Christoph Türcke, Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur


  • Immer wenn ich in der Vergangenheit hörte und las von Kindern, deren Verhalten unter der Diagnose ADS oder ADHS qualifiziert wurde und die mit dem Medikament Ritalin ruhig gestellt bzw. für eine für das Verfolgen eines Schulunterrichts nötige Weise fit gemacht wurden, beschlich mich das Gefühl, dass es sich hier nicht um eine Krankheit handelte, auch wenn das die betroffenen Eltern ebenfalls beruhigte. Immer hatte ich den Verdacht, dass es in der frühen Kindheit und der Familiengeschichte dieser Kinder Entwicklungen gegeben haben musste, die zu diesem immer weiter um sich greifenden Phänomen geführt haben.

    Der Philosoph Christoph Türcke, der schon in seinem 2002 erschienenen Buch „Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation“ diesem Phänomen als gesellschaftlicher Frage auf der Spur war, hat nun in einem kleinen Buch eine „Kritik der Aufmerksamkeitskultur“ vorgelegt, in dem er zunächst evolutionstheoretisch der Bedeutung von Ritualen für die menschlichen Kultur und die Lebens- und Kontingenzbewältigung des Individuums nachgeht, und dann entwicklungspsychologische Erkenntnisse über die ersten Lebensmonate eines Kindes , insbesondere über die sogenannte „Neunmonatsrevolution“, wenn das kindliche Gehirn zu seiner vollen Zahl von Gehirnzellen gelangt ist, beschreibt.

    Wenn nun in diesen ersten Lebensmonaten die Aufmerksamkeit der Eltern für ihr Kind immer wieder gestört wird durch die mikroelektronische Reizkultur, wenn nebenher der Fernseher läuft, telefoniert wird, oder E-Mails gescheckt werden, dann kommt es zu einem für Entwicklung des Kindes verhängnisvollen introitus interruptus.
    „Statt dass lebendige Personen ihre Aufmerksamkeit für etwas teilen, teilt sich dann nämlich die Aufmerksamkeit zwischen lebendigen Personen und Bildmaschinen. Das Kind erlebt den Bildschirm zwar noch nicht als den Aufmerksamkeitsfänger, der er für die Großen ist; es kann mit dem Geflimmer und den Geräuschen dazu nicht viel anfangen. Aber es erlebt, wie der Bildschirm die Aufmerksamkeit seiner Bezugsperson absorbiert, wie die elterliche Zuwendung unter den Aufmerksamkeitsansprüchen, die diese Kulisse permanent erhebt, flach und unwirklich wird. Die Mutter (oder ihr Vertreter) mag viel beim Kind sein, es ansprechen und auf alles Mögliche hinweisen, aber wenn daneben etwas flimmert und dudelt, was das gemeinsame Aufmerken auf Dinge und das Verweilen bei ihnen ständig durchkreuzt, weil der Blick der Mutter zwischen Kind und Bildschirm hin- und herwandert, ihre Worte von der Geräuschkulisse überlagert werden, dann werden die ersten zarten Fäden der qualitativ neuen Gemeinschaft, die das Kind spinnt, ständig wieder gekappt.“

    Der Bildschirm tritt zwischen Mutter und Kind. Dazu kommen noch die unsäglichen Handys und I-Pods, an denen man erwachsene Menschen allenthalben herumspielen sieht, obwohl sie gerade im Gespräch mit jemandem sind.

    Die Menschen, so sagt Türcke, leiden unter einer konzentrierter Zerstreuung, die er als Kulturstörung bezeichnet. Die Menschen sind ständig zwanghaft damit beschäftigt, sich zu zerstreuen, was nicht zur Entspannung führt, sondern zum Stress.

    Für die kleinen Kinder nun hat diese fehlende Aufmerksamkeit eine geradezu diabolische Langzeitwirkung. Später werden sie dann nur mit einem Mittel ruhig – entweder Ritalin oder der Bildschirm. Wenn die Gehirne der kleinen Kinder durch eine ständige Reitflut genötigt werden, dauernd etwas Neues aufzubauen, schlägt ein solcher Aufbau irgendwann um in die Destruktivität.

    Diese Menschen, irgendwann erwachsen geworden, haben nie die Fähigkeit entwickelt, bei einem Sachverhalt zu bleiben, sie können keine klaren Gedanken mehr fassen. Auch ihre Einbildungskraft, die Fähigkeit innere Bilder zu erzeugen (z. b. auch in Träumen) schwindet, und das beeinträchtigt die Fähigkeit der Menschen zu nachhaltiger Erfahrung.

    In einem zweiten Teil des Buches beschreibt Türcke, wie er mit einem neuen kanonübergreifenden Schulfach mit dem Arbeitstitel „Ritualkunde“ diesen Entwicklungen, deren Peak er noch lange nicht erreicht sieht, etwas entgegensetzen will.

    Was Türcke nicht beschreibt, weil er wohl keinen Einfluss darauf hat, will ich hier aber deutlich sagen:
    Schon lange bevor die Kinder in die Schule kommen, müssen werdende Eltern und Eltern von kleinen Kindern meiner Meinung nach fasten. Damit meine ich: keinen laufenden Fernseher oder PC, während das Kind wach ist. Kein angeschaltetes Handy und kein Herumspielen mit Mails oder ähnlichem, während man im Kontakt mit seinem Kind ist. Und immer wieder: ungestörtes, entspanntes Vorlesen, Reden, Spielen. Wenn ich das Handy am Ohr habe, bin ich nicht im Kontakt mit meinem Kind.

    Die permanente Erreichbarkeit, das permanente Online-Sein, dieser unsägliche Druck, den die elektronischen Medien ausüben – wir müssen uns um unserer Kinder willen davon befreien. Das ist wahrer und zeitgemäßer Widerstand gegen eine Entwicklung, die die über Jahrtausende gewachsenen Grundlagen unserer Kultur zu zerstören droht.



  • Prinzipiell schon richtig, dem Kind die volle Aufmerksamkeit zu geben und sich nicht nebenbei noch mit zwei, drei anderen Leuten oder dem Fernseher zu beschäftigen. Und nicht nur seinem Kind, sondern jedem, mit dem man sich gerade unterhält.


    Aber: ADHS gab es schon, als es noch keine Handys und kein Internet gab. Und kam (kommt) auch in Familien vor, in denen der Fernseher nicht den ganzen Tag läuft.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Über das Phänomen AD(H)S grübele ich auch schon länger. Es scheint eine objektiv feststellbare Störung (durch z.B. MRTs verifizierbare Vorgänge im Gehirn) zu sein und war sicher auch schon in früheren Jahrhunderten präsent, man denke an den "Zappelphilipp". Früher mussten sich die Menschen aber insgesamt mehr bewegen und weniger stillsitzen als heute in Schule und Büro. Da fielen ADSler vielleicht nicht so auf.
    Allerdings bezweifle ich, dass jeder, der heute als ADSler betrachtet wird, auch wirklich einer ist. Manche dieser Kinder würde ich auch einfach als "schlecht erzogen" bezeichnen. In wieweit die modernen Medien mit echtem oder unechtem :wink: AD(H)S in Zusammenhang zu bringen sind, kann ich nicht beurteilen.
    Ich bin froh, dass wir noch kein Internet, bzw. keinen Büchertreff hatten, als unsere Kinder so klein waren, dass sie nahezu ständig unsere ungeteilte Aufmerksamkeit brauchten. Wegen Fernsehen oder Handy mache ich mir keine Gedanken, das spielt in meinem Leben keine so wichtige Rolle, aber das Internet beschäftigt mich schon sehr... :-,

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Die permanente Erreichbarkeit, das permanente Online-Sein, dieser unsägliche Druck, den die elektronischen Medien ausüben – wir müssen uns um unserer Kinder willen davon befreien. Das ist wahrer und zeitgemäßer Widerstand gegen eine Entwicklung, die die über Jahrtausende gewachsenen Grundlagen unserer Kultur zu zerstören droht.

    Mir scheint es wichtig richtige und genaue nicht einseitige Informationen zu bekommen, deswegen misstraue ich oftmals diesen Ratgebern.

    Zitat

    Seit über 25 Jahren wird in den USA unter dem Begriff der Attention Deficit (Hyperctivity) Disorder (abgekürzt ADHD oder ADD) die obligat im Kindesalter beginnende häufige Verhaltens- und Lernstörung verstanden, die bereits im 19. Jahrhundert vom Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann im berühmten "Struwwelpeter" in all seinen typischen Erscheinungsformen beschrieben wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der englische Kinderarzt Still das Störungsbild erstmals für Mediziner im "Lancet" ausführlich erläutert und betont, dass ursächlich eine angeborene Konstitution und nicht etwa eine schlechte Erziehung oder ungünstige Umweltbedingungen im Vordergrund stehe.

    Quelle: http://www.sfg-adhs.ch/adhs-pos/index.html

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • die bereits im 19. Jahrhundert vom Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann im berühmten "Struwwelpeter" in all seinen typischen Erscheinungsformen beschrieben wurde.


    Sag ich doch, der "Zappelphilipp"! :mrgreen:

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