Melanie Mühl, Die Patchwork-Lüge

  • Die FAZ - Journalistin Melanie Mühl hat sich getraut und in einer "Streitschrift" eine der wesentlichen und dramatischen Lebenslügen von immer mehr Menschen und einer ganzen Gesellschaft angegriffen. Sie nennt es die "Patchwork-Lüge" und meint damit nicht nur das Schönreden und Idealisieren der sogenannten "Patchwork-Familien", von denen sich viele redlich abmühen, sondern sie identifiziert das Flickwerk als Muster für das Leben vieler Menschen generell und für die Gesellschaft.


    Einer Gesellschaft, die sich in ihren Fernsehsendungen und Filmen schon gar nicht mehr traut, eine ganz normale Familie darzustellen. Eine Gesellschaft, die nicht wahrhaben will, welche schlimmen und meist lebenslangen Folgen die immer mehr zunehmenden Scheidungen von Ehen für die sogenannten Scheidungskinder hat. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder in einer immer größeren Zahl einfach nicht erwachsen werden wollen:
    "Heute ist uns die Vorstellung davon, was Erwachsensein heißt, abhandengekommen. Erwachsen sein heißt, Entscheidungen zu treffen. Indem wir uns auf eine Option festlegen, schließen wir andere Optionen aus. Wir verzichten auf etwas und übernehmen für etwas Verantwortung, für einen Menschen zum Beispiel oder für eine Familie.
    Erwachsensein bedeutet, die banale Tatsache zu akzeptieren, dass sich nicht jeder Wunsch verwirklichen lässt und Lebensabschnitte einander abwechseln. Erwachsensein kann ein beruhigendes Gefühl vermitteln. Die Möglichkeitswelt ist kleiner geworden, sie erfordert keine permanenten Revision, weil man nicht fürchtet, Erlebnisse, Menschen oder irgendetwas sonst zu verpassen. Man ist angekommen."


    Doch diese Kulturleistung können und wollen viele Menschen nicht mehr erbringen. Ein immer weiter um sich greifender Jugendwahn, der bei Männern nicht weniger abstoßend und lächerlich daherkommt als bei Frauen, der dauernde Druck, Spaß haben zu wollen und Bedürfnisse sofort zu befriedigen, auch sexuelle, koste es, was es wolle, all das ist nicht Ausdruck, sondern die dramatische Folge einer schon lange sich zeigenden Entwicklung, die zum gesellschaftlichen Flickwerk wurde.


    Und sie hat lange wirkende und sich über die Generationen ausbreitende Wirkung: "Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich zwei Menschen aus zwei intakten Familien ineinander verlieben, weil es immer weniger intakte Familien gibt. Letzten Endes infizieren die Bindungsneurotiker die Übriggebliebenen mit dem Virus der Einsamkeit. Wie die Depression, ist die Einsamkeit eine Ansteckungserkrankung."


    Eine fürchterliche Vision, die jedoch realistisch ist. Denn "wir sitzen in einem gesellschaftlichen Experiment fest, das wir auf den Weg gebracht und über das wir die Kontrolle verloren haben. Wie es ausgeht, ist völlig ungewiss. Was wir allerdings wissen, ist, dass das Experiment eine verhängnisvolle Richtung eingeschlagen hat, das lässt sich belegen. Die Zahl der Scheidungs- und emotional vernachlässigten Kinder wächst kontinuierlich, wir ziehen immer mehr Narzissten und Egoisten heran, die im selben Atemzug verwöhnt werden wie Prinzen und gedrillt, als seien sie Militäranwärter. Das Trauma der Trennung, früher Liebesentzug, Überforderung, führen in die innere Emigration."


    Solche Menschenkinder, die ohne tiefe Bindung aufwachsen, können später ihren eigenen Kindern, wenn sie denn welche bekommen, niemals das geben, was sie selbst nie erfahren haben, und so geht das Spiel immer weiter. Man kann es in unseren Kindergärten und Schulen täglich beobachten, wie vielen unserer Kinder jegliches Gefühl für Empathie und Fürsorglichkeit abhanden gekommen ist.


    Statt sich zu vernetzen, wie es der Selbsterhaltungstrieb fordert, treiben die Generationen immer weiter auseinander. Und das ist ernst:
    "Wir sprechen nicht über ein paar Kindheitstraumata, die nur die Persönlichkeit Einzelner betreffen, wir sprechen über nicht weniger als den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Kinder, die in unverbindlichen Sozialkonstruktionen aufwachsen, die sich selbst überlassen werden, verlieren jedes Gefühl für Bindungen, für Freundschaft, Liebe und Solidarität. Sie sind Vagabundierende, an keinem Ort verankert, ohne feste Beziehungen, nicht einmal der zum eigenen Ich. Das macht sie zu tickenden Zeitbomben. Denn irgendwann werden die Kinder Erwachsene sein, und das psychische Profil einer ganzen Generation prägen."


    Wer sich über den aktuellen Stand der Bindungstheorie verständlich und anschaulich informieren möchte, den verweise ich auf: Eva Rass, Bindung und Sicherheit im Lebenslauf, Klett-Cotta 2011. Empfehlen möchte ich auch neben Melanie Mühls engagierter Streitschrift das nicht weniger engagierte Buch Ihrer Kollegin von der ZEIT, Susanne Gaschke, das unter dem Titel "Die verkaufte Kindheit" 2011 bei Pantheon erschienen ist.