Die Verstümmelten

Buch von Hermann Ungar

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Psychopathologische Groteske über e. traumatisierten Ordnungsfetischisten. Mir zu unbehaglich u. krass, aber einmalig!

Zusammenfassung

Inhaltsangabe zu Die Verstümmelten

Hermann Ungar: Die Verstümmelten. Roman Erstdruck: Berlin, Ernst Rowohlt Verlag, 1923 Neuausgabe. Herausgegeben von Karl-Maria Guth. Berlin 2018. Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Odilon Redon, Nach der Hinrichtung, 1877. Gesetzt aus der Minion Pro, 11 pt.
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Meinungen

  • Psychopathologische Groteske über e. traumatisierten Ordnungsfetischisten. Mir zu unbehaglich u. krass, aber einmalig!

    Jean van der Vlugt

Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Die Verstümmelten

    Der Autor (Quelle: Hohenheim): Hermann Ungar, 1893 in Boskovice (Mähren) als Sohn eines Fabrikanten geboren, studierte Orientalistik, Philosophie und Jura in Berlin, München und Prag. 1914-1916 Soldat, schwer verwundet. Danach Rechtsanwalt, später Theaterregisseur. Ab 1921 Handelsattaché an der Tschechoslowakischen Botschaft in Berlin. Einzelgänger des Prager Kreises um Kafka, Max Brod und Ernst Weiß. Starb 1929 in Prag. Werke: „Knaben und Mörder“ (Erzählungen), 1923; „Die Klasse“ (Roman), 1927, Neuauflage 1973; „Die Gartenlaube“ (Komödie), 1930; „Colberts Reise“ (Erzählungen), 1930.
    Klappentext (Quelle: Hohenheim): „Ein Roman von gramvoller Stärke“ – so urteilte der zeitlebens hartnäckige Hermann-Ungar-Verehrer Thomas Mann über dieses erstmals 1923 erschienene Buch. „Die Verstümmelten“ ist eine danse macabre, deren Schrecknisse gerade in der nirgends über sich hinausweisenden Realistik des Geschehens liegen. Im Gegensatz zu Werken der mit Ungar als Prager Deutschem verwandten Autoren wie Kafka und Ernst Weiß bietet Ungar keine metaphysische Dimension, die wegen ihrer Interpretierbarkeit letztlich tröstet. – Der Bankbeamte Franz Polzer, seit Jahrzehnten in kleinlicher, zermürbender Berufsroutine gefangen, lebt bei der noch jungen Witwe Klara Porges und wird ihr Opfer. Sein Jugendfreund, der reiche und zynische Krüppel Karl Fanta, und dessen Pfleger Sonntag, ein religiös Wahnsinniger, ziehen bei Frau Porges und Polzer ein. Ungar, der „Fanatiker der Kausalität“ (Otto Flake), führt diese Personen in ihren zwangshaften Ängsten und Phantasien, ihrer Geldgier, ihrem kalkuliertem Sadismus und ihrer völligen Verlassenheit in einem Stil vor, der kunstvoll die Erregungen des Expressionismus und die diagnostische Kühle der Neuen Sachlichkeit verbindet.
    Deutsche, französische, italienische, englische und dänische Ausgaben:
    Die deutsche Originalausgabe erschien unter dem Titel „Die Verstümmelten“ 1923 im Ernst Rowohlt Verlag in Berlin (269 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1981 mit einem neunseitigen Nachwort von Harald Kaas als Hardcover mit Schutzumschlag in der Edition Maschke im Verlag Hohenheim in Köln-Lövenich (166 Seiten, Titelbildgestaltung unter Verwendung einer Zeichnung von George Grosz), 1987 als Band 952 der Bibliothek Suhrkamp herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Sudhoff bei Suhrkamp in Frankfurt am Main (183 Seiten) und 2001 als Vol. 9 der BoD-Reihe MaasMedia im Maas Verlag in Berlin (150 Seiten), sowie bei diversen Verlagen als E-Book (u.a. 2011 bei tredition in Hamburg, 2012 bei Jazzybee Verlag in Altenmünster, 2013 im Reese Verlag in Vachendorf, 2015 bei Books on Demand in Norderstedt, 2018 bei Contumax in Berlin, 2018 bei Henricus in Berlin und 2020 bei Saga Egmont in Kopenhagen).Eine erste französische Übersetzung von Guy Fritsch-Estrangin erschien 1928 unter dem Titel „Les sous-hommes“ bei Editions de la N.R.F. in Paris (219 Seiten). Die Fritsch-Estrangin-Übersetzung wurde 2005 unter dem Titel "Les hommes mutilés" als Nr. 515 der Reihe "L'imaginaire" bei Gallimard in Paris erneut herausgegeben (196 Seiten).Eine weitere französische Übersetzung von François Rey erschien 1987 (und später u.a. 1995) unter dem Titel "Les mutilés" als Nr. 52 der Reihe "Petite bibliothèque Ombres" im Verlag Éd. Ombres in Toulouse (217 Seiten).Eine italienische Übersetzung von Carla Bovero erschien 1989 unter dem Titel "I mutilati" in der Reihe "Varianti" bei Bollati Boringhieri in Turin (167 Seiten), neu aufgelegt 2012 als Nr. 4 der Reihe „Narratori“ bei Silvy in Scurelle, Trient.
    Eine englische Übersetzung von Kevin Blahut erschien im April 2002 unter dem Titel "The Maimed" mit Illustrationen von Pavel Růt bei Twisted Spoon Press in Prag (218 Seiten).Eine weitere englische Übersetzung von Mike Mitchell erschien im November 2002 unter dem Titel "The Maimed" in der Reihe "Dedalus European Classics" bei Dedalus in Sawtry, Cambridgeshire (210 Seiten), wieder aufgelegt u.a. 2003 und 2014 ebendort.Eine dänische Übersetzung von Søren Møllerhøj Porsmose erschien 2016 unter dem Titel „De lemlæstede“ mit einem Nachwort von Steffen Skaarup im Forlaget Sidste Århundrede in Kopenhagen (236 Seiten).
