Michael Holzach - Das vergessene Volk

  • Über den Autor:
    Michael Holzach (08.04.1947-21.04.1983) war ein deutscher Journalist und Buchautor. Er studierte Sozialwissenschaften und arbeitete u.a. bei der „Zeit“, bei der er Reportagen über Randgruppen veröffentlichte. Weitere Themen seiner Arbeit waren Jugendalkoholismus, Gastarbeiter, Arbeitslose und die Anti-Atom-Bewegung. Bekannt wurde er mit seinem Buch „Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland“, in dem er seine Erlebnisse bei der Durchwanderung Deutschlands veröffentlichte. Bei den Vorbereitungen zu dessen Verfilmung ertrank Michael Holzach in der Emscher bei dem Versuch, seinen Hund zu retten. (Quelle: Wikipedia)
    Der Fotograf Timm Rautert (*1941) war mit Michael Holzach befreundet und arbeitete schon vorher mit ihm zusammen. Er besuchte ihn zwei Mal während dessen Aufenthalt bei den Hutterern in Kanada, die Bilder im Buch sind in dieser Zeit aufgenommmen worden.


    Vorbemerkung:
    Die Hutterer sind eine täuferische Kirche, die auf Jacob Hutter zurückgeht und deren Anhänger in Gütergemeinschaft leben. Ihre Lehre und Glaubenspraxis waren der Grund, weshalb ihre Mitglieder seit der Gründung im Jahr 1528 häufig emigrieren mussten. Heute leben die rund 45.000 Anhänger (inkl. Neuhutterer) nahezu ausschließlich in den USA und Kanada. Sie sprechen noch immer das Hutterische als Muttersprache. Im Unterschied zu den bekannteren Amish People lehnen die Hutterer technische Hilfsmittel nicht völlig ab, aber dafür kennen sie kein Privateigentum und sind in ihrer Privatspäre eingeschränkter als diese.
    (Quelle: u.a.Wikipedia)


    Buchinhalt (Klappentext):
    Die Hutterer, das vergessene Volk – seit 450 Jahren um seines Glaubens willen auf leidvoller Pilgerschaft durch die Welt. Die Muttersprache dieser „Auserwählten“ ist Deutsch, doch Deutschland haben die hutterischen Brüder und Schwestern seit Jahrhunderten nicht gesehen. Heute leben 25000 Hutterer in „Archen“, wie sie ihre 250 Siedlungen nennen, abseits der Highways in der nordamerikanischen Prärie. Ihr Gesetzbuch ist die Bibel. Sie sind strenge Pazifisten und lehnen jede Form von Privateigentum ab.
    Angeregt durch die Lektüre des Psychoanalytikers Erich Fromm, der die Gemeinschaften als „radikale Humanisten“ bezeichnet, lebte Michael Holzach ein Jahr in zwei Brudergemeinden in der kanadischen Provinz Alberta. Er entdeckte eine Lebensform ohne soziale Ungerechtigkeit, ohne Konsumdenken und ohne Gewalt – den urchristlichen Kommunismus.
    Der „Weltmensch“ Holzach arbeitete, sang, und betete mit diesen einfachen Menschen, die Frauen nähten ihm die schwarze Einheitstracht, die Männer brachten ihm bei, wie man Schuhe macht, Ferkel kastriert, Seife kocht. Er erlebte Hochzeiten und Taufen mit und lernte auch, wie man einen Toten fröhlich zu Grabe trägt.
    Fast gänzlich abgeschnitten von seiner Welt, fühlte er sich oft sehr geborgen im Schoße der frommen Gemeinschaft, manchmal aber auch schrecklich allein.
    Wie verkraftet ein Mensch des 20. Jahrhunderts diesen Sprung ins „Mittelalter“? Gibt es tatsächlich so etwas wie Inseln der Glücklichen im „Meer der Sünde“? Der Autor fand Antworten auf diese Fragen unserer „Zivilisation“.


    Allgemeines:
    Das Buch erschien 1980 als Hardcover im Verlag Hoffmann & Campe (die Originalausgabe hat keine zitierbare ISBN, deshalb habe ich die dtv-Ausgabe aufgeführt).
    Die 476 Seiten sind unterteilt in den Hauptteil mit 5 Kapiteln/238 Seiten sowie einen ausführlichen Anhang (Chronologie, Martertafel, Schulordnung von 1568, Aussagen zu Tauf-Fragen, Ehestand, Bann und Wiederaufnahme, historische Dokumente sowie ein Lied der hutterischen Brüder).


