges gemeinsam, auch wenn Ulia das so nicht empfindet.


    Fazit: ein interessantes Buch, auch wenn der Zugang nicht leicht ist.

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Katixa Agirre Die lustlosen Touristen“ zu „Katixa Agirre - Die lustlosen Touristen“ geändert.
  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Katixa Agirre - Die lustlosen Touristen“ zu „Katixa Agirre - Die lustlosen Touristen / Atertu arte itxaron“ geändert.
  • Kunstvoll komponierte Kippkonstruktion

    Es funktioniert (wider alle Erfahrung): ein kapriziöser Tonfall, eine pointierte Darstellung von Menschen und Dingen, eine abwechslungsreiche Szenerie - und gänzlich verstörende Einblicke in eine ernste Zeit mit ernsten Problemen, wenn der Blick auf die Auswirkungen der Politik auf das Schicksal von Individuen fällt. Ehegeschichte, Reisegeschichte, Familiengeschichte, Geschichtegeschichte - die Lektüre dieses Romans hat sich definitiv gelohnt!
    Bereits die Figur der Ich-Erzählerin entfaltet eine diffizile Persönlichkeitsstruktur: komplizierte Familienverhältnisse offenbaren sich ihr vergleichsweise spät im Leben, glückhaft der Umstand, im Ehemann der Mutter einen Menschen zu finden, der bereits dem instabilen Teenager Halt und Orientierung zu bieten vermag, während die Mutter der Tochter nicht zutraut, mit der Hypothek ihrer Herkunft fertig zu werden.
    Stimmverlust der Sängerin, stockender Arbeitsfortschritt der Doktorandin - auf jeden Fall im Zusammenhang zu sehen mit ihrer inneren Last. Ihr Forschungsgegenstand, die pazifistische Gesinnung des britischen Komponisten Benjamin Britten, ein dezidiertes Gegengewicht zur politischen Gesinnung des leiblichen Vaters.
    Was für einen romantischen Akzent stellt da der Beginn der Liebesgeschichte dar, die inmitten der Gefahr eines terroristischen Anschlags ihren Ausgang nimmt! Welch neue Herausforderung, wenn gerade die vorgeblich entspannte Feriensituation einer Reise in die Heimat der Protagonistin den gegenseitigen Vertrauensbruch der Liebenden offenbart!
    So anregend, fordernd und befriedigend sich die Lektüre dieses Romans auch erweist - der Verlag hätte dem Leser durch kleine Gestaltungsentscheidungen den Zugang erheblich erleichtern können:
    Der gesamte baskische Hintergrund stellt für das deutsche Publikum doch eine beachtliche Hürde dar. Warum also einzelne verwendete Wörter nicht direkt unten auf der Druckseite in einer Fußnote übersetzen? Komplexere Zusammenhänge sind tatsächlich in den Anmerkungen am Ende des Buches bestens untergebracht. Da jedoch die Geschichte der baskischen Separatistenbewegung ETA in Deutschland nicht so präsent sein dürfte, wäre ein äußerst knapper Abriss zu Beginn des Buches hilfreich gewesen. Die verfremdete Europakate auf dem Buchdeckel ist äußerst dekorativ, aber keinesfalls zielführend, eine Landkarte des Baskenlandes mit der eingezeichneten Reiseroute des Paares wär wesentlich aufschlussreicher. Die in einem Wirbel angeordneten exotischen Ortsnamen auf dem Vorsatzpapier können dieses Informationsdefizit nicht kompensieren. Auch die Formulierung des Titels, selbst wenn direkt vom Original übernommen, erweist sich für den deutschen Leser als verwirrend.
    Diese rein äußerlichen Kritikpunkte schmälern aber keinesfalls das Lesevergnügen an diesem thematisch und kompositorisch überaus originellen Roman!

    Mein Urteil: 4 Sterne

  • Sehr interessant - danke für die Besprechungen!


    Thematisch entdeckte ich dazu folgenden Roman des Kanadiers Plamondon, leider noch nicht auf Deutsch erschienen, siehe aber meine Besprechung: