Lew Tolstoj - Der Schneesturm

  • Der schmale Band aus dem hamburgischen Hoffmann und Campe Verlag ist eine bibliophile Kostbarkeit: eine vornehm zurückhaltende Deckelgestaltung, Fadenheftung, handliches Format - fast fühlt man sich an die schönen Bände aus der Insel-Bücherei des Suhrkamp-Verlags erinnert. Auch der Preis ist mit 12,00 EUR angemessen – insgesamt also eine lohnende Anschaffung. Doch wie steht es mit dem Inhalt ?


    Der Band versammelt 3 kurze Erzählungen des großen russischen Autors Lew Tolstoi, kleine Fingerübungen sozusagen für die kommenden großen Romane. „Der Schneesturm“ aus dem Jahre 1856 und „Drei Tode“ von 1859 entstanden vor „Krieg und Frieden“, „Der Gefangene im Kaukasus“ erschien 1872, also vor Beginn der Niederschrift von „Anna Karenina“.


    Die stärkste der drei Erzählungen ist „Der Schneesturm“. Darin wird die Geschichte eines Reisenden erzählt, welcher sich irgendwo in den Weiten der russischen Steppe mit seinem Fuhrmann und Schlittenführer auf den Weg macht, von einer Poststation zur nächsten zu gelangen. Es ist tiefster Winter, strenger Frost und bereits zu Beginn der nächtlichen Fahrt macht ein Schneesturm die Orientierung nahezu unmöglich. Während im Schutze des Dorfes die Reise noch durchführbar scheint, zeigt sich schon bald nach Verlassen der Siedlung, daß der Schneefall dichter, der Sturm stärker und der Weg zunehmend unkenntlicher wird. Zwei Mal verlassen Passagier und Fuhrmann angesichts der drohenden Irrfahrt der Mut und beide Male wird der Schlitten wieder in Richtung des rettenden Dorfes gewendet. Doch in beiden Fällen begegnen die Reisenden kurz darauf anderen Fuhrwerken und Schlitten, welche furchtlos in das weiße Tosen des Sturmes aufbrechen, das Ziel scheinbar sicher vor Augen. So hängen sich die Beiden schließlich in blindem Vertrauen einer Gefolgschaft aus drei Schlitten an, deren vorderster Fuhrmann mit unergründlicher Zuversicht Weg und Richtung vorgibt.


    Die nächtliche Fahrt im Schneesturm ist eine Fahrt am Rande des Todes, denn der Weg scheint unklar und es droht der Kältetod. Immer wieder muß der Führende anhalten, aussteigen und nach dem rechten Weg suchen um kurz darauf erneut die Fahrt ins Nichts aufzunehmen, geradeso, als sähe er seine Reise und seine Strecke klar vor sich, obwohl ringsherum allein das Toben des wirbelnden Schnees herrscht und die Welt in Gleichförmigkeit versinkt . Dem Reisenden fallen bald die Augen zu, eingehüllt in seinen Pelz träumt er sich zurück in seine Jugendzeit auf dem elterlichen Gut. Es ist der miterlebte Unfalltod eines Bauern, welcher ihn heimsucht, das Ertrinken eines der Leibeigenen und das eigene unentschiedene, zögerliche, letztlich feige Herumstehen und Zusehen, ohne selbst einzugreifen oder zur Rettung in den Teich zu springen.


    Es ist dieser Gegensatz der Charaktere, den Tolstoi in den Personen des Fuhrmanns und des Reisenden einander gegenüberstellt: hier das entschiedene, selbstsichere und sich immer aufs neue überprüfende und korrigierende Handeln des Schlittenführers in der Weglosigkeit und den Wirren des Weltgeschehens; dort die ängstliche, abwartende, von Äußerlichkeiten zu beeinflussende Passivität des vornehmen Reisenden. Leser, welche halbwegs mit der Biographie Tolstois vertraut sind, dürfte an dieser Stelle klar sein, wem die Sympathien Tolstois gelten und wie die Geschichte deshalb ausgehen wird.


    Auch in dieser, nur knapp 50 Seiten langen Erzählung, läßt sich Tolstois ganze Meisterschaft des realistischen Erzählens erkennen. Aus einem Minimum an Handlung holt er ein Maximum an Spannung und erzählerischer Finesse heraus. Dem Leser steht die Situation der Fuhrleute und des Passagiers im tosenden Schneegestöber so deutlich vor Augen, als habe er sie miterlebt. Die Personenzeichnungen sind so, daß schon mit den ersten Auftritten die Charaktere der beiden Protagonisten erkennbar werden, kurz: eine ganz dicke Leseempfehlung für alle Tolstoi-Freunde und für diejenigen, welche es noch werden wollen.