Wieviel medizinischer Fortschritt ist ethisch und moralisch vertretbar?
Dank Amazon Vine wurde ich auf das dystopische Jugendbuch "Vollendet" von Neil Shusterman aufmerksam. Aus den Restenewsletter konnte ich mir eins der letzten Rezensionsexemplare bestellen. Nun habe ich das Buch innerhalb kürzester Zeit ausgelesen und sitze hier, mit einem dicken Kloß im Hals und ganz vielen, teils auch strittigen, Gefühlen in mir.
In einer düsteren Zukunft...
... gibt es keine Abtreibungen mehr, dafür aber überfüllte Waisenhäuser und ein Gesetz, welches es erlaubt, Jugendliche zwischen 13 und 18 umwandeln zu lassen. Die Umwandlung heißt konkret, dass jedes Teil des betreffenden "Wandlers" zu 100% als Organspende verwertet wird und dieser daher streng genommen weiterlebt, nur eben nicht als er selbst, sondern in Einzelteilen in vielen verschiedenen Menschen.
Connor, Risa und Lev kommen aus grundverschiedenen Gesellschaftsschichten. Alle drei sind für die Umwandlung vorgesehen. Dass sie aufeinander treffen ist Zufall, doch was sich aus diesem Zufall entwickelt, ist interessant und unheimlich spannend zu lesen.
Eine Welt voller Humanersatzteile und ausgesetzter Babys
Am Anfang des Buches ist in Kurzform die "Charta des Lebens" dargestellt, also die Ist-Situation und wie es dazu kam. Es ist schon ein wenig fragwürdig, dass tatsächlich nur Abtreibungsgegner und Abtreibungsbefürworter einen solchen Konflikt heraufbeschworen haben sollen und dann zu diesem Ergebnis gekommen sind.
Aber das Szenario an sich, dass ein solches Gesetz irgendwann beschlossen werden könnte, ist für mich anhand der aktuellen Verknüpfungen von Politik, Wirtschaft und Kirche(n), der steigenden Nachfrage nach Spenderorganen und dem real dafür existierenden "Markt" durchaus vorstellbar. Gerade in den letzten Wochen ging ja das Thema Organspenden auch oft durch die Medien. Jedes Jahr sterben in Deutschland ca. Tausend Menschen, weil sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan bekommen. Zukünftig sollen alle Bürger über 16 Jahre immer wieder zu ihrer Organspende-Bereitschaft befragt werden.
Die Hauptcharaktere führt der Autor einzeln und damit in verschiedenen Handlungssträngen, die erst einmal gar nichts miteinander zu tun haben, ein. Unter dem Hintergrund der grausigen Charta sind mir alle drei sofort sympathisch. Eigenartigerweise konnte ich mir die Szenarien bei Risa und Lev sofort vorstellen, bei Connor allerdings wollte ich aufschreien. Dazu muss ich sagen, dass das Umfeld von Connor meinen eigenen Lebensumständen am nächsten kommt und ich mir einfach nicht vorstellen könnte, einen meiner beiden Söhne nicht genauso wie sie sind haben zu wollen.
Beide sind der Pubertät zwar mittlerweile entwachsen, das aber noch nicht lange genug, um mich nicht mehr an die kleinen und großen Probleme dieser Zeit zu erinnern. Aber egal was sie alles angestellt haben, welche Konflikte es zwischen uns gab und wie viele graue Haare ich in dieser Zeit bekommen habe, nichts davon war so schlimm, dass ich sie nicht mehr geliebt oder sie anderswo hin gewünscht hätte. Für mich persönlich wäre es also absolut unvorstellbar, eins meiner Kinder freiwillig umwandeln zu lassen.
Aber ist das für den Pubertierenden selbst, der nicht weiß wohin mit seinen Hormonen und sich von Erwachsenen, den eigenen Eltern erst recht, sowieso nur unverstanden fühlt, genauso unvorstellbar? Ich persönlich denke zwar ja, kann mir aber durchaus vorstellen, dass die Motivation der Eltern, den Umwandlungsvertrag zu unterschreiben, von dem in Südkalifornien lebenden Autor, der selbst Vater von vier Kindern ist, bewusst nicht konkret ausgesprochen wurde. So kann das nämlich, falls sowohl Pubertierende als auch Eltern dieses Buch lesen, beiden Seiten Anregung sein, über ihr Miteinander in dieser schwierigen Zeit nachzudenken und vielleicht sogar Motivation daran zu arbeiten. Denn in der Realität ist es ja doch so, dass nicht nur Jugendliche in dieser Zeit Fehler machen.
Ich jedenfalls klebte von Anfang bis Ende an dieser flüssig zu lesenden, in der dritten Person erzählten Geschichte und die kleinen bislang von mir erwähnten Unklarheiten regten mich eher zum Nachdenken an, als dass sie mich ärgerten. Schon allein mit den grundverschiedenen Protagonisten schaffte der Autor es, mein Interesse am Kommenden wach zu halten. Ihre Erlebnisse, Reaktionen und Entwicklungen weiteren Verlauf der Handlung fand ich dann richtig spannend und auch lehrreich. Im Laufe der Zeit gesellten sich natürlich weitere Charaktere mit verschiedensten Charaktereigenschaften hinzu. Ich erlebte bis zum packenden Finale große Hilfsbereitschaft, aber auch Egoismus, Machtgier und völlige Abgedrehtheit. Das Ende erinnerte mich ein bisschen an die Zeit kurz vor der von mir selbst vor mittlerweile 23 Jahren erlebten friedlichen Revolution.
Ein Szenario wie in dieser fiktiven Geschichte wünsche ich mir niemals. Für Menschen, die zum Überleben ein Spenderorgan benötigen wünsche ich mir persönlich zwar, dass mehr Menschen als bisher nach ihrem Tod ihre Organe zur Verfügung stellen. Trotzdem drängt sich in mir auch die Frage auf, wie viel medizinischer Fortschritt ist ethisch und moralisch vertretbar?
Noch mal kurz zur Abtreibungsproblematik. Im Nachgang meiner Gedanken zu diesem Buch finde ich diese als Aufhänger für die Charta und das ganze Szenario im Rahmen eines Jugendbuches vom Autor doch nicht ganz so falsch gewählt. Wenn es nämlich die Zielgruppe dazu anregt auch über das Thema nachzudenken, ist es eigentlich sogar ein genialer Schachzug. Denn dann denkt die Zielgruppe vielleicht auch gleichzeitig über das Thema Verhütung nach und dass im Grunde genommen heutzutage ungewollte Schwangerschaften bei aufgeklärten Jugendlichen gar nicht mehr passieren müssten.
Alles in Allem hat mir dieses Buch richtig gut gefallen und ich kann sowohl für die Zielgruppe, Jugendliche zwischen 14 und 17, als auch für Erwachsene eine Leseempfehlung abgeben.