Art Spiegelman - Im Schatten keiner Türme / In the Shadows of No Towers

  • Der Autor (Wikipedia): Der am 15. Februar 1948 in Stockholm als Itzhak Avraham ben Zeev geborene Art Spiegelman ist ein vielfach ausgezeichneter amerikanischer Cartoonist und Comicautor. Für seine zwischen 1980 und 1991 serialisierte Comicserie "Maus – A Survivor's Tale", in der er sich mit Erlebnissen seines Vaters als polnischer Jude während des Holocausts beschäftigte, erhielt er 1992 als erster Comicautor überhaupt den Pulitzer Prize.


    Kurzbeschreibung (Amazon): In den vergangenen zehn Jahren [das Buch wurde in Deutschland im Jahr 2011 veröffentlicht] haben sich drei globale Erschütterungen ereignet, die der Welt neue Einsichten abverlangen: 9/11, Finanzkrise, Fukushima. Die erste dieser drei Erschütterungen hat Art Spiegelman fassbar gemacht, indem er sich der Katastrophe, die ihn ganz unmittelbar selbst betraf, mit künstlerischen Mitteln gestellt hat: Am Tag, an dem die Flugzeuge in die Zwillingstürme einschlugen, raste er durch eine Stadt in Panik, um seinen neunjährigen Sohn aus der UN-Schule zu holen, von der er fürchtete, sie würde ein weiteres Anschlagsziel sein. In einem jahrelangen Ringen um sein inneres Gleichgewicht hat Art Spiegelman den Schrecken jenes Tages in Kästchen und Sprechblasen gebannt, die sich zu einer Graphic Novel ohnegleichen fügten [Nun ja, eine Graphic Novel ist das Buch sicher nicht. Belassen wir es einfach stolz und nicht so marktschreierisch bei Comic!]. Es bedurfte eines außergewöhnlichen Geistes und einer außergewöhnlichen Begabung, um 9/11 auf diese Weise begreifbar machen: "Im Schatten keiner Türme" ist sowohl in seiner ästhetischen Qualität als auch in seiner gesellschaftlichen Aktualität ein Solitär.


    Die deutsche Erstausgabe erschien 2011 im Atrium Verlag Zürich. Die Übersetzung stammt von Christine Brinck und Jürgen von Rutenberg (Anhangtafeln 2 bis 10). Die US-amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel "In the Shadow of No Towers" bei Pantheon Books in New York. Das Buch ist etwa 37 mal 25 Zentimeter groß. Die zehn Zeitungsseiten sind also etwas verkleinert als bei der Veröffentlichung in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT. Die zehn DIN-A3-Comicseiten werden auf jeweils zwei Doppelseiten präsentiert. Das Buch ist somit um 90 Grad gedreht zu lesen. Insgesamt umfasst das Buch 42 dicke Pappseiten.


    Eine stark persönlich gefärbte Annäherung an persönliche und gesellschaftliche Katastrophen, an Desorientierung und Auslöschung: Comiczeichnen wie Tagebuchskizzen als Traumaverarbeitung.


    Auf Einladung der ZEIT schuf Art Spiegelman, nachdem er nach MAUS zehn Jahre keine Comics mehr zeichnete, zehn farbige, jeweils völlig unterschiedlich gestaltete Zeitungsseiten in DIN-A3-Größe, in denen er, ausgehend von seinen Erlebnissen am 11. September 2001 in New York, wo er zusammen mit seiner Frau versucht, seine Tochter aus der in unmittelbarer Nachbarschaft des World Trade Centers gelegenen Schule abzuholen, während im Hintergrund die Zwillingstürme verglühen und einstürzen und sich eine giftige Aschewolke auf die Stadt legt, sich mit Fragen der individuellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung des Terroranschlags beschäftigt, mit in die Irre gehendem Patriotismus, antisemitischen Verschwörungstheorien, mit "Warum sie uns hassen?", der einsetzenden "Neuen Normalität" und dem "War on Terror" des von ihm abgrundtief gehassten US-Präsidenten George W. Bush.


    Die einzige Kulturform, die ihm in den ersten Jahren nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 Trost spendete, waren die anarchistisch frei drehenden frühen Zeitungscomics, die unweit des Ground Zero knapp hundert Jahre zuvor aus der Taufe gehoben wurden: Figuren wie der Happy Hooligan, das Yellow Kid, Krazy Kat, die Kin-der-Kids, Katzenjammer Kids oder Little Nemo. Da Spiegelmans Farbtafeln sich sehr stark an diesen Vorbildern orientieren, wurde den zehn Nine-Eleven-Comicseiten ein Anhang mit Beispielseiten aus der Frühgeschichte des US-Comics beigefügt, die sich wie zufällig mit der arabischen Welt, mit Paranoia und Kriegstreiberei beschäftigen, begleitet von einem längeren Erklärtext Spiegelmans.


    "Im Schatten keiner Türme" ist beweitem nicht so überwältigend wie MAUS, bietet aber in sehr konzentrierter Form ein Höchstmaß an Ansätzen, Anspielungen, Hommagen, Karikaturen, Parodien und Querverweisen, um sich der geschichtlichen und individuellen Aufarbeitung des gesellschaftlichen Traumas 9/11 zu nähern, wenn etwa der psychologische Abwehrmechanismus der Verschiebung auf die US-amerikanische Antiterror-Politik bezogen wird, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen als Reaktion auf die Terroranschläge am 11. September 2001 erst einmal den Irak plattmacht, oder wenn die auf unverständliche Weise die Passanten beschimpfende russischstämmige Obdachlose nach dem 11. September plötzlich antisemitische Schmähungen in englischer Sprache auf die Passanten niedergehen lässt.


    So ist das Buch vor allem eine intellektuell anregende Lektüre, auf der Schwelle balancierend, wo Comic zu Kunst und Kommentar wird, für Liebhaber alter Zeitungscomics aus der Zeit eines Frederick Burr Opper, Lyonel Feininger, Winsor McCay, Rudolph Dirks oder George Herriman sicherlich noch mal um einiges mehr interessant, die in Fortsetzungen zeitnah zum Ereignis in der Zeitung gelesen sicherlich einen weitaus größeren Eindruck hinterlassen konnte, als Jahre später gesammelt in Buchform. Vielleicht sollte man "Im Schatten keiner Türme" in Abschnitten lesen, zusammen mit der Morgenzeitung, verteilt auf zehn Sonntage, um eine angemessene Rezeptionshaltung zu bekommen.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das ist die US-amerikanische Originalausgabe unter dem Titel "In the Shadow of No Towers".

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)