Charles Dickens - Eine Geschichte aus zwei Städten / A Tale of Two Cities (Start: 1. Februar 2019)

  • Es war sehr schön mit Euch zu lesen und würde mich auf eine baldige neue Dickens LR freuen.

    Mir hat es auch super Spaß gemacht, zusammen mit euch allen dieses doch etwas andere Werk von Dickens gemeinsam zu lesen. Der Austausch, die Erörterungen, die vielen zusätzlichen Informationen, die Diskussionen und auch Spekulationen waren spannend und bereichernd. :friends: Ich weiß nicht, ob ich ohne MLR nach dem holprigen Start drangeblieben wäre :-k und freue mich schon auf die nächste Dickens-MLR. :lol:

    Mir hat die gemeinsame MLR auch sehr gut gefallen! Der Austausch, die unterschiedlichen Blickwinkel und Meinungen und noch die vielen Zusatzinformationen waren sehr bereichernd! Eine weitere Dickens MLR wäre sehr schön! :winken:

    Ich kann mich euch nur anschließen! :)

    Die Leserunde war abwechslungsreich und sehr erhellend und schön, dass es auch öfter unterschiedliche Meinungen gab. :wink:


    Ich hab irgendwie noch im Hinterkopf, nochmal auf was antworten zu wollen, aber das hat vielleicht noch Zeit. Nachdem ja noch ein paar später hier was schreiben wollen, warte ich mal darauf, bis dahin fällt es mir bestimmt wieder ein. :lol:


    Hat Spaß gemacht mit euch! :) Hoffentlich und gerne mal wieder. :winken:

  • Ich hab irgendwie noch im Hinterkopf, nochmal auf was antworten zu wollen, aber das hat vielleicht noch Zeit. Nachdem ja noch ein paar später hier was schreiben wollen, warte ich mal darauf, bis dahin fällt es mir bestimmt wieder ein. :lol:

    ganz bestimmt fällt es Dir wieder ein und bis dahin schreib ich schon mal weiter. :lol: Den Appendix hab ich jetzt endlich durch und es waren einige interessante Ideen und Informationen dabei.


    Die Idee des Schuhmachers: Dickens hat auf seiner Amerikareise wohl ein Gefängnis besucht, in dem die Gefangenen alle in Isolation gehalten wurden mit den entsprechenden Auswirkungen auf Geist und Psyche. Ihm fiel damals bereits das monotone Hämmern auf, das er eben mit dem Schuhe machen in Verbindung brachte. Dabei war die Figur eines Schuhmachers auch ein Symbol der Revolution: eine populäre Revolutionszeitung kreierte die Figur des "Jacques Cordonnier", also Schuhmacher, der in Kolumnen seine Meinung zu allem möglichen mitteilte. Gleichzeitig gab es aber damals schon die Überzeugung höherer Schichten, dass "ein Schuhmacher bei seinen Leisten bleiben soll" - das muss ich wohl nicht interpretieren. Damit zeigt man durch die Wertung der Person des Schuhmachers bzw. seiner Meinung zu den unterschiedlichsten Dingen gleichzeitig die eigene Position pro oder contra der Herrschaft des Volkes an. Diese Deutung des uns wohlbekannten Spruchs war mir echt neu und ich finde das grad spannend. Der Schuhmacher taucht u.a. auch in einem umfangreichen Werk von Dumas auf, dort als sadistischer Gefängniswärter von Marie-Antoinette und des Dauphin, den er grausam misshandelt und demütigt und zwingt, Schuhe zu machen.

    Jetzt steht das Schuhe-machen durch die positive Figur des Dr. Manette also diesen ganzen negativen Aspekten gegenüber, die Dickens ganz sicher bekannt waren. Er gibt dieser Handlung aber neben dem obsessiven Tun des geistig umnächtigten Gefangenen noch die maskierte Bedeutung der Wut, die ein Ventil braucht - der Wut, die später in Manettes Brief deutlich wird. Dies alles laut dem Herausgeber meiner Ausgabe, der durch diese obsessive Zwangshandlung sogar eine Verbindung von Manette zu Mme Defarge zieht, die ja genauso obsessiv strickt. Ob ich dieser Verbindung folgen mag, weiß ich noch nicht. :scratch:


    Die Selbstopferung war zu Dickens Zeit eine wahre Modeerscheinung und taucht in vielen Werken auf. Im Vorwort zu "A Tale" schreibt Dickens

    Zitat von Charles Dickens

    When I was acting, with my children and friends, in Mr. Wilkie Collins drama "The Frozen Deep", I first conceived the main idea of this story.

    Wobei sich das letztere auf "A Tale" bezieht. Auch in Collins Drama, das durch die Franklin Expedition inspiriert wurde, opfert sich der Hauptcharakter (gespielt von Dickens) am Ende. Und es werden noch zahllose weitere Stücke zitiert, die alle das gleiche Motiv beinhalten - der eine opfert sich am Ende für den anderen. Sehr häufig geschah das genau so wie bei Carton und Darnay: im Gefängnis kurz vor der Hinrichtung tauscht der eine sich gegen den anderen aus und wandert für ihn zur Guillotine. Als "A Tale" erschien, wurde parallel eines der Stücke am Theater aufgeführt, und als "A Tale" selbst als Theaterstück inszeniert wurde, lief es parallel zu einem weiteren, so dass sich das Publikum ernsthaft fragte, wer hier eigentlich bei wem geklaut hatte. Dickens hat also ein sehr populäres Motiv aufgegriffen, so unglaubwürdig es uns auch erscheinen mag.


    Im übrigen hat auch Darnay ein reelles Vorbild. Eine zur damaligen Zeit bekannte Autorin, Helen Maria Williams, bereiste Frankreich zum einjährigen Jubiläum der Revolution. Sie war bekannt mit einem Baron de Fossé, der wie Darnay nach England geflohen war mitsamt seiner bürgerlichen Frau, um den Repressionen seines Vaters zu entgehen, der ziemlich dem Onkel Darnays zu entsprechen scheint. Der Vater lockte seinen Sohn mittels falscher Versprechen zurück nach Frankreich und liess ihn einkerkern in der Hoffnung, ihn zu brechen, was ihm aber nicht gelang. Erst als der Vater starb, wurde der Sohn aus dem Gefängnis befreit, entsagte seinem Titel (aber nicht seinem Erbe), und lebte froh und glücklich bis ans Ende aller Tage. Also hat tatsächlich unser Darnay auch ein lebendes Vorbild, wobei nicht belegt ist, dass Dickens die Geschichte wirklich kannte, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch gegeben, zumal die Autorin eine von drei englischen Quellen ist, die Carlyle in seinem Werk "The French Revolution" zitiert und benennt.


    So, jetzt fehlen mir noch 25 vollgestopfte Seiten Einleitung 8-[ Falls Ihr davon überhaupt noch was wissen wollt

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Falls Ihr davon überhaupt noch was wissen wollt

    Oh ja bitte! Danke auch für die anderen Zusammenfassungen! Ich finde das absolut interessant.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024


  • Ich möchte mich zum Abschluss auch nochmal bei allen bedanken:friends:. Es ratterte und knatterte bei allen in den Köpfen und ich habe enorm viel an Ideen und Informationen, aber auch an Begeisterung mitgenommen.Ei unvergessliches MLR-Vergnügen:flower:.

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Mir hat diese MLR auch viel Spass gemacht. Bei der nächsten Dickens MLR bin ich auf jeden Fall wieder dabei.

    Auf meiner "to read" Liste stehen noch zwei Dickens Romane. "Hard Times" und "Little Dorrit". Aber welchen Roman ihr auch

    immer aussucht, bin dabei!!!!

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Auf meiner "to read" Liste stehen noch zwei Dickens Romane. "Hard Times" und "Little Dorrit". Aber welchen Roman ihr auch

    immer aussucht, bin dabei!!!!

    da hätten wir die Qual der Wahl doch gleich eingeschränkt, danke :loool:


    Ich hatte und habe noch unglaublich Spaß an dieser Runde - wir waren ja auch ein sehr aktiver Haufen, da macht es gleich noch mehr Spaß. Und viel gelernt hab ich auch noch dabei, denn wir mussten uns ja direkt mit der Geschichte auseinandersetzen bzw ich tue das ja noch. Ich freu mich auch auf die nächste Runde, in der Ihr hoffentlich alle wieder dabei seid :applause:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • So, ich bin durch. Die "Einleitung" ist mehr eine Interpretation und ich bin froh, dass ich sie nicht vorher gelesen habe, denn es wird wirklich alles darin verraten. Ich hätte mich massiv gespoilert :roll: Aber alles gut, ich hab es ja sehr schnell gemerkt.


    Also wir waren echt gut in unseren Interpretationen und Mutmassungen zu Dickens Ambitionen und Zielen, aber auch zu den Hintergründen. Die "echoes of footsteps" sowie solch treffende, auf unterschiedliche Charaktere bzw. Situationen zutreffende "Schlagwörter" wie z.B. "recalled to life" haben wir ja von alleine ausmachen können. Auch den Kontrast zwischen den beiden Städten, obwohl am Anfang ja eher auf die Gemeinsamkeiten hingewiesen wurde, haben wir erkannt. Interessant an der Einleitung ist, dass dort Mr. Lorry in seiner Stabilität und Kontinuität, seinen old-fashioned habits, als Symbol für London und für dessen Sicherheit angesehen wird (übrigens auch Jerry, der trotz allem ja noch ein Gewissen besitzt). Auch wenn es einen Mob gibt in London, so wirkt der eher karnevalesk und zerstreut sich sehr schnell. Die Menschen können ihre Geheimnisse waren und in Frieden leben. In Paris dagegen stehen alle und jeder unter ständiger öffentlicher Beobachtung, es gibt kein Privates mehr, alles wird ans Licht gezerrt - das wird symbolisiert durch Mme Defarge, die tricoteuse citoyenne, die symbolhaft jeder Verurteilung und auch jeder Hinrichtung beiwohnt.


    Wir hatten über die Figur von Lucie gerätselt und über Dickens Frauenbild. Nun, Lucie ist wohl direkt der Geliebten Dickens nachempfunden, die 18jährig mit Dickens ein Verhältnis einging. Lucie bildet wirklich den "Goldenen Faden" des Romans und Dickens hatte sogar genau einen solchen Titel erwogen. Um sie herum sind die drei Männer gebaut, die alle auf ihre Weise ein Verhältnis mit ihr haben. Spannend die Interpretation eines fast inzestuösen Verhältnis zwischen Manette und Lucie - uns war dieses enge Verhältnis ja auch suspekt. Manette kann nur durch sie und mit ihr leben, weshalb Darnay für ihn einen Rivalen darstellt, auch schon bevor er von dessen Vergangenheit weiß. Darnay, der auch in der Einleitung als blass beschrieben wird (finden wir ja durchaus auch), wird durch die Enthüllung seiner Herkunft dann sogar zum gehassten Feind. Carton dagegen bleibt der Geliebte in der Ferne, aber eben Teil des Dreigestirns. Weder Manette noch Carton können Darnay leiden, insofern sind sie Verbündete - aber sie sind das auch in der Rettung von Lucies Lebensglück. Aber während Manette in Paris das stets betont und behauptet (er redet ja ständig davon "ich habe ihn gerettet") tut Carton das am Ende wirklich, nachdem Manettes hasserfüllte Brief Darnays Todesurteil unterschreibt. Der Interpret spricht hierbei immer wieder vom unterdrückten Hass Manettes auf Darnay, wobei ich diesen nicht so sehr im Buch empfunden habe. :-k

    Darnay wird übrigens als schwach und fehlerbehaftet gezeichnet, charakterisiert an einer Auslassung, die uns auch auffiel: er reist nach Frankreich und trifft seinen Onkel, der ja in der Nacht ermordet wird. Und danach springt die Handlung direkt zurück nach London, wir erfahren nichts weiter. Erst später wird bekannt, dass Darnay das Erbe zwar angetreten, sich aber vor der Verantwortung gedrückt hat weil er seine Vergangenheit hinter sich lassen will. Er macht ein paar leichtherzige Anweisungen und geht zurück nach England, ohne sich weiter um seinen Besitz und die von ihm abhängigen Menschen zu kümmern. Das ist seine Schuld, die sich nachher rächt - er hat ein schlechtes Gewissen und kann damit nach Frankreich zurückgelockt werden. Und er steht damit exemplarisch für den französischen Adel, der nicht wusste wie er sich verhalten sollte und der nicht in der Lage war, persönliche Verantwortung zu übernehmen.


    Spannend waren Aussagen in Bezug auf Monseigneur und Monsieur. Diese beiden Figuren waren für uns ja sehr negativ behaftet, wobei Monseigneur in der Einleitung nicht soooo negativ wegkommt. Zwar wird ihm und symbolisch damit der gesamten Elite Unfähigkeit in Regierungsgeschäften bescheinigt, aber gleichzeitig eine gewisse Offenheit gegenüber "Ungläubigen Philosophen und Chemikern" und die höhere Bourgeoisie hatte auch Zutritt zu seinen Gemächern. Monsieur dagegen verkörpert das totale Negative, krass ausgearbeitet in der Kutschenszene sowie in der Vergangenheit. Dickens bringt hier das "Recht auf die erste Nacht" ins Spiel, als er Monsieur die junge Frau vergewaltigen lässt. Dabei hatte er im Manuskript zunächst "nur" eine Verführung und Scheinehe geschrieben, dies aber verworfen für die grausamere Version. Mit diesem "Recht der ersten Nacht", das im 18. Jahrhundert ziemlich sicher nicht mehr ausgeführt wurde, sowie der willkürlichen Verhaftung und Einkerkerung Manettes durch einen "cachet de lettre" steht Monsieur für die Grausamkeiten des alten Regimes. Die Cachet - unterschriebene Blanko-Haftbefehle, in denen Namen und Verbrechen offen blieben - gab es wirklich, aber sie wurden viel mehr unter Louis XIV verwendet als später. Und zur Zeit der Erstürmung der Bastille gab es wirklich nur noch diese sieben Gefangenen, die wir auch gelesen haben. Ansonsten war die Bastille leer.

    Monseigneur und Monsieur stehen sich also durchaus als "der Zukunft zugewandte, experimentell-liberale Hof-Elite" und "der Vergangenheit verhafteter Landadel" gegenüber, wobei auffällig hierbei die Ächtung Monsieurs ist, der ja nicht einmal von Monseigneurs Gästen beachtet wird - er ist eine persona non grata.


    Dickens kämpfte übrigens sehr mit der von ihm gewählten Form der wöchentlichen Kapitelveröffentlichungen - sie waren ihm zu kurz, er haderte sehr damit und nannte sie "teaspoons". Deshalb veröffentlichte er parallel monatlich in gewohnter Form. Diese kurzen Sequenzen zwangen ihn auch zu diesen dichten, verknappten Erzählungen in den Kapiteln, was in den anderen Romanen, die ich von ihm kenne, so nicht vorkommt.


