Die erdabgewandte Seite der Geschichte

Buch von Nicolas Born

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Die erdabgewandte Seite der Geschichte wurde bisher einmal bewertet.

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Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Die erdabgewandte Seite der Geschichte

    Der Autor (Quelle: Wikipedia): Nicolas Born (* 31. Dezember 1937 in Duisburg; † 7. Dezember 1979 in Breese in der Marsch bei Dannenberg im Landkreis Lüchow-Dannenberg; eigentlich Klaus Jürgen Born) war ein deutscher Schriftsteller.
    Klappentext (Quelle: Rowohlt): Nicolas Borns Roman handelt von Menschen, an deren Beispiel sich die Vernichtung der Geschichte in einem doppelten Sinne vollzieht. Sie sind keineswegs die Herren der Geschichte, nicht einmal die Herren ihrer Geschichte. Sie leben in einem Zwischenzustand, in dem sie weder zusammenbleiben noch auseinandergehen können. Die Unsicherheit ihrer Erfahrungen und Gefühle treibt sie in eine Art privaten Untergang, dem sie selbst als ihre einzigen Zeugen zusehen. Jeder von ihnen versucht, sich auf irgendeine Weise zu retten. Maria, die als Agentin für eine Schallplattenfirma tätig ist, greift zu den Mitteln der Erpressung und Bedrohung, um ihre Gefühle in Sicherheit zu bringen. Ihr Freund, der Ich-Erzähler, der sie verlassen will, nimmt zuletzt Zuflucht in der Beschreibung ihrer Geschichte, die er jedoch der authentischen Geschichte immer unähnlicher zu machen sucht. Lasski schließlich, sein Freund, wählt aus ähnlicher Situation den Ausweg in die entschiedene politische Parteinahme, zu der er jedoch gar nicht fähig ist. In den privaten Konflikten, die zeigen, wie unmöglich, ja unmenschlich es ist, sich mit einer umfassenden Sinnlosigkeit abzufinden, spiegelt sich auch eine Öffentlichkeit, die aus ihrer eigenen Balance gestürzt ist und nicht einmal mehr die Fiktion einer Geborgenheit produzieren kann. Es ist eine Geschichte der total gewordenen Unsicherheit und sogar des Zweifels an den besten menschlichen Substanzen, nämlich der Gefühle, Gedanken und der Fähigkeit zur Vernunft. Das ist der Zustand, dem die Personen allerdings mit aller verzweifelten Anstrengung zu entrinnen versuchen. Der Roman spielt in Berlin und anderswo. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete ihn in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als „literarisches Ereignis“. Denn „hier lässt sich finden, was wir in der neuen deutschen Prosa immer wieder und fast immer vergebens suchen: das Aroma dieser Jahre, ein Stück Leben unserer Zeit“.
    Deutsche, französische, niederländische, polnische und koreanische Ausgaben:
    Die deutsche Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“ im Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg (251 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 1979 (und 1980, 1982 und 1987) als rororo-Taschenbuch Nr. 4370 im Rowohlt Taschenbuch Verlag in Reinbek bei Hamburg (251 Seiten). 1981 erschien der Roman als Lizenzausgabe für die DDR im Verlag Volk und Welt in Berlin (292 Seiten). 2008 wurde der Roman als Band 66 der Reihe „Wir in Nordrhein-Westfalen“ als Hardcover mit der Bestellnummer 1954 im Klartext Verlag in Essen neu herausgegeben (198 Seiten).Die französische Übersetzung von Michèle und Jean Tailleur erschien 1979 unter dem Titel „La face cachée de l'histoire“ bei Gallimard in Paris (246 Seiten).Die niederländische Übersetzung von Jan Gielkens und Ton Naaijkens erschien 1982 unter dem Titel „De donkere kant van de geschiedenis“ bei Meulenhoff in Amsterdam (238 Seiten).Die polnische Übersetzung von Emilia Bielicka erschien 1989 unter dem Titel „Niewidoczna strona historii“ bei Czytelnik in Warschau (184 Seiten).Eine koreanische Übersetzung von U-yŏng Im erschien 2004 unter dem Titel „이별 연습 : 지구 반대편 을 향한 달 이야기“ bei Wŏrin in Sŏul (332 Seiten).
    Für den Roman „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“ wurde Born 1977 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet, einem der ältesten und wichtigsten Literaturpreise der Bundesrepublik.
    Meine Einschätzung:
    Dieser Roman ist unter dem Besten an deutscher Literatur, was ich überhaupt je gelesen habe. Das macht aus ihm eine nahrhafte, aber auch sehr intensive und nahe gehende Lektüre, die sich nicht nebenbei ertragen lässt. Mancher nennt es vielleicht schwer, dabei ist es ganz einfach und klar. Der Roman wirkt, als ergösse sich das wirkliche Leben in Form fortlaufender Empfindungen und Berichte ganz ohne den Umweg über literarische Mätzchen direkt auf die Buchseiten, ein langer Bewusstseinsstrom von außergewöhnlicher Ehrlichkeit in Selbstbetrachtung und Weltschau und ganz fern jeder manieristischen Attitüde, die sich in Exhibitionismus gefällt. Ohne den Filter des Romanhaften fehlt aber auch die Möglichkeit für den Leser, sich zwischenzeitlich kurz auszuruhen, zu verschnaufen und die Empfindungen der Figuren nicht ständig so nah an sich heranlassen zu müssen.
    Borns authentischer Tonfall, der ohne alle Jovialitäten und flapsige Umgangssprachlichkeit so klingt wie die im Vertrauen geäußerten Mitteilungen eines guten Freundes (wenn es sich nicht gleich nach der inneren Stimme des Lesers selbst anhört), erlaubt kaum, die Geschichte dieser Menschen nicht ständig an sich heranzulassen. Alles ist wichtig, denn die Tragödie gärt in jedem Absatz, nicht erst, wenn (wie sonst) der nächste Plot Point für Verschlimmerung oder Verbesserung zu sorgen hat. Born (und sein Ich-Erzähler, der selber Schriftsteller ist, geschieden, in den Dreißigern, empfindsam, intellektuell, distanziert, alle Sorgen scheinen mit Geldproblemen zu tun zu haben) versucht, alles aufzuschreiben, selbst wenn es nichts sagt. Alles ringsherum wird bewusst wahrgenommen und Teil der Beschreibung. So ist auch die Art, wie Born Schauplätze, Nebenfiguren und Kleinsthandlungen in den Romanfluss integriert, von einer großen Beiläufigkeit, durch die Dinge geschehen können, ohne dass der Beweggrund, warum der Autor ihnen jetzt diesen Drall verpasst, momentan klar erkenntlich wäre. Die Dichte der Wahrnehmung der Umwelt erschafft die Stimmungen, in denen der Ich-Erzähler dahintreibt. Erst in der Rückschau erkennt man, wie die Momente des Abstoßens und Näherrückens Teil diverser Vorgänge des Scheiterns von Liebesbeziehungen und Lebensentwürfen sind. Es soll auch keine graduelle Verschärfung bestimmter Beziehungsprobleme vorgeführt werden: Nicht der große Knall steht im Vordergrund, der als das Ergebnis bestimmter Charakterzüge von beispielhaften Figuren in Szene gesetzt wird, was diese Figuren wiederum als moralisch Abtrünnige vereinzelte und vom Leser entfernte, sondern gerade das Allgemeingültige der Gefühle und Befindlichkeiten steht im Mittelpunkt, ein Geflecht aus Reibungen, das auch bei der größten Gutwilligkeit aller Parteien in bestimmten (geschichtlichen, sozialen) Situationen bei bestimmten Voraussetzungen dazu führen kann, das eine Beziehung, das ein Lebensentwurf in die Binsen geht. Das Schöne an Borns Haltung als Autor seinen Figuren gegenüber ist, dass er bei aller vermeintlichen Nähe auf Distanz bleibt, die nicht das Gefühlige des Nachempfindens anstrebt, sondern das kalte Sezieren der Innerlichkeit des Ich-Erzählers. Alles wird ganz ohne Empörung oder Pathos, sei es bezogen auf den Ich-Erzähler, seine Liebe zu Maria oder das Treiben seiner Bekannten, und unter Verzicht auf schnelle Erklärungen oder Klischees von Empfindungen erzählt, was den großen analytischen Reiz des Romans ausmacht, sowohl als Charakterstudie eines Scheiterns, als auch noch mehr als ein rücksichtloses, intellektuelles Zeitbild der sich politisierenden Nach-Achtundsechziger-Jahre in der Bundesrepublik.
    Manchmal mag es jedoch auch kleinteilig und manchem Leser fast lächerlich erscheinen, lauter Selbstverständlichkeiten zu einer beschreibenswerten Wahrnehmung zu machen – ein Blick durch einen Kneipenvorhang; das aufbauschende Umdrehen der Blätter in einer Baumkrone, auf dass man die glatte Blattunterseite zu sehen bekommt; die Art, wie eine Frau erschreckt aufschaut und dabei ein Würstchen mit dem Finger auf einer Wurstpappe festhält, wenn der Ich-Erzähler eine Bierdose in einen Mülleimer wirft –, doch all diese Aufmerksamkeiten erschaffen erst das detailgenaue, stimmungsvolle Abbild einer Wirklichkeit, vor deren Verfasstheit die Sensibilität des eigenen Ich in Schwäche, Vermeidung und Entfremdung zerstäubt. Die einzige Person, die der Ich-Erzähler noch als schützenswerten, unverbogenen Menschen wahrnimmt, ist seine minderjährige Tochter, doch selbst an ihr scheitert sein Unvermögen, seiner Zuneigung das richtige Maß zu geben, auf dass es nicht in abstoßende Nähe oder in beleidigende Ferne ausschlage. Er lebt ein erdabgewandtes Leben, das nach Kontakt strebt, aber doch im Schatten bleibt.
    So großartig ich den Tonfall dieses Romans über das Lebensgefühl der bleiernen Jahre in der alten Bundesrepublik finde, so schwergängig und trübe berührend erschien mir die ständige Innerlichkeit, die in der umfassenden Beschreibung der Wahrnehmungen gewissermaßen als Leitlinie eine äußerliche Entsprechung innerer Empfindungen entdecken möchte: ein Abbild der Ichschwäche im Spiegel der Gesellschaft. Doch das vermeintlich Schwergängige schmälert die Güte des Romans in keinem Maße: Ich bin in Romanen selten so tief in eine Stimmung, einen Charakter, einen Lebensgefühl und einen Zeitgeist eingetaucht wie in "Die erdabgewandte Seite der Geschichte", was aber mitunter eben auch sehr anstrengend und ungreifbar ist. Ich bin versucht zu sagen: So war's damals! Beeindruckend: fünf Sterne.
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Ausgaben von Die erdabgewandte Seite der Geschichte

Taschenbuch

 

Hardcover

Seitenzahl: 198

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