Michael Köhlmeier - Die Musterschüler

  • In einem katholischen Heim für männliche Gymnasiasten in Tirol herrschten Anfang der 1960er Jahre harte Sitten. Vor den Ferien mussten sich die Jungen Lateinprüfungen stellen und sich mit guten Noten die Heimfahrt verdienen. Vor den Ferien zu Allerheiligen 1963 fand diese Prüfung für Gebhard Malins Klasse als Folge eines Jungenstreichs gar nicht erst statt. Damit waren die freien Tage für alle gestrichen. Nach drei Wochen intensivstem Lateinstudium wurde die Prüfung nachgeholt. Der Präfekt und Lateinlehrer erwartete sehr gute Leistungen, die auch alle erzielten – außer Gebhard Malin, eigentlich ein sehr guter Lateinschüler, er bekam ein „Nicht genügend“ bescheinigt. Wieder wird vom Präfekten eine Kollektivstrafe verhängt, keine Heimreise bis zum Weihnachtsfest, kein Besuch, kein Essen in den nächsten zwei Tagen, die Jungen sollen beweisen, dass sie eine Gemeinschaft sind. Dann kommt von ihm noch die Aufforderung: „Züchtigt ihn!“
    25 Jahre später werden die damals beteiligten Jungen von einem unbenannt bleibenden Erzähler zu dem Vorfall befragt. Keiner will mehr so recht wissen, was damals geschah, wer das Heft in die Hand nahm, die Schuld der Einzelnen ist verdrängt worden, das Erinnern fällt schwer und ist unangenehm.
    Michael Köhlmeier ist für mich ein großer Erzähler. Seine Bücher sind schwer vergleichbar, gerade das mag ich an seinem Stil. Mit „Die Musterschüler“ habe ich eine wahre Herausforderung gefunden. Die Seiten flogen nicht so dahin beim Lesen. Ich musste mir das Buch erarbeiten. Mundgerecht war es wirklich nicht, aber trotzdem fand ich es beeindruckend. Köhlmeier erzählt die Geschichte nicht geradlinig, sondern eher verwinkelt und konstruiert. Er weicht immer wieder vom roten Faden ab und schiebt neue, aber auch bereits bekannte Episoden aus dem Schul- und Heimalltag ein. Die häufigen Wiederholungen, die mitunter auch nur um kleinste Informationen verändert wurden, lassen den Roman mitunter etwas zäh erscheinen. Besonders ist auch die Erzählform des Romans, der Autor schrieb ihn in Form eines Interviews. Fragen und Antworten wechselten sich ab. Erst ganz zum Schluss bekommt der Leser einen Hinweis darauf, wer der Fragende sein könnte. Aber worum geht es in diesem Roman? Es geht um Schuld, um die Schuld des Einzelnen, mehr jedoch um die Schuld der Gemeinschaft und es geht um die Verantwortung, die aus der Schuld heraus übernommen werden muss. Es geht aber auch um die Rolle von Außenseitern, die Gruppendynamik und die Schuld von Höherstehenden, in diesem Falle, die des Präfekten. Assoziationen zu Morton Rhue’s „Die Welle“ blieben dabei nicht aus.
    Durch die Frage-Antwort-Situation kommt schnell ein Gefühl der Vertrautheit und Nähe zu den ehemaligen Schülern auf. Doch gibt es auch immer wieder Überraschungsmomente, die eine neue Sicht auf die Geschehnisse vor 25 Jahren erlauben.
    „Die Musterschüler“ ist ein interessanter, überzeugend real wirkender und nachdenklich machender Roman, der stellenweise dem Leser einiges an Geduld abverlangt. Am Ende hat sich das Durchhalten dennoch gelohnt.


    Über den Autor (Quelle: amazon.de)
    Michael Köhlmeier, geboren 1949, wuchs in Hohenems/Vorarlberg auf, wo er auch heute lebt. Für sein Werk wurde der österreichische Bestsellerautor unter anderem mit dem Man s-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet.

  • Vielen Dank für die Vorstellung, Karthause. Dieses Buch ist eines der vielen, die schon seit sehr langer Zeit meinen SUB zieren. Ich weiß nicht, warum ich es bisher nicht gelesen habe, denn Köhlmeier hat mich bisher nie enttäuscht und deine Rezi klingt auch so, als würde mir dieses Buch gefallen.


    Nun, bis Ende 2012 werd ichs wohl schaffen... :roll:

  • Ich habe dieses Buch in meinem Urlaub gelesen - und das war gut so, denn das Buch verlangt dem Leser einiges ab an Zeit, Durchhaltevermögen und Konzentration. Im stressigen Alltag hätte ich es vielleicht wieder zur Seite gelegt :-s


    Zum Inhalt brauche ich nicht mehr viel zu sagen, den hat Karthause bereits sehr gut wiedergegeben. Nur vielleicht folgendes: der Interviewte ist einer von sieben Schülern, die damals die "Züchtigung" vornahmen. Ihn scheint 25 Jahre nach dieser Tat das Geschehen zu verfolgen und nicht zur Ruhe kommen zu lassen weshalb er es war, der seine Mitschüler zu dem damaligen Vorfall befragte. In diesem 600 Seiten umfassenden Dialog ist er der Erzähler, der wiederum die Erzählungen seiner damaligen Mitschüler wiedergibt.


    Damit bin ich schon bei einem meiner "Problempunkte" angelangt, die ich mit diesem Buch hatte. Durch die Erzählung in der Erzählung war der Handlungsfaden manches Mal doch etwas verworren und ich musste schon sortieren, wer jetzt "spricht". Dass der Dialog nicht irgendwie mit "Frager und Antworter" gekennzeichnet ist, sondern sich eben genau wie ein Gespräch einfach aneinanderreiht, machte es auch nicht einfacher. Das Buch ist in einige Kapitel (durchnummeriert) aufgeteilt, aber so ganz hat sich mir der Sinn der Unterteilung nicht erschlossen - er gab für mich dem Interview keine erkennbare Struktur.


    Was lies mich durchhalten? Ganz eindeutig: das Thema!!! Das Psychogramm einer kleinen Gruppe pubertierender Jugendlicher, eng zusammengepfercht ohne jede Privatsphäre, ständig kontrolliert und gegängelt; das Psychogramm dieses Heims, seiner Klassen und deren Beziehungen untereinander, seiner Leiter (drei Mönche) und deren Beziehung (oder Nicht-Beziehung) zu den ihnen anvertrauten Kindern; die Frage nach Schuld und Verantwortung innerhalb dieser Gruppen, innerhalb des Heims, aber auch außerhalb davon - denn auch die Außenwelt trägt eine Verantwortung an dem, was geschah und was danach passierte...... die Rollenverteilung innerhalb der Gruppen, aber auch die Außenseiter, die ohne es zu ahnen die Handlung mit provozieren....


    Was finde ich gelungen an diesem Roman? Trotz aller Kritik vorher: die Form des Buches als Dialog, als Interview. Durch diese Form bekommt man eine Nähe zu den Beteiligten, die man vielleicht gar nicht immer will. Wer will schon Nähe zu Menschen, die einem vielleicht unangenehm oder unsympathisch sind? Aber die Nähe kommt auf. Genauso gelungen transportiert diese Form der Erzählung die unterschiedlichen Erinnerungen der Beteiligten: Erinnerung ist ja immer trügerisch und unterliegt der nachträglichen Korrektur, der Verdrängung, der Umgestaltung... niemand möchte sich ja als "böse" in Erinnerung behalten, man versucht ja doch immer, sein Eigen-Bild so positiv wie möglich darzustellen. So kommt es, dass jeder der Beteiligten etwas anderes erinnert - das macht zwar die vielen Wiederholungen aus, die schon Karthause erwähnte, aber sorgt damit eben für die Wirklichkeit eines solchen Erinnerungsprozesses. Kann man aber nach so langer Zeit einen solchen Vorfall wirklich aufarbeiten? Meiner Meinung nach bleibt diese Frage offen, aber ich bin auch nicht sicher, ob das von Köhlmeier nicht auch so gewollt ist.....


    Ich habe lange gebraucht um diese Rezension zu schreiben, da ich mir nicht sicher war, wie ich dieses Buch bewerten soll. Auf der einen Seite ein tolles, wenn auch schwieriges Thema - auf der anderen Seite eine Erzählform, die es dem Leser nicht grade leicht macht, einen Zugang zu diesem Buch zu finden. Manchmal fesselt es und man ist mitten drin in diesem Gespräch, dann kommen wieder Längen, durch die man sich durchkämpfen muss. Jetzt muss ein gutes Buch ja nicht immer leicht zu lesen sein, aber meiner Meinung nach macht es Michael Köhlmeier dem Leser dann doch etwas zu schwer mit diesem Buch. Ich befürchte, dass vielleicht so mancher Interessierte dieses Buch wieder zur Seite legt, weil es eben doch schwierig zu lesen und zu verfolgen ist - und mit 600 Seiten dann evtl. auch ein klitzekleines bischen zu lang geraten ist. Deswegen gebe ich diesem Buch auch nur :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Chapeau, Herr Köhlmeier! :pray:


    Was aussieht wie ein 572 Seiten langer Dialog ist tatsächlich ein intelligent konstruierter und grandios durchkomponierter Roman, der sich mit den Grundlagen menschlicher Gemeinschaft beschäftigt, Verantwortung, Schuld, Vergebung.


    Mit der Dialog-Form tut man sich als Leser schwer, vor allem, wenn Gespräche im Dialog zitiert werden, zwischen den Gänsefüßchen des Dialogs ständig die Anführungszeichen eines Gesprächs im Dialog auftauchen.
    Diese ungewöhnliche, von jedem Fließ- und Erzähltext freie Form zwingt zu gründlichem und konzentriertem Lesen, und nichts anderes hat das Buch verdient.


