Michael J. Sandel - Was man für Geld nicht kaufen kann / What Money Can't Buy

  • Waren sie für eine lange Zeit auf das Gebiet des wirtschaftlichen Handelns beschränkt, haben sich im Zeitalter des Internets, der Globalisierung und der Allverfügbarkeit der menschlichen Arbeitskraft die Regeln und die Gesetze des sogenannten Marktes auf fast alle Lebensbereiche ausgeweitet, Sie haben Bereiche infiltriert und besetzt, die eigentlich außerhalb des Konsums und des Strebens nach Mehrwert liegen sollten. Zum Beispiel in der Medizin, in der Kunst, im Sport, in der Erziehung und immer mehr auch im Bereich der Familie und der Partnerschaft zwischen Menschen.


    Immer mehr Menschen halten das für unerträglich, sehen sich aber meistens außerstande, sich wirkungsvoll und nachhaltig gegen solche Tendenzen zu wehren und ihre Selbständigkeit und auch die Autonomie ihrer moralischen Urteilskraft zu bewahren. Die westlichen Demokratien haben sich von Marktwirtschaften zu regelrechten Marktgesellschaften verwandelt, in der nur zählt, was einen Preis hat, bewertbar und (ver)käuflich ist.


    Bedroht sind dadurch nicht nur zahllose zivilisatorische Errungenschaften, sondern auch die moralischen Grenzen haben sich bedenklich verschoben. Wie, so fragt der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel, der 2008 in einem bemerkenswerten Buch bei Berlin University Press ein „Plädoyer gegen die Perfektion“ hielt und über die Ethik im Zeitalter der genetischen Technik nachdachte, können wir all das, „was man für Geld nicht kaufen kann“ bewahren und dem Markt die moralischen Grenzen setzen, die nötig sind, soll unsere Humanität und Menschenwürde nicht vor die Hunde gehen.


    In insgesamt fünf Kapiteln versucht er das mit vielen Beispielen zu beschreiben:


    * Privilegien
    * Anreize und Belohnungen
    * Wie Märkte die Moral verdrängen
    * Das Geschäft mit dem Tod
    * Sponsoring und Werbung


    Und er entdeckt die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft als Quelle: „In einer Zeit zunehmender Ungleichheit läuft die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens darauf hinaus, dass Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen. Wir arbeiten und kaufen und spielen an verschiedenen Orten. Unsere Kinder besuchen verschiedene Schulen, unsere Lebenswelten schotten sich voneinander ab. Das dient weder der Demokratie noch unserer Lebensqualität. Demokratie erfordert keine vollkommene Gleichheit, aber sie erfordert, dass Bürger an einer gemeinsamen Lebenswelt teilhaben. Es kommt darauf an, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Sozialstatus miteinander in Kontakt kommen und im Alltag auch einmal zusammenstoßen. Denn nur so lernen wir, wie wir unsere Unterschiede aushandeln und wie wir gemeinsam dem Gemeinwohl dienen können.
    Am Ende läuft die Frage nach den Märkten also auf die Frage hinaus, wie wir zusammen leben wollen, Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist? Oder gibt es gewisse moralische und staatsbürgerliche Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden – und die man für Geld nicht kaufen kann?“


    Hoffentlich, meint ein von dem Buch sehr skeptisch gemachter Rezensent.

  • Nachdem mir schon Sandels "Gerechtigkeit" gut gefallen hat, habe ich mich sehr über die Entdeckung dieses Werks gefreut. Enttäuscht wurde ich auf keinen Fall, im Gegenteil: Ich habe fast das Gefühl, dass mir "Was man für Geld nicht kaufen kann" ein klein wenig besser gefallen hat. Einen halben Stern musste ich abziehen, weil Sandel für meinen Geschmack zu sehr auf den beiden Hauptargumenten gegen die zunehmende Kommerzialisierung unserer Gesellschaft herumgeritten ist, aber ansonsten hat mir das Lesen Freude bereitet und vor allem neue Erkenntnisse (nicht nur im Allgemeinen, sondern über meine eigene Denkweise).


    Sandels Anliegen in diesem Buch war, auf die starke Gewichtung des Geldes in unserem Leben und Alltag aufmerksam zu machen und vor allem die Beschäftigung mit der Frage anzuregen, ob wir diese Entwicklung denn überhaupt wollen. Das mag für manche vielleicht banal klingen - "jeder weiß doch, dass unsere Gesellschaft in großen Teilen geldgeil ist" -, aber Sandel arbeitet wirklich Nuancen heraus, um erstens zu zeigen, wie weit die ökonomische Sicht andere Formen der Sichtweise verdrängt hat, und zweitens, dass es manchmal nicht ganz klar ist, warum ökonomisches Denken nicht der richtige Weg sein kann und worüber es sich nachzudenken lohnt. Dabei überlädt er den Leser nicht mit hochkomplizierten Theorien, sondern arbeitet mit klarer Sprache, anschaulichen Beispielen und setzt sich dafür ein, dass man bequem mitdenken kann. Einfach weglesen lässt sich das Buch trotzdem - oder auch gerade deswegen - nicht (um kurz vor 7 Uhr morgens in der Bahn stieß meine Aufnahmekapazität an ihre Grenzen), aber wenn man ein wenig Konzentration und Lust mitbringt, dann liegt das Buch nicht so schwer im Magen.


    Was mir super gefallen hat, waren die gedanklichen Anregungen, die mir das Buch geschenkt hat. Zum Beispiel habe ich mich nie damit beschäftigt, ob Priority Boarding am Flughafen oder ein bezahltes Überspringen der Warteschlange im Freizeitpark aus moralischer Sicht bedenklich sind. Sandel hat gute Überzeugungsarbeit geleistet, um mir plausibel zu machen, dass diese und ähnliche Dienstleistungen auf lange Sicht mit Vorsicht genossen werden sollten. Ein Ökonom hätte gegen solche Praktiken keine Einwände gehabt (ein freiwilliger Austausch von Leistungen, beide Seiten haben einen Vorteil, kein anderer kommt zu Schaden), doch man muss die beiden Argumente der Fairness (hier im Sinne der Gleichheit bzw. Gleichbehandlung) und der Korruption im Sinne von "Entwürdigung" in Erwägung ziehen. Wenn man es so betrachtet, fördern solche Angebote zum einen die Spaltung der Gesellschaft, zum anderen werden bestimmte Werte mit den Füßen getreten. Das Letztere ist am Beispiel des Flughafens besser zu sehen: Dadurch, dass man mit dem Platz in der Schlange handelt, entwürdigt man das Recht auf Sicherheit, dass allen gleichermaßen zusteht.
    Dazu muss ich anmerken, dass sich diese beiden Beispiele für mich in einer Grauzone befinden, wo man geteilter Meinung sein kann. Das Überspringen der Warteschlange im Park finde ich persönlich nicht schlimm (diese Option habe ich dabei selbst noch nie genutzt) und beim Flughafen überspringt man schließlich nicht die Sicherheitskontrollen. Dennoch kann ich die beiden Argumente verstehen. Zum einen teilt Geld mal wieder die Massen, zum anderen stumpfen wir auch schon bei solch simplen Praktiken gegenüber der Verwendung von Geld ab, sodass auf dieser Grundlage gewagtere Ideen in die Tat umgesetzt werden.


    Im Laufe des Buches geht Sandel auf eine Vielzahl anderer Beispiele mit unterschiedlichen Besonderheiten ein. Von meinem Gefühl her wurden die Beispiele mit der Zeit immer verblüffender in dem Sinne, dass ich nicht glauben konnte, wie weit man gehen kann. Nur um zwei zu nennen:

    • Es gibt wohl die Möglichkeit, auf den Tod von Berühmtheiten zu setzen, sodass man Geld erhält, wenn der Star in einem bestimmten Zeitraum stirbt. Zwar hat das keine direkte Auswirkung auf den betroffenen Menschen, aber man muss sich einmal vor Augen führen, was für Werte da den Bach runtergehen...
    • Werbung empfinden die meisten Menschen als unangenehm, aber was passiert, wenn sie den Sprung in die Schulen, das Gefängnis, auf den Umschlag eines Abschlusszeugnisses oder gar die Stirn eines Menschen schafft? Beim Lesen dieses Kapitels standen mir die Haare zu Berge.

    Fazit:
    Wer ein Thema braucht, worüber er nachdenken kann und welches Platz für eigene Überlegungen und Diskussionen bietet, dann soll er es wirklich einmal mit diesem Buch versuchen. Leicht verständlich, unterhaltsam, zum Denken anregend: So muss das sein! :thumleft:

    :jocolor: Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa // Norman Davies (Projekt)



    You cannot open a book without learning something. - Konfuzius

  • Wäre einer von den Moderatoren so lieb und würde den Vornamen des Autors im Startbeitrag korrigieren ( @K.-G. Beck-Ewe, @Squirrel)? Vielen Dank!

    :jocolor: Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa // Norman Davies (Projekt)



    You cannot open a book without learning something. - Konfuzius

  • gerne :wink:

    Ich traue mich gar nicht, was zu sagen... Aber jetzt hat der Nachname einen Buchstabendreher. 8-[ Der Vorname stimmt.

    :jocolor: Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa // Norman Davies (Projekt)



    You cannot open a book without learning something. - Konfuzius