Friedrich Christian Delius - Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

  • Autor: Friedrich Christian Delius
    Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, erschien erstmals 1994
    Seiten: 128 Seiten
    Verlag: Rowohlt
    ISBN: 9783499236594


    Der Autor: (von der Autoren-Homepage)
    Friedrich Christian Delius, geboren im Februar 1943 in Rom, aufgewachsen in Wehrda, Kreis Hünfeld, und Korbach in Hessen. Seit 1963 in Berlin, Studium an der Freien und Technischen Universität (Dr. phil. 1970). 1970 bis 1978 Lektor für Literatur in den Verlagen Klaus Wagenbach und Rotbuch. Prozesse, welche die Siemens AG (1972-76) und Helmut Horten (1979-82) gegen ihn führten, erfolgreich überstanden. Seit 1978 freier Schriftsteller, von 1978-80 in Beek bei Nijmegen/NL, von 1980-84 in Bielefeld. Seitdem lebt er wieder in Berlin (von 2001 bis 2013 in Rom und Berlin). Georg-Büchner-Preis 2011. Übersetzungen seiner Bücher in 18 Sprachen. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste Berlin.


    Inhalt: (Klappentext)
    Bern im Sommer 1954. Deutschland steht im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gegen Ungarn. Im Rundfunk dröhnt die legendäre Reportage Herbert Zimmermanns. In einem kleinen hessischen Dorf erlebt ein elfjähriger Pfarrerssohn den Sonntag, der sein Leben verändern wird.


    Meinung:
    Friedrich Christian Delius Erzählungen behandeln häufig Themen der jüngeren deutschen Geschichte. Sei es bei «Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus» die Teilung Deutschland, bei «Die Birnen von Ribbeck» die Wiedervereinigung, bei «Mogadischu Fensterplatz» die «Landshut»-Entführung, usw, usf. Da darf eines der wichtigsten Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte natürlich nicht fehlen: der Sieg bei der Fußball-WM 1954.
    Dabei ist dieser kurze Roman in erster Linie ein Buch über eine Vater-Sohn-Beziehung, über das Erwachsen werden, über das Leben in der hessischen Provinz Mitte der 1950er Jahre – und nicht so sehr ein Fussballroman. Wer den WM-Sieg als Motiv erwartet, wird sicherlich von der Geschichte enttäuscht sein.

    Die Geschichte enthält so einige Parallelen zu Delius’ Lebenslauf: der Pfarrerssohn, aufgewachsen in der hessischen Provinz, introvertiert, nachdenklich und durch Stottern und Blutphobie ist eher nicht Mittelpunkt der dörflichen Jugend. Der Vater hingegen ist durch seine Sprachgewalt und symbolgeladenen Gestik sowohl in der Familie als auch innerhalb seiner Kirchengemeinde eine autoritäre Figur. Häusliche Regeln werden still ertragen. Sonntagskleidung, Mittagsruhe, Tischgebet, richtiges Verhalten in der Kirche, richtiges Beschmieren des Brotes, die richtige Lautstärke beim Radio hören – vieles mag dem Leser bekannt vorkommen. Und doch erscheint es dem Protagonisten wie Unterdrückung. An ein Auflehnen gegen die väterliche Autorität ist nicht zu denken, das mahnende Kruzifix überall. Der Alltag und die Sprache drehen sich um Religion, Tagesrituale und bieten wenig Raum für Alternativen.
    Und dann sozusagen ein Erweckungserlebnis: der Junge alleine am Radio, weil die Familie sich nicht für Fußball interessiert, lauscht den Kommentaren Herbert Zimmermanns. Nahezu lästerlich wird immer wieder gerettet, gerettet, gerettet, der «Fußballgott» hilft, der Aussenseiter vollbringt das «Wunder», nicht nur sprachlich eine Befreiung für den Jungen. Plötzlich sind die Zwänge vergessen. Es gibt noch mehr da draußen, auch wenn Bern weit weg ist, aber heute war er Teil des Erfolgs!

    Für mich mit den «Birnen von Ribbeck» das beste Buch von Delius. Ein kurzer Roman, der die Atmosphäre der Nachkriegsjahre sehr gut einfängt, der alleine durch die Sprache mit vielen religiösen Motiven erst einen Zwang beschreibt, und anschließend so befreiend wirkt.