    Kapitel:
    Winter – Im Lastwagen zu Gottes Arche
    Frühling – Karneval des auserwählten Volkes
    Sommer – Das Hohelied für meine Rachel
    Herbst – Seliges Sterben bei Kaffee und Zwieback
    Winter – Mit fünf Talern Wegzehrung zurück ins Höllenloch
    Anhang


    Michael Holzach beginnt seine Reportage mit seiner Ankunft in der Wilson-Kolonie in Kanada, kurz hinter der Grenze zu den USA, den ersten Tagen und eben auch seinem plötzlichen Auftauchen in der Gemeinschaft. Er reiste damals ins Blaue hinein, nicht wissend, ob auch nur eine Hutterer-Gemeinde überhaupt gewillt war, einen Außenseiter für ein Jahr in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Nach dieser Ankunft folgt ein Rückblick auf die Geschichte der Wiedertäufer und der Hutterer im speziellen. Und dann führt uns Holzach über ein Jahr in das Leben, Denken, Fühlen und den Glauben der heutigen Hutterer, die sich doch so wenig in den Jahrhunderten verändert haben. Er lässt uns teilhaben an ihrem Leben und an seinem, dass auf der einen Seite fest integriert ist in die alltäglichen Abläufe, aber natürlich doch wieder geprägt sind von seiner Vorgeschichte, seinem individuellen Fühlen und Denken. Er schildert die Gefühle der Geborgenheit, die durch die festen Strukturen und das Fehlen von individueller Freiheit gegeben werden, aber auch seine Zweifel und die immer wiederkehrende Einsamkeit, denn er ist eben doch nie wirklich einer der „ihren“ sondern bleibt der „Englischa“, der Außenseiter. Er schildert ganz klar seine Kämpfe mit den alten Gebräuchen der Hutterer, die er aber annehmen muss in die Gemeinschaft integriert zu werden.



    Doch auch die Hutterer haben ihre Schwierigkeiten mit dem Fremden und seinen Eigenheiten, sie können sich unser Leben genauso wenig vorstellen wie wir uns das ihrige. So sind sie z.B. erstaunt, dass er ihre Sprache spricht, und wollen nicht glauben, dass alle Menschen in Deutschland noch heute diese Sprache sprechen. Sie haben kein Bild von unserer Welt, denn die interessiert sie nicht. Sie lesen keine Zeitungen und haben kein „Tiwi“, sie leben nur in ihrem Hier und Jetzt, das ausgerichtet ist auf ein Leben nach dem Tod, nicht auf das Leben in der körperlichen Form. Am Ende kehrt Michael Holzach zurück nach Deutschland, sowohl äußerlich als auch innerlich nicht mehr der gleiche Mensch, der ein Jahr zuvor aufgebrochen ist in eine abgesonderte Welt innerhalb und doch gleichzeitig so außerhalb unserer eigenen.



    Meine Meinung:
    Ich hatte eine dunkle Vorstellung von „den Hutterern“ als ich vor ca. 10 Jahren zufällig auf diesen Buchtitel stieß. Damals war das Buch nur noch in Antiquariaten erhältlich (mittlerweile gibt es TB-Neuauflagen). Aber meine Vorstellungen waren geprägt von meinen Kenntnissen über die Amishen, und damit völlig falsch, wie ich durch dieses Buch erfahren durfte. Die Hutterer sind das, was man als wahre Kommunisten bezeichnen könnte: sie kennen kein Privateigentum außer ein paar Kleinigkeiten wie Kleidung (aber nicht zu viel und immer einheitlich), sie teilen alles miteinander (auch ihre Zeit, sie sind so gut wie nie für sich), sie leben nach außen vollkommen gewaltfrei (körperliche Züchtigung ist für sie keine Gewalt) und jeder steht für den anderen ein. Zuerst kommt der Glaube, dann die Gemeinschaft und das Individuum zählt nicht! Sie leben also ein Leben so vollkommen konträr unserem eigenen, dass es unserer Vorstellung nicht ferner sein kann. Dabei sind sie (land)wirtschaftlich extrem erfolgreich und werden offensichtlich dafür in ihrem direkten Umfeld respektiert und akzeptiert.


    Ich bewundere Michael Holzach für seinen Mut, ein komplettes Jahr in diese fremde Welt einzutauchen – ich hätte das nicht ausgehalten. Seine Reportage zeichnet sich für mich dadurch aus, dass er diesen Menschen, die ein uns so fremdes Leben führen, ihre Würde lässt, sie respektiert und sie nicht einfach als Exoten vorführt. Er lässt sich ein auf alle Aspekte, die ein hutterisches Leben ausmachen und bringt sie uns in seiner nüchternen Sprache näher. Er bewahrt so auch ein Kapitel unserer europäischen Geschichte, denn ohne die Reformation in Europa gäbe es die Hutterer nicht, und ohne die Hutterer gerieten manchen Aspekte unserer Geschichte im öffentlichen Bewußtsein vielleicht auch wieder in Vergessenheit. Michael Holzach holt eine Gruppe Menschen, die über Jahrhunderte ihren strikten Überzeugungen treu geblieben sind, zurück in die Öffentlichkeit ohne sie auszustellen. Und er zeigt uns dabei auch Defizite unserer eigenen Gesellschaft auf, in der ja nur das Individuum und Besitz zählen und Überzeugungen oft zu leichtfertig aufgegeben werden bei den geringsten Widerständen in unserer Gesellschaft.


    Im Stil des Buches ist ganz klar der Reporter erkennbar, aber es handelt sich ja auch nicht um einen Roman basierend auf einer Erfahrung, sondern um eine Reportage über erfahrene Werte und Welten eines „vergessenen Volkes“. Wer auch immer sich für „fremde Völker“ interessiert, der sollte sich diese Reportage zur Hand nehmen, denn fremde Völker müssen nicht notwendigerweise irgendwo in einem Urwald leben, sondern es gibt sie auch heute noch mitten unter uns.


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    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


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