Alan Pauls - Die Vergangenheit/ El pasado

  • Was bleibt, wenn eine Liebe oder eine langjährige Beziehung in die Brüche geht ? Wie können beide Partner plötzlich allein, ohne den jeweils anderen weiterleben und welchen Stellenwert nehmen die zurückliegenden, gemeinsam verbrachten Jahre mit all ihren Erinnerungen und Erfahrungen im Bewußtsein dieser Personen ein, wie sollen sie sich zu ihnen verhalten?


    Diesen Fragen geht der argentinische Schriftsteller Alan Pauls, von dem der große Roberto Bolano sagte, er sei „einer der größten lebenden Autoren Lateinamerikas“, in seinem 2003 in Argentinien erschienenen und 2009 ins Deutsche übersetzten Roman „Die Vergangenheit“ nach: Der Eine, der die zurückliegende Zeit vergessen und gefühlsmäßig abhaken möchte, um leichter über den Schmerz der Trennung hinwegzukommen, verwirft damit einen Teil seines Lebens, erklärt ihn für einen Irrtum, die gescheiterte Liebe für ein Mißverständnis. Der Andere, der in quälenden Erinnerungen schwelgt, ständig der verlorenen Liebe nachtrauert, läuft womöglich Gefahr, nicht loszukommen vom Anderen, das Gewesene in der Rückschau zu verklären und unglücklich in der Vergangenheit zu leben. So scheint weder das eine noch das andere Verhalten allein tauglich zu sein, das Leben fortzusetzen, einen Frieden zu finden und aus dem Rückblick auf das Vergangene die Voraussicht und die Kraft für das Kommende zu schöpfen.


    In Alan Pauls Roman sind es Sofia und Rimini, deren gemeinsames Leben nach zwölf Jahren plötzlich zerbricht. Für die Freunde und Bekannten der beiden, allesamt junge, lebenshungrige und promiskuitive Großstädter, ist dies ein Schock, galten sie ihnen doch als ein Weltwunder, als ruhender Pol im hektischen Beziehungswirrwarr ihrer eigenen Suche nach Nähe und Partnerschaft. Warum sich Rimini und Sofia trennen, wird nicht erklärt, es ist für die Geschichte auch nicht von Belang. Fest steht, die Trennung ist eine Entscheidung aus Vernunftgründen, nicht aus Erwägungen des Herzens heraus, denn eigentlich lieben sich Rimini und Sofia noch immer. So trennt man sich im Guten: wie es sich für erwachsene Menschen gehört, werden ohne Zank und Streitereien die Möbel aufgeteilt, Sofia hilft Rimini sogar noch bei der Suche nach einer neuen Wohnung. Beide versprechen, sich weiterhin zu treffen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen.


    Soweit der Vorsatz, doch zu groß ist der Schmerz und die Enttäuschung angesichts des Scheiterns ihrer Liebe, denn Rimini tut in den folgenden Monaten und Jahren nichts Anderes, als Sofia aus dem Weg zu gehen, Erinnerungen an die zurückliegende Zeit zu verdrängen und das Gewesene zu vergessen. Auch die Fotos, 1.500 Stück aus 12 gemeinsamen Jahren, an deren Aufteilung und Durchsicht Sofia mehr als alle Andere gelegen ist, will Rimini nicht sehen, zu sehr fürchtet er die Konfrontation mit den bildgewordenen Beweisen der verlorenen Lebenszeit. Stattdessen flüchtet sich Rimini in seine Arbeit als Übersetzer, schlittert in eine Kokain-Abhängigkeit und stürzt sich in wechselnde Beziehungen zu Frauen.


    Zu Vera, einer wunderschönen, gebildeten Frau, und um einige Jahre jünger als Rimini, pflegt dieser eine lockere Beziehung, getrennte Wohnungen, sporadische Besuche, Sex. Doch Vera ist mit einer krankhaften Eifersucht ausgestattet, kein noch so kleines Überbleibsel aus Riminis früherem Leben darf vor ihr bestehen. Dann löst Rimini Vera ab durch Carmen, eine sanfte, liebenswerte Übersetzer-Kollegin. Die beiden heiraten, bekommen ein Kind und Rimini gelingt es, seine Drogen-Abhängigkeit zu überwinden. Fast scheint es, als habe Rimini die Kurve noch einmal bekommen und seinem Leben eine neue Richtung und Vorausschau auf die Zukunft gegeben.


    Doch immer dann, wenn Rimini glaubt, er sitze wieder fest im Sattel, habe sein Leben mit und seine Abhängigkeit von Sofia hinter sich gelassen und sei gegen die Prüfungen durch die ihn einholende Vergangenheit gewappnet, taucht Sofia wieder auf, mal als Zufallsbegegnung auf der Straße oder im Krankenhaus bei der Geburt von Riminis Sohn, mal in voller Absicht in Gestalt einen Briefes oder eines Anrufs. So stellt Sofia einerseits sicher, daß sie nicht in Vergessenheit gerät und Rimini sich immer wieder auf´s Neue seinen Gefühlen zu ihr stellen muß; andererseits muß Rimini bei diesen Gelegenheiten schmerzlich erfahren, daß seine so mühsam aufgebaute Selbstverteidigung aus Vergessen, Verdrängen und Ignorieren wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, sobald er Sofia in die Augen blickt und die alten Gefühle für sie ihn überwältigen: er stammelt, ist verwirrt, weint und weiß nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll.


    So bleiben die beiden neuen Partnerinnen in Riminis Leben blass: beliebig austauschbare Lückenfüller für die große Leerstelle in seinem Leben, ohne jede Chance, diese Leerstelle jemals adäquat ausfüllen zu können. Gleich zweimal spitzen sich diese Begegnungen mit Sofia zu einem Ausgang zu, wie er katastrophaler nicht sein könnte: Die eine bezahlt Vera mit ihrem Leben, als Folge der anderen verliert Rimini Carmen, seinen Sohn, den Rest seiner bürgerlichen Existenz und versinkt vollends im Jammertal seines Unglücklichseins und seines Selbstmitleids.


    Daß Rimini beide schicksalhaften Einstürze seiner so mühsam aufgebauten Existenz allein Sofia zu verdanken hat, die diese in der vollen Absicht, Rimini trotz all seiner Bemühungen um ein neues Leben endgültig an sich zu binden, herbeigeführt hat, läßt ihn an seinen Gefühlen für sie nicht zweifeln und alles deutet darauf hin, daß sich Rimini am Ende in sein Schicksal fügt und seine Abhängigkeit zu Sofia anerkennen muß.


    Alan Pauls lotet die Gefühlsverwirrungen und Seelennöte seines Protagonisten Rimini bis in das kleinste Detail aus. Dieses tut er mit einer Schärfe im Ausdruck und einer Genauigkeit der Sprache, die ihresgleichen sucht und in seltener Klarheit und Durchsichtigkeit die Beweggründe für Riminis Lebens- und Leidensweg erkennbar werden läßt. Bisweilen leidet der Roman jedoch an der weit ausholenden und verzweigten Erzählweise des Autors: Nebensätze schieben sich in Nebensätze in Nebensätze in Hauptsätze, reihen sich aneinander und verschachteln sich untereinander, so daß am Ende seitenlange, kunstvoll auf- und ineinandergetürmte Satzbau-Ungetüme herauskommen und man auch als geübter Leser oft in der Mitte des Satzes den Faden verliert und zurückbättern muß, um Sinn und Form des Geschriebenen zu begreifen oder man in Versuchung gerät, Stift und Papier zu ergreifen, um mittels einer Skizze die zusammengehörigen Satzbausteine grafisch sortieren zu wollen.


    Was bei Thomas Mann als kunstvolle Perfektion der Sprache ohne größere Schwierigkeiten bei der Lektüre zu genießen ist, wird bei Alan Pauls noch einmal ins Übertriebene gesteigert, jedoch allenfalls in der Quantität der Satzlänge, nicht aber in der Qualität des Geschriebenen. So läßt mich der Roman mit ambivalenten Gefühlen zurück: Einerseits mit Bewunderung für die Thematik, Dramatik und die Darstellung kompliziertester Gefühlslandschaften, andererseits mit leichten Verärgerungen über die handwerkliche Umsetzung in Bandwurmsätzen und überkomplizierten Satzstrukturen.