David Vann - Im Schatten des Vaters

  • Original: Sukkwan Island: A Novella from Legend of a Suicide (Englisch/USA, 2008)
    Übersetzerin: Miriam Mandelkow


    ZUM INHALT:
    Eine abgelegene Insel im südlichen Alaska, die nur per Boot oder Wasserflugzeug zu erreichen ist, mit nichts in Sicht außer wilden Wäldern und schroffen Bergen. Hier hat Jim eine Holzhütte gekauft, um dort ein Jahr mit seinem dreizehnjährigen Sohn Roy, den er kaum kennt, alleine zu leben. Aber Jim ist jämmerlich unvorbereitet auf das Leben in der Wildnis: auf Bären, peitschenden Regen und Schnee und vor allem auf die Einsamkeit. Nachts muss der zunehmend verschreckte Roy das verzweifelte Schluchzen seines Vaters mitanhören. Roy will nichts als fort von der Insel, aber er fürchtet sich vor dem, was passiert, wenn er geht. Und so bleibt er, bis das Schicksal des Vaters und sein eigenes mit einem erschütternden Ereignis besiegelt sind. (Suhrkamp Produktbeschreibung)


    ANMERKUNGEN:
    Ein paradiesisches Jahr auf einer Insel in Alaska! Hört sich nicht schlecht an, doch von Anfang an tauchen die Zweifel auf: einerseits scheinen Vater und Sohn praktisch nicht immer extrem gut vorbereitet, nachdem sie sich haben mit Mengen an Proviant, Waffen etc auf einer Insel per Flugzeug aussetzen lassen. Andererseits wird schnell klar, dass der Vater nach zwei Scheidungen und mehreren Berufen trotz seiner „Wir-sind-Männer-Mentalität“ psychologisch nicht dem Druck gewachsen ist. Und angesichts seiner Schwäche und der Entfremdung zwischen Vater und Sohn Roy sich zunehmend unwohl fühlt.


    So scheint eine Katastrophe, ein Drama irgendwo vorprogrammiert, und eine gewisse Vorhersehbarkeit schien mir in diesem ersten Teil fast zu plakativ, offensichtlich. Doch als jenes Drama beschrieben wird, müssen wir uns erst einmal setzen und schlucken. Was kommt denn hier? Hallo?


    Ich empfand es fast als unglaubwürdig und unproduktiv. Erst auf dem Hintergrund der Biographie des Autors kann ich verstehen, dass dieses Szenario seine Weise ist, eine mögliche Variante seiner Vergangenheit zu schreiben und sie zu verarbeiten. Eigentlich nur in diesem Bezug zum Leben des Autors gewinnt der Roman für mich an Sinn, wenn man so reden darf.



    Vann versetzt uns in eine abgeschiedene Welt, in der die Natur nicht von vorneherein romantischer Partner ist, sondern auch Unruheherd. Er kennt Alaska aus eigener Erfahrung.


    Man kann diesen Roman durchaus als Vater-Sohn-Roman bezeichnen. Vielen mag er eindrucksvoll in Erinnerung bleiben.


    ZUM AUTOR:
    David Vann (* 19. Oktober 1966 auf Adak Island, Alaska) ist ein amerikanischer Autor.Er wurde als Sohn eines Zahnarztes auf der dortigen US-Militärbasis geboren und wuchs in Ketchikan (Alaska) zusammen mit seiner fünf Jahre jüngeren Schwester auf. Sein Vater verübte Suizid, als David Vann 13 war, ein Thema, das er später in seinem Buch „Legend of a Suicide“ aufnahm. David Vann schloss sein Studium an der Cornell University 1994 mit dem M.F.A. ab. Von 1994 bis 1996 war er Wallace Stegner Fellow an der Stanford University.


    Vann lehrte Creative Writing in Stanford und an der University of San Francisco. An der Florida State University war er Assistant Professor. Vann veröffentlichte seine Kurzgeschichten unter anderem im Atlantic Monthly und in Esquire. Sein Buch Legend of a Suicide wurde 2007 mit dem Grace Paley Prize for Short Fiction der Association of Writers and Writing Programs ausgezeichnet.

  • Gerade fand ich einen ausführlichen Beitrag in "Die Zeit" zu diesem Buch. Allerdings geht mir die Inhaltsangabe und Analyse zu weit. Eventuell erst nach dem eigenen Lesen als zusätzliche Quelle und Beitrag lesen?


    http://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-03/david-vann

  • Hier noch ein Link zu einer englischen Ausgabe...:

  • Mit David Vann kündigt sich einmal mehr ein großer US-amerikanischer Erzähler an, von dem in den kommenden Jahren wohl noch Einiges zu lesen und zu hören sein wird. Mich hat „Im Schatten des Vaters“ sehr beeindruckt, denn der Autor bricht mit der Erwartungshaltung des Lesers, es mit einer Vater-Sohn-Selbstfindungs- und Beziehungsentwicklung zu tun zu haben: bereits nach wenigen Seiten wird klar, daß die Geschichte kein gutes Ende nehmen kann.


