Ralf Rothmann - Milch und Kohle

  • Klappentext (gekürzt):
    Um das Da-Sein, um Wege aus dem Dunkel bedrückender Verhältnisse am Ende der sechziger Jahre kämpfen die Menschen in "Milch und Kohle". Der Vater, ein Hauer unter Tage: "Nur eine Stunde müßtet ihr mal da runter. Gestern bis zum Bauch im Wasser. Nie ein Stück Himmel." Doch pflichtbewußt fährt er zur Zeche - und trauert dem Leben als Melker in Norddeutschland nach, das er seiner Frau zuliebe aufgegeben hat. "Und warum?" fragt der fünfzehnjährige Simon seine Mutter. "Was ist besser hier, im Ruhrpott?" Die Antwort: "Hier ist Stadt: Asphaltierte Straßen, ein Fernseher, jeden Samstag Tanz bei 'Maus'..."
    Und eines Tages bringt der Vater ein paar Kumpel mit nach Hause, die dem Arbeitsalltag so etwas wie Glanz geben mit ausgelassenen Festen. Die Mutter verliebt sich in Gino, den Italiener. Vor dem drohenden Unheil flieht Simon, indem er mit seinem Freund Pavel die Gegend auf der Zündapp durchstreift, pubertäre Abenteuer sucht. Bei seinem jüngeren Bruder Thomas, genannt Traska, verursacht die Sache mit der Mutter dagegen eine schreckliche, ja haarsträubende Reaktion...


    Zum Autor:
    Ralf Rothmann (* 10. Mai 1953 in Schleswig) erhielt für sein Werk verschiedene renommierte Literaturpreise. Ralf Rothmann wuchs im Ruhrgebiet in der Umgebung von Oberhausen auf. Nach der Volksschule und einem kurzen Besuch der Handelsschule machte er zunächst eine Lehre als Maurer. Später schlug er sich mit verschiedenen Jobs durchs Leben, arbeitete als Fahrer, Koch, Drucker und als Krankenpfleger. Seit 1976 lebt er in Berlin, wo er 1984 sein literarisches Erstwerk veröffentlichte, den Lyrikband Kratzer, für den er 1986 das Märkische Stipendium für Literatur erhielt. Sein erster Roman Stier erschien 1991. Im Wintersemester 1999/2000 war Rothmann poet in residence an der Universität Essen. Er lebt heute als freier Autor mit seiner Frau in Berlin-Friedrichshagen am Müggelsee. (Zusammenfassung aus Wikipedia)


    Aufbau / Allgemeines:
    Auf seine Jugendzeit zurückschauend erinnert sich der Ich-Erzähler SImon, jetzt ein erfolgreicher Schriftsteller, an Ereignisse und Begebenheiten in seiner Familie, die er in loser Chronologie erzählt. Er rundet das Buch mit einem Epilog - Besuch in einem Zen-Kloster - ab.


    Inhalt:
    Nach dem Tod seiner Mutter entrümpelt Simon sein Elternhaus. Er stößt dabei auf Fundstücke, die ihn an Kindheit und Jugend erinnern: Man schreibt die 1960er Jahre im Ruhrgebiet. Mutter, Vater, zwei Söhne. Der Vater arbeitet unter Tage, die Mutter ist zuhause, gibt das Geld mit vollen Händen aus und lässt Lebensmittel anschreiben. Simon ist 15, lebt seine Pubertät aus, der jüngere Bruder Thomas ist Epileptiker. Streit zwischen den Eltern ist an der Tagesordnung; meist setzt die Mutter sich durch. Mit den ersten Gastarbeitern kommt italienisches Flair in den tristen Alltag: In die Küche, in das samstägliche Tanzvergnügen und in das Bett der Mutter. Simon reagiert seinen Frust ab bei verbotenen Fahrten mit seinem Freund Pavel auf dessen Zündapp, Thomas' Anfälle häufen sich.


    Eigene Meinung:
    Simons Pubertätsjahre verlaufen zur gleichen Zeit wie die des Autors, und er lebt, ebenso wie der Autor in dieser Zeit, im Ruhrgebiet. Wie weit die autobiographischen Einflüsse gehen, kann man als Leser natürlich nicht beurteilen, aber sicher ist hierin ein Grund für die hohe Authentizität des Buches zu finden. Rothmann schreibt in einer klaren einfachen Alltagssprache, die sowohl dem jugendlichen als auch dem erwachsenen Simon angepasst ist.
    Das Wirtschaftswunder hat für Vollbeschäftigung und einen gewissen Komfort gesorgt, aber man lebt weiter in den alten Strukturen von Familie und Nachbarschaft mit ihren Verpflichtungen und Urteilen. Die Frage "Ist das alles?" schwebt immer im Raum.
    Der lebenslustigen, kettenrauchenden Mutter ist ihr Leben zu eng, zu kümmerlich. Der Vater malocht, wäre mit gutem Essen, Feierabendbierchen und funktionierendem Familienleben zufrieden. Simon kämpft mit Ablehnung und Anhänglichkeit gleichzeitig, mit gewollter Selbstständigkeit und realer Abhängigkeit. Sein Leben ist genauso spektakulär und genauso gewöhnlich wie das eines jeden 15jährigen. Ob 1965 oder 2011, die männliche Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht, einem fahrbaren Untersatz und der neuesten Technik ist die gleiche, auch wenn der Inhalt der Sehnsucht (Plattenspieler, Motorroller) sich geändert hat.
    Was mich bei Rothmann irritiert: Er beginnt einzelne Begebenheiten zu erzählen, aber er erzählt sie nicht zu Ende. Ein paar Seiten später wird das Geschehen mitunter in ein paar Sätzen wieder aufgegriffen, doch zum Abschluss kommt es nicht. Als Ganzes ist das Buch allerdings eine runde Sache, es wird eingeleitet und abgeschlossen durch Ereignisse rings um den Tod der Mutter. Welchen Sinn der angehängte Epilog über die Zen-Meditationsstunde im Zusammenhang mit den Inhalten hat, erschließt sich nicht.


    Fazit:
    Ein glaubwürdiges Zeugnis über Familienleben und Alltag einer Arbeiterfamilie in den 1960er Jahren.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Mit Milch ud Kohle hatte ich Rothmann kennengelernt und war sofort zutiefst beeindruckt von der Authentizität der Sprache. Auch wenn ich selber eventuell erst zehn Jahre später geboren bin, fühlte ich mich in einer vertrauten Atmosphäre.
    Deine Einwände, Marie, erscheinen berechtigt. Da mein Lesen lange zurückliegt, kann ich leider nicht darauf genau reagieren. Ich meine aber, dass mich gerade dieser etwas sonderbare Epilog damals sehr angesprochen hat...
    (Ein Reread wäre wohl angebracht!)


    Auch von mir eine Empfehlung! Es handelt sich meines Erachtens um einen Autor, den man sich merken darf, soll, muss!

  • fühlte ich mich in einer vertrauten Atmosphäre


    Einiges, das ich in diesem Buch las, führte mich auch in meine Kindheit zurück, z.B. das Gemurkse mit Plattenspieler, Mikrofon und Tonband vor Erfindung des Überspielkabels. Wenn die Übertragung endlich lief, klingelte garantiert das Telefon oder eins der kleinen Geschwister polterte die Treppe rauf. Dann konnte man von vorne anfangen.


    Für die Spätgeborenen: Es handelt sich hierbei um den Download in der Steinzeit. :)

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  • Vielen Dank für Deine wirklich großartige Rezension. :thumleft: Wenn unsere Bücherei dieses Buch anschafft, werde ich es auf alle Fälle ausleihen.

    vor Erfindung des Überspielkabels.


    Ein Überspielkabel hatte ich aber in meiner Teenagerzeit schon, und das war fast deckungsgleich mit Deiner Teeniezeit. :mrgreen:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • @ €nigma,
    in meinen Anfängen hätte mir ein Überspielkabel nichts genutzt, denn der Plattenspieler war Kriegsware aus dem Haushalt von Oma und Opa. Einer mit Arm, den man von Hand (mit viel Gefühl) auf die Schallplatte legen musste. Genauso einen besitzt Simon im Buch.


    @ tom leo,
    nichts gegen den Epilog. Aber ich komme nicht dahinter, was er mit dem Rest des Buches zu tun hat.

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  • denn der Plattenspieler war Kriegsware aus dem Haushalt von Oma und Opa.


    Das ist natürlich blöd. So einen alten Plattenspieler hatten wir auch noch, aber Anfang der Siebziger haben meine Eltern dann eine richtige Stereo-Anlage gekauft.

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  • Mein drittes Buch von Rothmann innerhalb der letzten Monate habe ich mit vier Punkten bewertet.
    Sein größter Pluspunkt ist für mich seine Sprache, nichts ist schwülstig oder künstlich aufgebläht, dennoch hat er eine sehr schöne Sprachmelodie.


    Inhaltlich irritierten mich einige Dinge: Zum einen erinnerte mich die Geschichte sehr stark an "Junges Licht". Nicht nur, weil sie im Bergarbeitermilieu spielt. Die Persönlichkeit der Mutter weist viele Parallelen auf, ebenso die Dysfunktionalität der Familie. Auch die sexuellen Kontakte bzw. die sexuelle Kontaktsuche zwischen Erwachsenen und Minderjährigen spielt in beiden Romanen eine Rolle. Einmal mehr habe ich daher den Eindruck, Rothmann verarbeitet Autobiografisches.

    Zitat von Marie

    Sein Leben ist genauso spektakulär und genauso gewöhnlich wie das eines jeden 15jährigen


    Ich fand das geschilderte Leben schon "spektakulär", einmal aus den oben genannten Gründen. Hinzu kommen die vielen Gewaltausbrüche (

    , Beziehungsarmut und Schicksalsschläge

    .
    Hier auch meine Kritik an Rothmann: Alle drei Bücher haben für mich ein Zuviel an Dramaturgie. In meinem Kommentar zu "Junges Licht" habe ich es auch erläutert. Weniger Schicksal würde die Geschichten nicht weniger interessant machen.

    Zitat von Marie

    Welchen Sinn der angehängte Epilog über die Zen-Meditationsstunde im Zusammenhang mit den Inhalten hat, erschließt sich nicht

    Ich habe es so gedeutet: