Es war ein zweiter Blick notwendig, um mir selbst zu erklären, warum ich mich im Vorbeigehen zu diesem Buch hingezogen gefühlt hatte und stehen geblieben war. Künstlerbiographien populärer Gegenwartskünstler rufen bei mir eigentlich eher Skepsis hervor und veranlassen mich zu einer Wegdavonbewegung, besonders wenn sie trotz deutschen Titels als Story daherkommen.
Der zweite Blick erklärte mir: es waren die die drei in grau gehaltenen kleinen Bildchen am oberen Rand des Umschlages, ein Miniabriss der jüngeren europäischen Geschichte, die zumindest stilistisch in einem offensichtlichen Gegensatz zum farbigen Porträt des sonnenbebrillten, bärtigen Künstlers standen, die meinen Schritt angehalten hatten. Und natürlich der Untertitel: kaum kleiner geschrieben als „Die Joel Story“ stand zu lesen „Billy Joel und seine deutsch – jüdische Familiengeschichte“.
Letztlich blieb mir eigentlich gar nichts anderes übrig, als dieses Buch um ein paar Euro aus dem straßenseitig platzierten, nicht wirklich vor dem tagesaktuellen Schneegestöber geschützten Abverkaufskorb eines Filialisten, für den Bücher offenbar genau so Ware sind wie wertloses Plastikspielzeug, zu retten.
Für diesen, freilich wenig selbstlosen, Akt der Bücherbefreiung wurde ich mit der ausgesprochen interessanten Geschichte des erfolgreichen Wäscheversandhändlers Karl Amson Joels, seiner Frau Meta und der ihnen nachfolgenden Generationen belohnt. Die Familie kann sich am unternehmerischen Erfolg nur relativ kurz erfreuen und zum eigenen Wohl ebenso, wie zu dem der MitarbeiterInnen, bei denen Karl Amson Joel sehr beliebt war, tätig sein.
Mit der Machtübernahme der Nazis und zunehmenden Repressalien, wird die immer weiter in die Ferne führende Flucht mit der Endstation Amerika notwendig. Das einträgliche Unternehmen der Joels übernimmt ein Mann zum Schnäppchenpreis, dessen Name „Neckermann macht’s möglich“ auch heute noch bestens bekannt ist: der spätere Versandhauskönig Josef Neckermann. Ein in den Nachkriegsjahrzehnten geführter Rechtsstreit verhilft Karl Joel lediglich zu einem kleinen Teil des ihm zustehenden Kaufpreises für seine Firma.
1949 wird Karl und Metas Sohn Helmut in Amerika Vater von William Martin, genannt Billy. Da die Ehe scheitert und Helmut Joel alleine nach Europa zurückgeht, wächst Billy Joel weitgehend vaterlos auf. Mit seinem Werdegang beschäftigt sich der zweite Teil des Buches.
Eine Lebensgeschichte, die unter anderem erzählt, was aus einem leidenschaftlichen Schulversager werden kann, wenn er sich selbst und dem was er mag, treu bleibt: Weltstar mit dem Nebenjob „erfolgreicher Anbieter von Gesprächskonzerten“ an diversen amerikanischen Universitäten.
Geografisch begleitet man Billy Joel aus ärmlichen Wohngegenden in die besten Lagen New Yorks, und von dort auf Reisen nach Europa, speziell nach Wien, wo sein Vater und zeitweise auch sein Bruder, der gefragte Dirigent klassischer Musik, Alexander Joel, leben. Billy Joels musikalischer Werdegang und auch manche Enttäuschung, die ihn das Musikgeschäft durchleben lässt, sind Thema. Persönliche Grenzgänge werden zwar angesprochen, aber die Erzählweise ist so gewählt, dass die Schwelle vom Vorzimmer in privatere Räume nicht überschritten wird.
„Niemand ist immer glücklich – Verrückte ausgenommen.“ Mit diesem Satz wir Billy Joel am Ende des Buches zitiert. Mit Gedankenspielen über das Glück schlage ich die letzte Seite um. Darf man es als Glück bezeichnen, wenn aus einer Familie, im Gegensatz zu vielen anderen, ein relativ großer Teil der Familienmitglieder eine Irrsinnsepoche der Weltgeschichte überlebt hat? Jedenfalls empfinde ich es als Glück, wenn ein Künstler in der Lage ist, durch seine Werke vielen Menschen besondere Momente zu bescheren, so wie Billy Joel das kann.