    Jim, von seiner ersten Frau geschiedener Zahnarzt, hat gerade seine zweite Beziehung in den Sand gesetzt und Haus und Praxis veräußert, um mit seinem bereits erwachsenen Sohn Roy, den er kaum kennt, ein Jahr in der Wildnis Alaskas zu verbringen. Hier hat er eine Hütte auf einer unbewohnten Insel gekauft, umgeben von nebelverhangenen, dauerfeuchten Urwäldern. Nur alle paar Wochen kommt ein Pilot mit seinem Wasserflugzeug vorbei, um Sohn und Vater mit dem Nötigsten zu versorgen und nach den beiden zu sehen. Jim will seine durch die Trennung von seiner Frau verpasste Beziehung zu seinem Sohn auffrischen, Abstand zu den Pleiten seines Lebens gewinnen und einen Neuanfang wagen, doch Roy hat nur widerwillig und allein seinem Vater zuliebe in das Unternehmen eingewilligt.


    Schlechte Voraussetzungen für ein langes Jahr mit allen erdenklichen Härten, Unannehmlichkeiten und Bewährungsproben, und zu allem Übel nimmt Jim den ganzen seelischen Ballast seines total verkorksten Lebens mit in die Wildnis: sein unstillbares Bedürfnis nach Sex mit immer wechselnden Frauen, seine Unaufrichtigkeit gegenüber seiner Familie, sein Selbstmitleid nach zwei zerrütteten Beziehungen. Bereits nach wenigen Tagen spitzen sich die Geschehnisse zu: schnell werden die Nahrungsmittel knapp, ein Bär plündert die Hütte und den Rest der Vorräte und bei einer Wanderung in die Berge verirren sich Jim und Roy und entkommen nur knapp dem Kältetod nach zwei durchwachten Nächten im Wald. Schlechte Vorbereitung und Inkompetenz bei alltäglichen Aufgaben verbinden sich zu einem lebensgefährlichen Zustand der Existenz. Für die beiden bleibt kaum Zeit, sich umeinander zu kümmern, denn von Anfang an sind beide allein damit beschäftigt, Wintervorräte anzulegen, Brennholz heranzuschaffen, zu jagen und zu angeln, kurz: ihr Dasein mehr schlecht als recht über die Zeit zur retten.


    Nachts fängt der Vater im benachbarten Bett an zu weinen und jammern, beklagt sein Schicksal und vergeht in Reue und Selbstmitleid ob seines verpfuschten Lebens. Roy will das alles nicht mitanhören, muß es aber, denn die Hütte besteht nur aus einem Raum und ihm dämmert langsam, daß sein Vater weder die Kraft aufbringen kann, die Beziehung zu ihm zu erneuern, noch sich den Herausforderungen des Lebens in der Wildnis zu stellen, denn er ist allein mit sich und der Beweinung seines zurückliegenden Lebens beschäftigt.


    Bald verdichten sich die Anzeichen, daß Jim akut selbstmordgefährdet ist. Roy läßt die einzige Chance verstreichen, die Insel mit dem Wasserflugzeug vorzeitig zu verlassen, aus Angst davor, seinen Vater allein mit sich selbst zurückzulassen. Als Jim über Funk erfährt, daß Rhoda, seine letzte Freundin, sich endgültig von ihm trennen will, bricht sich schließlich die lange, zumindest tagsüber unterdrückte Verzweiflung Bahn und Jim kündigt ihr und Roy seinen bevorstehenden Selbstmord an.



    David Vann ist ein beeindruckendes, zutiefst verstörendes Stück Literatur gelungen. In meisterlicher Art wird eine Atmosphäre der Bedrohung und Unausweichlichkeit heraufbeschworen: ein klaustrophobischer Zustand in der Weite der Wildnis. Beschrieben werden Handlungen, die jederzeit in eine Tragödie umkippen können; Dialoge, in denen zwischen jeder Zeile herausgelesen werden kann, auf welch dünnem Grat der Vater wandelt zwischen angestrengter Aufrechterhaltung seiner Alltagsbefindlichkeit und der Hingabe in seinen eigenen seelischen Untergang.


    Nach allem, was in Medien und Internet zu lesen ist, verarbeitet David Vann mit dieser fast novellenhaften Geschichte sein eigenes Trauma, denn der Selbstmord des eigenen Vaters hat sich demnach annähernd genauso ereignet, wie er hier geschildert wird.


    Mein Fazit: ein enorm starkes deutsches Debut dieses amerikanischen Erzählers. Die Bilder, welche die Lektüre der vorliegenden 190 Seiten im Kopf des Lesers hinterlassen, wirken noch lange nach.