Masha Gessen - Der Beweis des Jahrhunderts / Perfect Rigor. A Genius and the Mathematical Breakthrough of the Century

  • Inhalt

    Im Jahr 2000 benannte das Clay Mathematics Institute im Rahmen einer Konferenz in Paris sieben mathematische Probleme, die sich einer Lösung bisher am erfolgreichsten widersetzt hatten. Für jedes einzelne setzte das Institut, gegründet vom Bostoner Geschäftsmann Landon Clay und seiner Frau Lavinia, ein Preisgeld von einer Million Dollar aus.

    Zu einem der berühmtesten dieser Millennium-Probleme gehörte der Beweis der Poincaré- Vermutung, an der sich seit seiner Formulierung vor rund 100 Jahren bereits die klügsten Köpfe die Zähne ausgebissen hatten.

    Der 1966 geborene russisch-jüdische Mathematiker Grigori Jakowlewitsch "Grischa" Perelman erbrachte den Beweis und stellte ihn im November 2002 ins Internet.


    Die Autorin

    Masha Gessen wurde 1967 in der Sowjetunion geboren und hat sich in ihrer Jugend intensiv mit Mathematik beschäftigt. 1981 emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA, kehrte aber 1994 nach Russland zurück und lebt heute hauptsächlich dort, aber auch in den USA.

    Sie schrieb u. a. für die New York Times, Slate, Vanity Fair und The New Statesman, ist feste Mitarbeiterin der Zeitschrift Itogi sowie politische Kolumnistin der Zeitung Matador; außerdem arbeitet sie als Russlandkorrespondentin für New Republic und hat mehrere Bücher verfasst.


    Meine Meinung

    In ihrem bemerkenswerten Buch macht sich die Autorin auf die Spur des Mannes, der diese mathematische Höchstleistung vollbringen, und dennoch völlig unkonventionell damit umgehen sollte. Er hielt sich nicht an die Regel, sein Ergebnis in einer renommierten Fachzeitschrift zu veröffentlichen, und lehnte das Preisgeld genauso rigoros ab, wie er zuvor auch jede andere Anerkennung zurückgewiesen hatte. Welche Gründe ihren Protagonisten zu dieser Handlungsweise veranlassten, erörtert Masha Gessen sehr ausführlich.

    Mehr als die Hälfte des etwas über 300 Seiten umfassenden Buches befasst sich mit dem Werdegang Perelmans, dem Schüler und Studenten. In diesem Zusammenhang erhält der Leser sehr viele Informationen über das sowjetische Schulsystem zur Zeit des Kommunismus, in dem Perelman aufwuchs.

    Über das Leben Grischas kann die Autorin nur aus zweiter Hand berichten und sich auf die Erinnerungen von Lehrern, Kollegen und Freunden berufen, die bereit sind, Auskunft über das Ausnahmetalent zu geben. Eine persönliche Kontaktaufnahme mit Grigori Perelman ist nicht möglich, da er völlig zurückgezogen lebt und keine Interviews gibt.

    Hinsichtlich dieser Umstände hat Masha Gessen meiner Meinung nach Beeindruckendes geleistet, um sich vor allem der Persönlichkeit des Genies möglichst anzunähern. Ihm in seine Gedanken- und Vorstellungswelt zu folgen, ist ohnehin nur einer Handvoll Mathematikern möglich. Und selbst die wenigen Kollegen, die dazu in der Lage sind, benötigten annähernd zwei Jahre um seinen Beweis der Poincaré-Vermutung zu bestätigen. Erschwerend kam hinzu, dass Konkurrenten aus dem Fernen Osten auftauchten, die behaupteten, Perelman habe nur den Weg bereitet, während sie sich den Ruhm des Beweises selbst auf die Fahnen zu schreiben gedachten.

    Die Autorin hat äußerst akribische Recherchearbeit betrieben und sogar Unterricht bei einem Mathematiker genommen. Erfreulicherweise handelt sie die Grundbegriffe dieser schwierigen, für den Laien ohnehin unbegreiflichen Materie in nur einem Kapitel ihres Buches ab. Der Leser wird dabei nicht mit Fachwissen strapaziert, und erhält dennoch eine Ahnung von den unendlichen Weiten eines mathematischen Universums, das jedem Normalsterblichen verwehrt bleibt.

    Nach dieser Einführung in die Thematik wird jedoch umso klarer, welcher beinahe übermenschlichen gedanklichen Anstrengung Perelman fähig gewesen sein muss. Wie er bei der Problemlösung der Poincaré-Vermutung vorging, ist unbekannt, doch bereits in der Schule nahm er Aufgaben anders in Angriff als seine Mitschüler.

    Zitat

    Perelmann stellte seine Überlegungen fast vollständig im Kopf an, weder schrieb er etwas auf, noch kritzelte er Zeichnungen auf irgendwelche Zettel. Dafür tat er etwas anderes - er summte, stöhnte, ließ einen Tischtennisball auf dem Schreibtisch tanzen, schaukelte vor und zurück, schlug mit seinem Stift einen Rhythmus auf die Tischplatte, rieb sich die Oberschenkel, bis die Hosenbeine abgewetzt waren. Irgendwann schließlich rieb er sich die Hände - das Zeichen, dass die Lösung jetzt niedergeschrieben werden konnte, und zwar vollständig ausformuliert.

    Ohne eine Ferndiagnose erstellen zu wollen, verweist die Autorin auf die Möglichkeit, dass Grischa, wie so viele andere Genies, eventuell unter dem Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus, leidet. Sein einseitiges, beinahe ausschließlich auf die Mathematik ausgerichtetes Interesse, sein Sozialverhalten, mit dem er Weggefährten immer wieder vor den Kopf stößt, seine Ansichten zur Körperpflege (Perelman lehnt es als unnatürlich ab, sich die Haare und Nägel zu schneiden) oder seine extrem asketische Lebensweise könnten als typische Symptome angeführt werden.

    Vor dieser Lektüre hatte ich weder von der Poincaré- Vermutung noch deren Bezwinger jemals etwas gehört oder gelesen. Mit ihrem Buch hat mir Masha Gessen die Persönlichkeit dieses exzentrischen Mathematikers auf sehr einfühlsame Weise nahegebracht.

    Abgesehen von seiner unglaublichen geistigen Leistung habe ich mit Grigori Perelman einen Zeitgenossen (vielleicht den einzigen?) kennengelernt, der mit hundertprozentiger Sicherheit das Prädikat "nicht käuflich" verdient. :pray:


    Beeindruckende :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: