Steffen Radlmaier - Die Joel Story /Billy Joel und seine deutsch-jüdische Familiengeschichte

  • Es war ein zweiter Blick notwendig, um mir selbst zu erklären, warum ich mich im Vorbeigehen zu diesem Buch hingezogen gefühlt hatte und stehen geblieben war. Künstlerbiographien populärer Gegenwartskünstler rufen bei mir eigentlich eher Skepsis hervor und veranlassen mich zu einer Wegdavonbewegung, besonders wenn sie trotz deutschen Titels als Story daherkommen.


    Der zweite Blick erklärte mir: es waren die die drei in grau gehaltenen kleinen Bildchen am oberen Rand des Umschlages, ein Miniabriss der jüngeren europäischen Geschichte, die zumindest stilistisch in einem offensichtlichen Gegensatz zum farbigen Porträt des sonnenbebrillten, bärtigen Künstlers standen, die meinen Schritt angehalten hatten. Und natürlich der Untertitel: kaum kleiner geschrieben als „Die Joel Story“ stand zu lesen „Billy Joel und seine deutsch – jüdische Familiengeschichte“.


    Letztlich blieb mir eigentlich gar nichts anderes übrig, als dieses Buch um ein paar Euro aus dem straßenseitig platzierten, nicht wirklich vor dem tagesaktuellen Schneegestöber geschützten Abverkaufskorb eines Filialisten, für den Bücher offenbar genau so Ware sind wie wertloses Plastikspielzeug, zu retten.


    Für diesen, freilich wenig selbstlosen, Akt der Bücherbefreiung wurde ich mit der ausgesprochen interessanten Geschichte des erfolgreichen Wäscheversandhändlers Karl Amson Joels, seiner Frau Meta und der ihnen nachfolgenden Generationen belohnt. Die Familie kann sich am unternehmerischen Erfolg nur relativ kurz erfreuen und zum eigenen Wohl ebenso, wie zu dem der MitarbeiterInnen, bei denen Karl Amson Joel sehr beliebt war, tätig sein.


    Mit der Machtübernahme der Nazis und zunehmenden Repressalien, wird die immer weiter in die Ferne führende Flucht mit der Endstation Amerika notwendig. Das einträgliche Unternehmen der Joels übernimmt ein Mann zum Schnäppchenpreis, dessen Name „Neckermann macht’s möglich“ auch heute noch bestens bekannt ist: der spätere Versandhauskönig Josef Neckermann. Ein in den Nachkriegsjahrzehnten geführter Rechtsstreit verhilft Karl Joel lediglich zu einem kleinen Teil des ihm zustehenden Kaufpreises für seine Firma.


    1949 wird Karl und Metas Sohn Helmut in Amerika Vater von William Martin, genannt Billy. Da die Ehe scheitert und Helmut Joel alleine nach Europa zurückgeht, wächst Billy Joel weitgehend vaterlos auf. Mit seinem Werdegang beschäftigt sich der zweite Teil des Buches.


    Eine Lebensgeschichte, die unter anderem erzählt, was aus einem leidenschaftlichen Schulversager werden kann, wenn er sich selbst und dem was er mag, treu bleibt: Weltstar mit dem Nebenjob „erfolgreicher Anbieter von Gesprächskonzerten“ an diversen amerikanischen Universitäten.


    Geografisch begleitet man Billy Joel aus ärmlichen Wohngegenden in die besten Lagen New Yorks, und von dort auf Reisen nach Europa, speziell nach Wien, wo sein Vater und zeitweise auch sein Bruder, der gefragte Dirigent klassischer Musik, Alexander Joel, leben. Billy Joels musikalischer Werdegang und auch manche Enttäuschung, die ihn das Musikgeschäft durchleben lässt, sind Thema. Persönliche Grenzgänge werden zwar angesprochen, aber die Erzählweise ist so gewählt, dass die Schwelle vom Vorzimmer in privatere Räume nicht überschritten wird.


    „Niemand ist immer glücklich – Verrückte ausgenommen.“ Mit diesem Satz wir Billy Joel am Ende des Buches zitiert. Mit Gedankenspielen über das Glück schlage ich die letzte Seite um. Darf man es als Glück bezeichnen, wenn aus einer Familie, im Gegensatz zu vielen anderen, ein relativ großer Teil der Familienmitglieder eine Irrsinnsepoche der Weltgeschichte überlebt hat? Jedenfalls empfinde ich es als Glück, wenn ein Künstler in der Lage ist, durch seine Werke vielen Menschen besondere Momente zu bescheren, so wie Billy Joel das kann.

  • Danke für die Rezi, Jogl! Man erfährt doch immer wieder Neues. Ich mag Billy Joels Musik schon lange ("She's always a woman" gehört zu meinen Lieblingsliedern :love: ), aber dass er deutsche Vorfahren hat, wusste ich gar nicht. Werde mir das Buch mal auf die WL setzen, obwohl ich zurzeit leider wenig zum Lesen komme. Kann mir aber vorstellen, dass es sehr bewegend ist.

  • Das ist auch ein Tip für mich!


    Dass Billy Joel deutsche Wurzeln hat, war mir auch nicht bekannt.

  • Vielen Dank für die Rezi!


    Ich habe dieses Buch auch sehr, sehr gerne gelesen. Nicht zuletzt, weil mich Billy Joel musikalisch schon mein ganzes Leben begleitet. (Mit ca. 10 Jahren habe ich immer gesagt, ich wolle ihn mal heiraten. :roll: )


    Mir hat die Art und Weise, wie das Privatleben Billy Joels behandelt wird, auch sehr gut gefallen. Weit weg von voyeuristischer Sensationsgeilheit zeigt es einen sensiblen, zum Teil verkannten Künstler. Wie sehr er sich schlechte Kritiken zu Herzen nimmt, die Liebe zu seiner zweiten Frau (diese Ehe wurde ja sehr schmutzig und öffentlich geschieden), die Sorge, dass seine Tochter Alexa Ray aufgrund der Trennung so vaterlos aufwachsen muss wie Billy Joel selbst.


    Ein wundervoll einfühlsames Buch, dass uns eine völlig unbekannte Seite von Billy Joel zeigt.


    Natürlich ist auch der erste Teil - die Geschichte um die Familie und ihre Flucht nach Amerika - hochinteressant und aufschlussreich. Wer weiß beispielsweise schon, dass Joels Großvater einer der größten Versandhausbesitzer Deutschlands war, bevor er schändlichst um sein Geschäft betrogen wurde?


    Es ist jedenfalls nich nur für Joel-Fans eine absolut empfehlenswerte Lektüre!

  • Ich habe eine überarbeitete und leicht erweiterte Ausgabe gelesen, die unter dem Titel "Billy & The Joels" erschienen ist - ich hoffe, das ist hier im Thread richtig.


    Billy Joel gehört zu den Musikern, von denen ich vielleicht nicht der weltgrößte Fan bin, deren Lieder ich aber sehr mag und die mich auch schon fast mein ganzes Leben lang begleiten. Über seinen persönlichen Hintergrund wusste ich abgesehen von seiner Ehe mit Christie Brinkley und gelegentlichen Schlagzeilen über Alkoholprobleme bisher sehr wenig.


    In diesem Buch beleuchtet der deutsche Journalist Steffen Radlmaier, der Billy Joel auch persönlich kennt, nicht nur den Werdegang des Sängers, sondern auch die Geschichte seiner Familie. Joel selbst sagte einmal, er verdanke sein Leben den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts, weil die Eltern seiner Mutter während des 1. Weltkrieges aus England ausgewandert sind und seine deutsch-jüdischen Vorfahren väterlicherseits in den 30er Jahren Nazideutschland verließen.


    Aber der Reihe nach: Joels Großvater Karl betrieb in Nürnberg einen erfolgreichen Textilversand, der in einer Reihe stand mit heute noch bekannten Namen wie Quelle oder Witt Weiden, Karls Bruder Leon hatte in Ansbach ein ebenfalls gutgehendes Geschäft. Die Religion spielte für die Joels keine herausragende Rolle, im Gegenteil, man feierte sogar Weihnachten mit Christbaum und Festtagsbraten.


    Nach der Machtergreifung Hitlers und den wachsenden Anfeindungen und Schikanen gegenüber jüdischen Geschäftsleuten zog Karl Joel mit seinem Betrieb ins als liberaler geltende Berlin um, wobei ihm bemerkenswerterweise ein Großteil der Belegschaft folgte, doch am Ende war auch das vergebens, es musste ein "arischer" Geschäftsführer eingestellt werden und schließlich verkaufte Joel zwangsweise und mit großem Verlust an den Kriegsgewinnler Josef Neckermann (ja, genau der ...) und entschloss sich, mit seiner Frau und seinem Sohn Helmut das Land zu verlassen, solange das noch möglich war.


    Nach einer längeren Odyssee gelangten die Joels schließlich in die USA und lebten in bescheidenen Verhältnissen. Helmut, der sich inzwischen Howard nannte, trat sogar in die US Army ein und kämpfte in Europa. Nach seiner Rückkehr heiratete er und bekam mit seiner Frau Rosalind einen Sohn namens Billy, doch die Ehe war nicht glücklich, Helmut verließ die Familie und kehrte nie zurück, was Billy nachhaltig geprägt hat.


    Während Rosalind sich abmühte, Billy und seine Adoptivschwester alleine großzuziehen, ging Helmut nach Europa zurück, heiratete später erneut und hatte mit seiner zweiten Frau einen weiteren Sohn, Alexander.


    Billy schlängelte sich mehr schlecht als recht durch die Schule und entdeckte, auch geprägt durch seinen musikalischen Vater, früh die Liebe zur Musik, die ihn schließlich nach einigen Startschwierigkeiten zum Weltstar machte, der nie so recht in eine Schublade passen wollte. Und auch Alexander Joel machte die Leidenschaft für Musik zum Beruf - als erfolgreicher klassischer Dirigent.


    Der biographische Teil über die Laufbahnen der beiden Brüder, die sich in ganz unterschiedliche Richtungen entwickelten, aber beide der Joelschen Passion für die Musik entspringen, liest sich interessant, insbesondere, wenn man sich noch nie weiter mit dem Werdegang der beiden beschäftigt hat, und macht direkt Lust, mal wieder ein Billy-Joel-Album aufzulegen und auf den einen oder anderen Song speziell zu achten.


    Das Spannendste an diesem Buch war für mich jedoch die fesselnde Geschichte der Vorfahren der beiden, die geschäftlichen Erfolge, der dadurch erworbene Wohlstand und dann der tiefe Sturz ohne jegliches eigenes Verschulden, als die Welle des institutionalisierten Antisemitismus über Karl, Leon und ihre Familien hinwegrollt und ihnen alles raubt, was sie sich über Jahrzehnte aufgebaut haben - und manchen sogar das Leben nimmt.


    Die perfiden Methoden, mit denen jüdischen Menschen systematisch ein Stein nach dem anderen in den Weg gelegt wurde, machen immer wieder fassungslos, traurig und wütend, gerade der erste Teil des Buches kann auch als Fingerzeig dienen, stets wachsam zu bleiben gegenüber Ausgrenzung und Diskriminierung.


    Billy Joel selbst erfuhr erst spät von der Geschichte seiner Familie, da nach der Trennung seiner Eltern jahrzehntelang Funkstille zwischen ihm und seinem Vater herrschte, doch er ist danach mehrmals in Nürnberg aufgetreten, ganz bewusst, zur Erinnerung an die Vergangenheit und Mahnung für die Zukunft.


    Ein sehr lesenswertes Buch, teils Zeitgeschichte, teils Künstlerbiographie, das mich ziemlich beeindruckt hat und auch den Künstler Billy Joel in einem neuen Licht erscheinen lässt.