    Wer hat die meiste Schuld, wenn eine Gruppe gemeinsam Gewalt ausübt? Derjenige, der sie anordnet? Derjenige, der die anderen anstachelt? Derjenige, der als erster schlägt? Derjenige ohne eigenen Standpunkt, der geschehen lässt?
    Ebenso wie die Brutalität sich teilt, verteilt sich auch die Schuld.


    Dazu kommt in diesem Buch die Situation der Jungen: Pubertär, in der Zwickmühle zwischen eigenem Wollen und dem Gruppendruck, die Probleme von Selbstwahrnehmung und dem Wunsch, von der Gruppe akzeptiert zu sein.


    Auch das schulische System eines katholischen Internates in den 60er Jahren beleuchtet der Autor; deutliche Kritik äußert er nicht, braucht er nicht, denn er erzählt und lässt vor dem Auge des Lesers eine rigide und bigotte Struktur entstehen, autoritär, hierarchisch und geprägt von unberechenbaren Personen und Feiglingen, die sich mehr ihrer Position als ihrem Beruf verpflichtet fühlen.


    Spätestens mit diesem Buch ist Köhlmeier auf Platz 1 meiner Top-Ten der besten deutschsprachigen Autoren gestiegen.


    Erst ganz zum Schluss bekommt der Leser einen Hinweis darauf, wer der Fragende sein könnte.

    Daran habe ich auch gerätselt. Nachdem ich die Rezension gelesen habe, nahm ich mir die letzten Seiten nochmal vor, aber ich habe keinen Hinweis gefunden. :scratch:
    Bitte, @Karthause, gib mir einen Tipp.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • @Marie Du hast großes Vertrauen in mein Gedächtnis. Das Buch habe ich 2011 gelesen. :uups: Ich kann mich zwar noch ganz gut erinnern, habe das Buch im Moment aber nicht zur Hand. Ich meine aber in dem Intervierer/Fragesteller einen Anwalt erkannt zu haben (der möglicherweise in einer Beziehung zu den "Musterschülern" steht?). Meine Notizen haben leider unseren Umzug nicht mitgemacht und sind im Altpapier gelandet.

  • einen Anwalt

    Der letzte Satz weist zumindest darauf hin. "Ich will sehen, was sich machen lässt." Doch wessen Anwalt? Der des Protagonisten, der die ganze Sache wieder ins Rollen gebracht hat, sicher nicht, denn er wird von dem Interviewer ständig in Frage gestellt. Es könnte, von der Vorgehensweise eher der Anwalt einer gegnerischen Partei sein, aber wessen?


    Sind den anderen, die das Buch gelesen haben, die beiden Gedichte vorn und hinten im Buch aufgefallen? Die Anfangsbuchstaben der Reihen, die im ersten Gedicht eine Frage, im zweiten deren Beantwortung bilden?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Sind den anderen, die das Buch gelesen haben, die beiden Gedichte vorn und hinten im Buch aufgefallen? Die Anfangsbuchstaben der Reihen, die im ersten Gedicht eine Frage, im zweiten deren Beantwortung bilden?

    8-[ Nein. Nicht, dass ich wüsste... Da muss ich heute gleich nachschauen.


    Ich habe damals auch nicht rausgefunden, wer denn nun der Interviewer ist, aber es hätte mich auch brennend interessiert. :uups:

  • Der letzte Satz weist zumindest darauf hin. "Ich will sehen, was sich machen lässt." Doch wessen Anwalt? Der des Protagonisten, der die ganze Sache wieder ins Rollen gebracht hat, sicher nicht, denn er wird von dem Interviewer ständig in Frage gestellt. Es könnte, von der Vorgehensweise eher der Anwalt einer gegnerischen Partei sein, aber wessen?
    Sind den anderen, die das Buch gelesen haben, die beiden Gedichte vorn und hinten im Buch aufgefallen? Die Anfangsbuchstaben der Reihen, die im ersten Gedicht eine Frage, im zweiten deren Beantwortung bilden?

    Tatsächlich war meine Annahme, dass es sich um einen vom Protagonisten beauftragten Anwalt handelt - natürlich stellt er ihn in Frage, aber er muss ja auch ganz sicher über Aussagen, Handlungen und Motive des Protagonisten und der anderen sein, falls er im Auftrag für seinen Mandanten den Fall evtl. nochmals aufrollen soll. :-k


    Und nein, mir ist das Gedicht nicht in Erinnerung. Da mir damals @Conor das Buch geliehen hat, kann ich auch nicht mehr nachschauen. :-s

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Hallo ich finde das Buch total genial, bin halt ein großer Köhlmeier Fan. Ein Kleiner Tipp zur Vertiefung in das Buch, ist das angehängte Zitat und der dazugehörige Link - dass mit dem Sonett ist einfach genial!!!. Die Kapitel haben einen bestimmten Aufbau Köhlmeier hat auch eine Zeitlang Mathematik studiert und hier ist irgendwie eine spannende Überschneidung zwischen Lyrik und Mathematik. (das habe ich mir auch nicht selber aus den Fingern gesogen - sondern im Internet recherchiert finde es aber recht spannend Quelle:http://www.grin.com/de/e-book/…meiers-die-musterschueler) .
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