    Meine Einschätzung:
    Eine psychopathologische Groteske über einen durch seine lieblose Jugendzeit traumatisierten Ordnungsfetischisten, einen im Grunde sehr unbedeutenden Bankangestellten ohne Verantwortung, austauschbar, aber verlässlich, für den die Stellung über alles geht. Sein Abgleiten in Verfolgungswahn, Perversität, Abhängigkeit und Machtmissbrauch ist mir wirklich zu unbehaglich und krass, wenn auch einmalig in seinem schmuddeligen Ambiente: dampfig wie von ungesunden Schwaden durchzogen. Keine Schönheit, nur Schmutz, keine Entspannung, nur Anspannung, Misstrauen und Niedertracht, selbst alle Naturelemente werden völlig draußen gehalten: Der Roman ist sehr urban, abweisend und steif wie ein Bild der Neuen Sachlichkeit: Steinwände, speckige Hinterzimmer, verquollene Dielen, Gaslichter auf der Straße. Wo bei Kafka bei allem ohnmächtigen Schrecken ein böses Lachen möglich wäre, schlummert bei Ungar das reine körperliche Entsetzen und der Ekel. Die Entfremdung des modernen Menschen auf die Spitze getrieben.
    Hauptfigur Franz Polzer wird zerfressen von Selbsthass und Misogynie, von Körperekel und extremer Abscheu vor Sexualität. Er ist ein sehr kontrollierter, von Ängsten getriebener Mann, der nichts herauslassen kann über sich und stets den Schein wahren möchte: Was werden die anderen denken? Was wird da gerade über mich getuschelt? Ehe er darum bittet, austreten zu dürfen, verklemmt er sich den schmerzenden Harndrang lieber einen ganzen Nachmittag. Sein Verstand schlägt Purzelbäume, wünscht aber stets, dass einfach alles beim Alten bleiben sollte. Aber in seinem sozialen Argwohn ist Polzer nicht allein. Auch sein früher von ihm homoerotischangehimmelter Jugendfreund, der begüterte, aber kranke Karl Fanta sieht überall Ränke, die auf sein Leben zielen: seine junge Frau, die vielleicht auf sein Geld aus ist, sein religiöser Krankenpfleger, der früher Metzger war und immer noch gut mit dem Hackmesser hantieren kann. Denn der erwachsene Fanta leidet an einer namenlosen, aussätzigen Krankheit, die ihm nach und nach die Extremitäten wegfaulen lässt, was einige unappetitliche Schlaglichter in den Roman hineinbringt, die aber von Polzers Gedankenbeschreibungen des nackten weiblichen Körpers an Ekel weit übertroffen werden, wenn er sich „gezwungenermaßen“ mit seiner verwitweten Vermieterin einlässt.
    So gibt es in diesem Roman keine Sphäre, weder das Geistige, noch das Körperliche, auf das man sich verlassen könnte: Leiber, die einen anekeln, Hintergedanken und Schliche der Mitmenschen, die nur darauf zielen, einem das Leben zu vermiesen. Geldgier, üble Nachrede, das Gegenüber mit allen Mitteln klein machen. Keine Solidarität, keine Sicherheit und bald auch keine Privatsphäre mehr, wenn der letzte Schutz der Routine, der Unauffälligkeit und der Verantwortungslosigkeit einem durch die Umstände, die Mitmenschen und die eigene Unfähigkeit, dazuzugehören, zerstört wird. Man klebt als Leser so nah an der desolaten Hauptfigur und ihren krampfigen Innenwelten, dass man völlig ausgeliefert Polzers Entsetzen und Hilflosigkeit miterleben muss, ein Geworfensein in den Mahlstrom, das in sozialer und sexueller Demütigung endet, in Wahnsinn und Paranoia und Blut.
    Ein unberechenbares, mental sehr verdrehtes Buch, eine sehr grimmige und fast widerwärtige Lektüre, die auch nach 100 Jahren den Leser noch schockieren kann: Alles ist krank und scheel, eine Hauptfigur als soziale Missgeburt – und das größte Untier ist der Mitmensch, vor allem wenn er als gesichtslose Masse auftritt, gegen die der Einzelne nicht ankommt. Und wenn man nah herangeht an den Körper, dann wird alles gleich unschön und ekelhaft. Mir ist das alles wie schon gesagt doch zu negativ und allumfassend düster: Das Groteske lässt mich zum Ende hin, wenn sich alles etwas nebulös absurd entwickelt, aussteigen. Aber Mitgefühl war sicherlich sowieso nicht beabsichtigt. Für mich war das alles etwas zu dick aufgetragen, obwohl das Neurotische und das Verklemmte bis dahin wiederholt in sehr treffenden Momenten, Gedanken und Worten eingefangen wird. Ungar ist ein sehr punktgenauer Sezierer von Lebensängsten und Sozialphobien, von Sadismen, Schwächen und Eigensinnen von autoritären, abgehängten, neurotischen und zynischen Charakteren. Die Hölle der Sexualität. Somit: ein krasses Buch, das bei mir dennoch nur lauwarm aufgenommen wurde.
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Ausgaben von Die Verstümmelten

Hardcover

Seitenzahl: 128

Taschenbuch

Seitenzahl: 128

E-Book

Seitenzahl: 198

Besitzer des Buches 8

Update: