Klappentext:
Die Kindheit auf dem Gelände einer riesigen Psychiatrie und das Austauschjahr in Amerika liegen hinter ihm, die Schulzeit hat er überstanden, als vor dem Antritt des Zivildienstes das Unerwartete geschieht: Joachim wird auf der Schauspielschule in München angenommen und zieht zu seinen Großeltern in die großbürgerliche Villa in Nymphenburg. Er wird zum Wanderer zwischen den Welten. Seine Großmutter war selbst Schauspielerin und ist eine schillernde Diva, sein Großvater ist emeritierter Philosophieprofessor, eine strenge und ehrwürdige Erscheinung. Ihre Tage sind durch abenteuerliche Rituale strukturiert, bei denen Alkohol eine wesentliche Rolle spielt. Tagsüber wird Joachim an der Schauspielschule systematisch in seine Einzelteile zerlegt, abends ertränkt er seine Verwirrung auf dem opulenten Sofa in Rotwein und anderen Getränken. Aus dem Kontrast zwischen großelterlichem Irrsinn und ausbildungsbedingtem Ich-Zerfall entstehen die den Erzähler völlig überfordernden Ereignisse – und gleichzeitig entgeht ihm nicht, dass auch die Großeltern gegen eine große Leere ankämpfen, während er auf der Bühne sein Innerstes nach außen kehren soll und dabei oft grandios versagt. (von der KiWi-Verlagsseite kopiert)
Zum Autor:
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, ist seit 2005 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. In seinem sechsteiligen Zyklus Alle Toten fliegen hoch trat er als Erzähler auf die Bühne und wurde zum Theatertreffen 2009 eingeladen. 2007 wurde er zum Schauspieler des Jahres gewählt. Für seinen Debütroman wurde er mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis 2011 und dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. (von der KiWi-Verlagsseite kopiert)
Allgemeine Informationen:
3. Teil der autobiographischen Trilogie „Alle Toten fliegen hoch“
Ich-Erzählung des Autors
346 Seiten
Persönliche Meinung:
Über den schon in beiden Vorgängerbänden thematisierten Unfalltod des älteren Bruders: „Wie eine Guillotine war er in meine heile Welt gefallen, hatte das Davor und Danach in zwei Teile zerhackt, zwei Teile, die nicht mehr im Entferntesten zusammenpassen wollten“ (S. 37)
Joachim wollte eigentlich in München seinen Zivildienst in einem Krankenhaus ableisten, dort hätte er Verpflegung und Unterkunft gehabt. Aber gleichzeitig bewarb er sich auch an der Schauspielschule, dem bekannten Otto-Falckenberg-Institut, wo er zum eigenen Erstaunen und trotz verpatzter Aufnahmeprüfung angenommen wird. Weil er keine Wohnung findet, zieht er bei seinen Großeltern, der Schaupielerin Inge Birkmann und dem Philosophen Hermann Krings, in das „rosa Zimmer“.
Die beiden älteren Leute haben sich mit festen (Trink-)Ritualen in ihrem Tag eingerichtet und beziehen den Enkel ein. Joachim lebt fortan in zwei Welten, der Schule, wo von ihm verlangt wird, sein Innerstes zu erforschen und nach außen zu kehren, und dem intellektuellen und gleichzeitig operettenhaften Ambiente in Nymphenburg.
Er ist ein Hüne, seine Gliedmaßen scheinen zu groß, seine Sprache und sein Atem versagen, mit dem Auswendiglernen klappt es nicht, sämtliche Aufführungen werden von seiner Scham boykottiert - Schauspielerei scheint Joachim nicht zu liegen, und im Nachhinein darf man spekulieren, ob seine Großmutter, einst selbst Lehrerin an der Otto-Falckenberg-Schule, nicht hin und wieder ihre Beziehungen spielen ließ. (Oder ob der Autor einfach seine Schwächen in diesem Punkt übertreibt?)
Der Tod des Bruders ist der zentrale Punkt in Joachims Leben, um ihn drehten sich bereits die beiden anderen Bände. Doch, so erzählt der Autor, ist er vor dem Grab des Bruders und der Trauer in der Familie so weit wie möglich geflohen. Von Schleswig nach München.
In der Schule geht es nicht nur um Atemtechnik, Sprecherziehung und das Einstudieren der Klassiker; es geht in erster Linie darum, sich selbst kennen zu lernen und sein Inneres so zu erforschen, dass es theaterrollentauglich wird.
Doch er erlebt sich als Versager, der nicht in der Lage ist, sich zu entspannen, sich einem Publikum zu stellen oder in eine Rolle zu schlüpfen.
Sehr spät erst erkennt er, was ihn lähmt: Er hat sich seiner Trauer nur kurz gewidmet und sich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht, um den Gefühlen des Verlustes, des Schmerzes und der Verzweiflung zu entkommen. Aber Trauer kann man nicht entkommen, sie holt jeden ein, der sich ihr nicht stellt – eine Erfahrung, die sicher nicht nur Meyerhoff in seinem Leben gemacht hat.
Erst als weitere Mitglieder seiner Familie sterben – von seinen sechs engsten Angehörigen sind am Ende des Buches noch zwei am Leben – muss er sich konfrontieren und verarbeitet den Tod in seiner ersten Solo-Bühnenrolle: Einer Adaption von Goethes Werther.
Der dritte Band der Autobiographie liest sich ebenso gut wie die beiden ersten. Im Überspielen scheint er Meister zu sein: Immer, wenn er sich abgelehnt (im ersten Band durch den Sohn der Gastfamilie) fühlt, mit Misserfolgen kämpft oder scheitert, bricht Flapsigkeit oder eine pointierte Wendung in seine Schilderung ein.
Dass seine Romane aus einem Bühnenprogramm entstanden, zeigt sich vor allem in den Personen und deren Präsenz. Ob es sein beleibter, belesener Vater im 2. Band war oder hier seine Großmutter, deren lautes „Mooaah“ viele Sätze einleitete, die Schaupiellehrer und –schulkollegen, immer sind sie durch ein, zwei äußerliche Besonderheiten, wiederkehrende Handlungen oder Schrullen dem Leser sofort vor Augen.
Ob sich alles tatsächlich so zugetragen hat, ob oder was Meyerhoff fiktionalistisch dazuerfindet, spielt keine Rolle: Großartige Bücher bleiben großartige Bücher, ganz gleich, wo die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Phantasie verläuft.