    Übrigens wird "A Tale" als ein Roman mit kleinem Maßstab beschrieben, der für seine Szenen im großen Maßstab erinnert wird. Eigentlich ein Roman, der sich viel um Familie, Bindungen, Emotionen dreht, der szenisch mit wenigen Personen auskommt und versucht, durch Handlung und nicht durch Dialoge zu sprechen, und doch für seine bildhaften Szenen der Französischen Revolution erinnert wird, obwohl Dickens da ja nur die drei großen Bilder der Bastille, der Massaker und der Hinrichtungen benutzt. Es wird gesagt, dass Menschen, die den Roman bereits einmal gelesen haben, sich vornehmlich an diese Szenen erinnern. Das ist etwas, das uns taliesin als einziger unserer Runde vielleicht beantworten kann: an was konntest Du dich vor Beginn unserer Leserunden denn noch erinnern? :wink:


    So, das waren meine "letzten Worte" zu "A Tale of Two Cities". Ich hatte wahnsinnig viel Spaß mit Euch zusammen in dieser Leserunde und freue mich schon auf die nächste mit Euch :applause::friends:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Falls Ihr davon überhaupt noch was wissen wollt

    Ja, bitte sei so gut. Ich war eine Woche im Schnee unterwegs und daher hier so still. Jetzt habe ich Deine Informationen alle nachgelesen. Vielen Dank dafür!

    Der Schuhmacher taucht u.a. auch in einem umfangreichen Werk von Dumas auf, dort als sadistischer Gefängniswärter von Marie-Antoinette und des Dauphin, den er grausam misshandelt und demütigt und zwingt, Schuhe zu machen.

    Das ist nicht nur Fiktion, sondern traurige Realität. Marie Antoinette wurde hingerichtet natürlich wegen Hochverrats, aber auch wegen Unzucht mit ihrem Sohn, dem Dauphin. Louis, der Dauphin, war ihr vor der Einlieferung in die Conciergerie weggenommen worden und lebte bei einem Kleinhandwerker, einem Schuster, wo es ihm schlecht erging. Seine Spur verlor sich dann. Mir war die Sache mit dem Schuster komplett entfallen!


    Und es werden noch zahllose weitere Stücke zitiert, die alle das gleiche Motiv beinhalten - der eine opfert sich am Ende für den anderen.

    Schiller "Die Bürgschaft"! Allerdings geht es hier gut aus, beide Freunde überleben, und der Despot wird der Dritte im Bunde.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • So, das waren meine "letzten Worte" zu "A Tale of Two Cities". Ich hatte wahnsinnig viel Spaß mit Euch zusammen in dieser Leserunde und freue mich schon auf die nächste mit Euch

    Oh - das ist dann das Schlusswort....?

    Dann auch von mir ein großes Dankeschön für viele Informationen und Gedanken, andere Sichtweisen, Assoziationen und Überlegungen, die für mich die Leserunde so richtig rund und schön gemacht haben!

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Oh - das ist dann das Schlusswort....?

    Ich glaub, da hab ich mich sehr missverständlich ausgedrückt :pale: Ich wollte eigentlich nur ausdrücken, dass ich endgültig alle Anmerkungen in meiner Ausgabe durchgelesen habe und somit keine weiteren neuen Information für Euch schreiben kann. Aber ich diskutiere mich sehr sehr gerne weiter hier durch :friends:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Aber ich diskutiere mich sehr sehr gerne weiter hier durch :friends:

    Prima.

    Mir ist das Ende auch ein bisschen plötzlich, ich bin innerlich noch nicht durch mit dem Buch!

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • sprich mit uns

    hab doch eh soviel geschwätzt in der Leserunde..

    Es sind diese unglaublich starken Bilder, die mir noch im Kopf herumlaufen. Das ging mir bei Stefan Thome ähnlich, allerdings kamen bei Thome noch die ganzen philosophischen-historischen-moralischen etc. Facetten dazu, auch die erzählerischen Besonderheiten. Ein unglaublicher Roman.


    Das war hier bei Dickens nicht so, er hat den Tiefgang in dieser Art nicht, und man merkt, dass er in erster Linie unterhalten will. Er will, dass seine Texte gelesen werden und dass seine Leser auf die nächste Fortsetzung gieren, sie sollen bei der Stange gehalten werden, und da greift er immer wieder auf solche burlesken Szenen wie im Shakespeare-Theater zurück.

    Aber wie er das hier verbindet - das Burleske mit dem Schaurigen - und wie er seinen Leser teilnehmen lässt, wie wir mit ihm aus dem Fenster schauen und einzelne Facetten der schrecklichen Ereignisse mit anschauen, wie er also das große Geschehen der Revolution herunterbricht auf die Sichtweise seines Lesers - das ist sehr gekonnt.

    Für mich verbindet sich das Burleske mit dem Schaurigen besonders augenfällig in der Carmagnole: Dickens hat sie so beschrieben, als säße ich dort und dieser grässliche Totentanz würde an mir vorüberziehen. Wie Dickens die Distanz zum Leser überwindet, zu dieser Zeit - das finde ich sehr beeindruckend. Da kommt Elizabeth Gaskell nicht mit.



    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • hab doch eh soviel geschwätzt in der Leserunde..

    Na, ich doch auch :lol:

    und man merkt, dass er in erster Linie unterhalten will.

    Hmm, da bin ich nicht ganz so einverstanden. Vielleicht ist dieser historische Roman von Dickens da nicht so eindeutig wie seine anderen Werke, aber ich glaube, dass Dickens seinen Mitmenschen sehr wohl einen Spiegel vorhalten will. In den Werken, die zu seiner Zeit spielen, wird das vielleicht deutlicher. Aber auch hier scheint mir das so, denn das Thema "Die Sünden der Väter", die auf die Kinder durchschlagen und deren Leben sogar zerstören können, ist ein immerwährendes, das aber zu Dickens Zeiten auch noch sehr großen Einfluss auf das Leben der Menschen hatte. Mehr als bei uns heute. Und Moral und Verantwortung für das eigene Handeln spielen für mich bei Dickens auch immer eine große Rolle.

    Er will, dass seine Texte gelesen werden und dass seine Leser auf die nächste Fortsetzung gieren, sie sollen bei der Stange gehalten werden, und da greift er immer wieder auf solche burlesken Szenen wie im Shakespeare-Theater zurück.

    Das halte ich für ein legitimes Ansinnen eines Autors :loool: Aber ich weiß, was Du meinst: in diesem Buch merkt man viel stärker als in den anderen, dass es als Serial veröffentlich wurde. Aber es ist auch - glaube ich - das einzige, das in wöchentlichen Teilen veröffentlicht wurde, und das merkt man ganz stark an den Kapitelenden und an den Verdichtungen. Im Englischen gibt es dafür den treffenden Ausdruck "concision", mir fällt der absolut treffende im Deutschen grad nicht ein. Aber Du musst zugeben: Cliffhanger konnte Dickens fantastisch :twisted:

    Für mich verbindet sich das Burleske mit dem Schaurigen besonders augenfällig in der Carmagnole: Dickens hat sie so beschrieben, als säße ich dort und dieser grässliche Totentanz würde an mir vorüberziehen. Wie Dickens die Distanz zum Leser überwindet, zu dieser Zeit - das finde ich sehr beeindruckend.

    Diese Szene ist auch eine der einprägendsten für mich. Aber das Burleske bis hin zum Slapstick hab ich bei Dickens auch in den anderen Werken sehr bewundert. Am besten kommt das für mich auch in "Bleak House" zum Ausdruck - die Art, wie er da Anwälte beschreibt, Szenerien vor Gericht etc, das ist auch sehr extrem :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Hmm, da bin ich nicht ganz so einverstanden. Vielleicht ist dieser historische Roman von Dickens da nicht so eindeutig wie seine anderen Werke, aber ich glaube, dass Dickens seinen Mitmenschen sehr wohl einen Spiegel vorhalten will.

    Du hast mich zum Nachdenken gebracht, Du bist Dickens-versierter und kundiger als ich und überblickst mehr.


    In David Copperfield sehe ich durchaus solche kritischen Anklänge, die er z. B. durch Übertreibungen bzw. Überzeichnungen vermittelt.


    Aber hier in "unserem" Roman finde ich wenig. Natürlich: er warnt vor den Auswüchsen eines Umsturzes, vor der Entfesselung dieser grausamen Seiten im Menschen, vorm Mob - und er prangert auch deutlich die Missstände an, die dazu geführt haben. Und auch hier bricht er die Missstände wieder sehr gekonnt auf die privaten Bereiche einzelner Individuen herunter (ich meine die junge vergewaltigte Frau, die Schwester der Mme Defarge), und das macht das alles sehr plakativ und auch sehr emotional.

    Also insofern wäre das eine Art "Fürstenspiegel", wie wir das vom Mittelalter und der frühen Neuzeit kennen: eine Belehrung, wie man es NICHT machen sollte.

    Aber siehst Du einen Spiegel für den "normalen" Bürger? Darunter würde ich eher eine moralische oder ethische Kritik verstehen, eine Kritik an sozialen Missständen, gesellschaftlichen Gepflogenheiten und dergleichen mehr, und weniger eine politische.


    Allerdings ist mir dann der "ehrenwerte Geschäftsmann" Cruncher eingefallen, der im Buch eine Art Läuterungsprozess durchläuft. Und künftig nicht mehr mit Leichen handelt, seine Frau nicht mehr schlägt und ihre Frömmigkeit akzeptiert und gutheißt - aber!! es bleibt offen, womit sich der arme Kerl denn nun, geläutert, durchs Leben laviert.

    Ich hoffe, ich habe mich verständlich machen können.

    Was meinst Du?

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Das ist etwas, das uns taliesin als einziger unserer Runde vielleicht beantworten kann: an was konntest Du dich vor Beginn unserer Leserunden denn noch erinnern? :wink:

    Das ist schon erstaunlich, dass man sich an die ganz besonderen Romane im Leseleben selbst nach Jahrzehnten noch erinnert. Es sind zwar dann

    keine Einzelheiten mehr, aber es gibt halt Bilder die sich im Kopf (oder Bauch) einfach festsetzen. Bei mir war es das Bild des Sturms auf die Bastille,

    die strickende Madame Defarge und das Bild der Carmagnole die ich sozusagen tief innen gespeichert habe. Das war übrigens während meines

    Studiums der Anglistik und"A Tale Of Two Cities" war mein erster Dickens. Lang, lang ist`s her............:wink:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Bei mir war es das Bild des Sturms auf die Bastille,

    die strickende Madame Defarge und das Bild der Carmagnole die ich sozusagen tief innen gespeichert habe

    damit bestätigst Du ja genau das, was in der Einleitung in meiner Ausgabe geschrieben steht :)


    Übrigens wird "A Tale" als ein Roman mit kleinem Maßstab beschrieben, der für seine Szenen im großen Maßstab erinnert wird. Eigentlich ein Roman, der sich viel um Familie, Bindungen, Emotionen dreht, der szenisch mit wenigen Personen auskommt und versucht, durch Handlung und nicht durch Dialoge zu sprechen, und doch für seine bildhaften Szenen der Französischen Revolution erinnert wird, obwohl Dickens da ja nur die drei großen Bilder der Bastille, der Massaker und der Hinrichtungen benutzt. Es wird gesagt, dass Menschen, die den Roman bereits einmal gelesen haben, sich vornehmlich an diese Szenen erinnern.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Also insofern wäre das eine Art "Fürstenspiegel", wie wir das vom Mittelalter und der frühen Neuzeit kennen: eine Belehrung, wie man es NICHT machen sollte.

