Neil Jordan - Schatten

  • Nina Hardy wird im Garten ihres Anwesens umgebracht. Nun liegt ihr Leichnam auf dem Grund der Sickergrube, doch ihr Geist wandelt unruhig durch die Jahrzehnte und schildert in einem leisen, poetischen Ton eine bewegte Lebensgeschichte. Nein, im Grunde sind es vier Lebensläufe, verflochten zu einer einzigen schmerzvollen Epoche.
    „Ich weiß genau, wann ich gestorben bin. Es war um zwanzig nach drei am vierzehnten Januar des Jahres 1950.“
    Sie reist durch die Zeit, spaziert unsichtbar zwischen den Darsteller ihrer Kindertage umher, so als hätte sie den Ring des Gyges übergestreift. Sie lässt sich treiben von den Erinnerungen, gräbt im Vergessenen herum und versucht sich auf diese Weise zurück ins Leben zu erzählen.


    „Jetzt, wo die Zeit stehen geblieben ist, erinnere ich mich an das Buch, nein, ich lese in dem Buch, dessen Ende ich nicht geschrieben habe, das für mich von jemandem geschrieben wurde, der selbst kaum lesen konnte. Ich gebe ihm Kapitelüberschriften, blättere die imaginären Seiten um, lebe in der Geschichte, erfreue mich daran, weine darüber, sterbe darin. Aber kann ich auch den Schluss ändern? Nicht im Geringsten. Mit dem Ende hat alles begonnen, und der Anfang hat alles beendet.“


    Nina wächst um die Jahrhundertwende in einer reichen Familie auf, am Ufer des irischen mythenumwölkten Flusses namens Boyne. Erst die Freundschaft zu den Nachbarskindern Janie und George kann Ninas Einsamkeit vertreiben. Mit kindlicher Unschuld bewegen sie sich gemeinsam ins Erwachsenenalter hinein und als Ninas Halbbruder Gregory unerwartet aus dem Nichts auftaucht, lernt sie das Gefühl von unerfüllter, denn verbotener Liebe kennen.
    Als es so aussieht, als könnten sie in vereinter Vierergruppe Zukunftspläne schmieden, werden sie durch den Einzug des Ersten Weltkriegs auseinander gerissen. George und Gregory melden sich als Freiwillige und tauschen das idyllische Irland gegen die blutigen Dardanellen aus, während Nina nach einem Zwischenfall von ihrer Mutter verstoßen wird und in eine Theatergruppe nach Dublin flüchtet, wo auf sie eine ruhmreiche Karriere als Stummfilmstar wartet.


    Im zarten Takt wird die unbarmherzige Gegenwart mit den Schatten der Vergangenheit, die lebhaften Erinnerungen des Lebens mit den vollendeten Fakten des Todes zum Tanzen gebracht. Neil Jordan schafft sanfte, homogene Übergänge von der Darstellung des Einst ins Jetzt, wechselt dabei diskret die Sicht der ersten in die dritte Person. Er kreiert ausdrucksstarke, gewaltige Bilder, erzeugt ein dichtes Psychogramm vierer Figuren und entpuppt sich dabei als Meister der großen Gefühle. Er sinniert stark metaphorisch von Liebe, Verlust, Schmerz und unendlicher Traurigkeit. Und wenn er Gregory das Wort gewährt und er seine Schnappschüsse des Krieges im Roman einklebt, beschleunigt die Story ihren Rhythmus und die intensive Dramatik wird ins Unermessliche gesteigert.


    Der Mord zu Beginn des Romans wird im Fortverlauf der Geschichte immer weiter in den Hintergrund geschoben bis er gänzlich hinter der Lebensgeschichte der Gemeinschaft verschwindet und erst wieder auftaucht, als die Gegenwart von der Vergangenheit eingeholt wird. Das Motiv ist hierbei entscheidend,


    Gruß,
    dumbler

  • Hallo Bonprix,


    das ist natürlich sehr rücksichtsvoll! Der Inhalt des verdeckten Ausschnitts befindet sich jedoch bereits auf der allerersten Seite des Romans. Beim Anlesen im Laden würde wohl genauso viel aufgedeckt werden. :wink:


    Gruß,
    dumbler

  • Ja @dumbler, dass mag schon sein, nur hier im BücherTreff haben wir es uns zur Regel gemacht für wichtige, bzw. entscheidende Fakten die "Spoilerfunktion" zu benutzen. Denn dafür ist sie ja schliesslich da... :idea:


    Gruss Bonprix :wink:

  • Ein großartiges Buch; ich habe es vor wenigen Wochen gelesen.
    Man braucht Zeit, Geduld und Konzentration, vor allem wegen des oftmaligen Wechsels der Erzählperspektive. Schon der Anfang ist ungewöhnlich, weil die tote Nina in der Ich-Form erzählt.
    Auch wenn es in erster Linie um die vier Personen geht, die im Mittelpunkt des Buches stehen, um ihre Freundschaften, Liebeleien und inzestuösen Beziehungen und darum, wie sie ihr Leben mit und ohne einander meistern, so bleibt doch die spannende Frage, warum Nina getötet wurde und warum gerade von diesem Menschen. Und worin persönliche und gemeinsame Schuld liegt.


    Der Ire Neil Jordan ist eher als Drehbuchautor und Regisseur bekannt; u.a. stammt "Interview mit einem Vampir" von ihm.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • So unterschiedlich sind die Meinungen. Ich habe dieses Buch angefangen zu lesen und fand das Konzept nett, wenn auch nicht originell, denn dass die Leiche über ihren Weg zum Tod und einen Teil der Ermittlungen berichtet ist nicht unbedingt neu.


    Komplexe wechselnde erzählstränge bin ich gewohnt, aber ich fand den Schreibstil einfach tödlich langweilig und die ganze Geschichte so uninteressant, dass ich etwas getan habe, was ich sonst sehr selten tue. Ab Seite 170 habe ich das Buch beiseite gelegt und mir ein anderes vorgenommen, weil ich mich tödlich langweilte. Aber: De gustibus... .