    Aber siehst Du einen Spiegel für den "normalen" Bürger? Darunter würde ich eher eine moralische oder ethische Kritik verstehen, eine Kritik an sozialen Missständen, gesellschaftlichen Gepflogenheiten und dergleichen mehr, und weniger eine politische.

    Doch, den sehe ich schon und du hast sie zum Teil ja selbst gesagt: gleich, wie schlecht es einem geht und wie verständlich Gefühle wie Hass und Rache sind, so gibt es eine Grenze, die man niemals überschreiten sollte - so, wie es während der Revolution und dem Terror geschah und wie es Mme Defarge in ihrem blindwütigen Hass verkörpert. Das ist ganz sicher auch an die "normalen" Bürger gerichtet, die durchaus Teil der Revolution waren. Auch z.B. der karnevaleske Beerdigungszug mit seinen Auswüchsen steht für mich als ein Beispiel dafür, oder Cartons Lebensstil, der doch viele gute Anlagen hat als Figur, sie aber nicht nutzt. Wir haben uns ja auch gefragt, warum das so ist. Es sind also auch in diesen Roman einige Spiegel eingebaut, wenn man genau hinschaut. Man könnte sogar Manettes Brief als einen solchen wahrnehmen - wenn man ihn so interpretiert, dass man stets und auch nach langer Zeit mit seinen Taten Entwicklungen auslösen kann, die man so niemals gewollt hat und man daher immer auf seine Taten achten sollte.

    Allerdings ist mir dann der "ehrenwerte Geschäftsmann" Cruncher eingefallen, der im Buch eine Art Läuterungsprozess durchläuft. Und künftig nicht mehr mit Leichen handelt, seine Frau nicht mehr schlägt und ihre Frömmigkeit akzeptiert und gutheißt - aber!! es bleibt offen, womit sich der arme Kerl denn nun, geläutert, durchs Leben laviert.

    Er ist ein besonders gutes Beispiel für "die Moral von der Geschicht'":wink: Und gleichzeitig steht ihm Mr. Lorry quasi als "leuchtendes Beispiel" zur Seite - der Mann, der die Integrität und Loyalität in Person ist.

    In David Copperfield sehe ich durchaus solche kritischen Anklänge, die er z. B. durch Übertreibungen bzw. Überzeichnungen vermittelt.

    Selbst in der berühmten "Weihnachtsgeschichte" sind die kritischen Anklänge deutlich vorhanden, auch wenn man aufgrund des Szenarios die Geschichte gerne einfach als eine hübsche Weihnachtsgeschichte sieht und nicht mehr. Aber damit tut man Dickens sozialkritischen Absichten unrecht, denn hier hat er sie überaus deutlich niedergeschrieben. :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Selbst in der berühmten "Weihnachtsgeschichte" sind die kritischen Anklänge deutlich vorhanden,

    Ja, überdeutlich.

    Äh - die sehe sogar ich :):)!


    Ansonsten kann ich alles nachvollziehen, was Du sagst, aber trotzdem finde ich seine sozialkritischen Anklänge hier sehr verhalten. Ich habe nach wie vor nicht den Eindruck, dass er soziale Kritik äußern will (ich vergleiche natürlich mit Gaskell).

    Ich habe eher den Eindruck, dass er zwei Lebensformen gegenüberstellt und auch wertet:

    hier in England das private Glück, die stille Geborgenheit in der Zweisamkeit und der Familie, die Freundschaft, der "Goldene Faden" etc.

    und dann in Frankreich zeigt er uns ein eher nach außen gerichtetes Leben.

    Ist es in England das Heim der Lucie, also ein abgeschlossener Ort, eine Idylle - ist es in Frankreich das offene und laute Haus einer Schänke, wo alle möglichen Leute aus und eingehen.

    Und dann zeigt er uns auf, wohin das führt.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).